Katharina II. von Rußland
Erinnerungen der Kaiserin Katharina II.
Katharina II. von Rußland

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Siebtes Kapitel.

Aufenthalt in Moskau. – Man verabschiedet wieder eine Person meiner Umgebung. – Krankheit der Kaiserin Elisabeth. – Der Beichtvater verweigert Tschoglokoff das Abendmahl. – Lektüre. – Die Nähe der Gemächer des Großfürsten wird unerträglich. – Er dressiert und quält seine Hunde. – Mein Kammerdiener bringt mir heimlich einen Brief von Czernitscheff. – Reise nach Perowa. – Aufenthalt in Rajowa. – Graf Razumowski macht mir den Hof. – Der Ball im Kloster Troitza. – Wutausbrüche der Kaiserin. – Diner in Tatninskoje, wobei sich der Großfürst unsinnig betrinkt. – Iwan Schuwaloff wird zum Kammerherrn ernannt. – Ich werde krank, muß aber trotzdem der Hochzeit Alexander Narischkins beiwohnen.

Mitte Dezember reisten wir nach Moskau. Der Großfürst und ich fuhren in einem großen Schlitten, dessen vorderen Teil die Kavaliere einnahmen. Im Laufe des Tages setzte sich indes der Großfürst in einen Stadtschlitten zu Herrn Tschoglokoff, während ich in dem großen Schlitten, den wir nie schlossen, blieb und mich mit den vor mir sitzenden Herren unterhielt. Dabei erinnere ich mich, daß der Kammerherr Fürst Alexander Juriowitsch Trubetzkoi mir während dieser Fahrt erzählte, Graf Lestocq habe sich in den ersten elf Tagen seiner Haft auf der Festung durch Hunger töten wollen, doch man habe ihn gezwungen, Nahrung zu sich zu nehmen. Er war angeklagt, vom König von Preußen 1000 Rubel für die Betreibung der preußischen Interessen empfangen und einen gewissen Oettinger, der gegen ihn hätte aussagen können, vergiftet zu haben. Er wurde gefoltert und nach Sibirien verbannt.

Während dieser Reise eilte die Kaiserin uns nach Twer voraus, und da die für uns bestimmten Pferde und Lebensmittel für ihr Gefolge genommen wurden, blieben wir vierundzwanzig Stunden ohne Nahrung und ohne Pferde in Twer. Uns hungerte sehr. Gegen Abend endlich brachte uns Tschoglokoff einen gebackenen Stör, der uns ein Leckerbissen schien. Dann fuhren wir in der Nacht weiter und kamen zwei oder drei Tage vor Weihnachten in Moskau an. Die erste Neuigkeit, welche wir dort erfuhren, war, daß unser Kammerherr Fürst Alexander Michael Galitzin im Augenblick unserer Abreise von Petersburg Befehl erhalten hatte, sich als russischer Gesandter mit 4000 Rubel Gehalt nach Hamburg zu begeben. In ihm erblickte man wieder einen Exilierten mehr, und seine Schwägerin, die Fürstin Gagarin, weinte viel über sein Mißgeschick; überhaupt wurde er von uns allen bedauert.

In Moskau bewohnten wir dieselben Gemächer, welche ich 1744 mit meiner Mutter eingenommen hatte. Um in die große Hofkirche zu gehen, mußte man das ganze Haus im Wagen umfahren. Am Weihnachtstage gingen wir zur Zeit der Messe hinab, den Wagen zu besteigen, und waren schon bei einer Kälte von 29 Grad auf dem Perron vor der Treppe, als uns die Kaiserin melden ließ, sie dispensiere uns wegen der großen Kälte vom Besuche der heutigen Messe. Die Kälte war aber auch in der Tat schrecklich. Während der ersten Zeit unseres Aufenthaltes in Moskau mußte ich das Zimmer hüten wegen eines frieselartigen Ausschlags, der auf meinem Gesicht zum Vorschein gekommen war. Ich ängstigte mich halbtod, die Flecke zeitlebens zu behalten, und ließ den Doktor Boerhave rufen, der mir beruhigende und zur Vertreibung der Flecke geeignete Mittel verordnete. Als aber schließlich alles nichts half, sagte er eines Tages: »Jetzt werde ich Ihnen etwas geben, was sicher wirkt.« Dabei zog er ein kleines Fläschchen mit Falkschem Oel aus der Tasche und empfahl mir, einige Tropfen davon in eine Tasse zu tun und hiermit von Zeit zu Zeit mein Gesicht einzureiben, etwa alle acht Stunden. Wirklich reinigte das Oel mein Gesicht vollkommen, und nach etwa zehn Tagen konnte ich wieder öffentlich erscheinen.

Kurz nach unserer Ankunft in Moskau meldete mir Madame Wladislawa, die Kaiserin habe befohlen, mein finnisches Garderobemädchen so schnell als möglich zu verheiraten. Der einzige Grund, weshalb man wahrscheinlich diese Heirat beschleunigte, konnte offenbar nur darin liegen, daß ich für das Mädchen, das sehr lustig war und mich bald auf diese, bald auf jene Art erheiterte, indem sie alle, besonders aber Madame Tschoglokoff, sehr komisch nachahmte, eine entschiedene Vorliebe besaß. Man verheiratete sie also und sprach nicht weiter von ihr.

Inmitten des Karnevals, während dessen es durchaus keine Belustigungen gab, wurde die Kaiserin von einer heftigen Kolik befallen, welche bald einen ernsten Charakter anzunehmen schien. Madame Wladislawa und Timotheus Nevreinoff flüsterten es mir ins Ohr, baten mich aber gleichzeitig inständig, niemand zu sagen, daß sie es mir erzählt hätten. Ohne sie daher zu nennen, benachrichtigte ich den Großfürsten davon, der dadurch in eine gehobene Stimmung versetzt wurde. Eines Morgens teilte mir Nevreinoff mit, der Kanzler Bestuscheff und General Apraxin hätten die Nacht im Zimmer der Tschoglokoffs zugebracht, woraus man schloß, daß die Kaiserin sehr krank sein müsse. Tschoglokoff und seine Frau waren mürrischer als je, kamen zu uns, dinierten und soupierten mit uns, ließen indes nie ein Wort über diese Krankheit fallen. Wir sprachen nicht mehr darüber, wagten aber ebenso wenig, fragen zu lassen, wie Ihre Majestät sich befände, weil man uns sofort gefragt haben würde: »Wie, woher, von wem wißt ihr, daß sie krank ist?« Und die, welche genannt, ja nur beargwöhnt worden wären, würden sicherlich verabschiedet oder verbannt, ja selbst vor die geheime Kanzlei, die Staatsinquisition, geschickt worden sein, die man mehr als das Feuer fürchtete. Als sich Ihre Majestät endlich nach zehn Tagen etwas besser fühlte, wurde am Hofe die Hochzeit einer ihrer Ehrendamen gefeiert. Bei Tafel saß ich neben der Favoritin der Kaiserin, der Gräfin Schuwaloff. Sie erzählte mir, Ihre Majestät sei von der schrecklichen Krankheit noch so schwach, daß sie die Verlobte nur im Bette sitzend mit ihren Diamanten hätte schmücken können – eine Ehre, welche Elisabeth allen ihren Ehrendamen erwies. Deshalb, fuhr die Gräfin fort, sei sie auch nicht bei der Hochzeitsfeier erschienen. Da Madame Schuwaloff die erste war, die mit mir von dieser Krankheit sprach, bezeigte ich ihr den Schmerz, welchen der Zustand der Kaiserin mir verursacht, und den Anteil, den ich daran genommen habe. Sie erwiderte, Ihre Majestät werde mit Genugtuung hören, wie ich in dieser Beziehung dachte. Zwei Tage später kam Madame Tschoglokoff des Morgens in mein Zimmer und sagte mir in Gegenwart von Madame Wladislawa, die Kaiserin sei sehr aufgebracht gegen den Großfürsten und mich wegen des geringen Interesses, das wir an ihrer Krankheit genommen. Wir wären sogar so weit gegangen, daß wir nicht ein einzigesmal hätten fragen lassen, wie sie sich befinde. Ich erwiderte Madame Tschoglokoff, in dieser Hinsicht könne ich mich nur an sie selbst halten, denn weder sie noch ihr Gemahl hätten uns auch nur ein Wort von dieser Krankheit gesagt. Da wir nichts davon gewußt, hätten wir auch den Anteil, den wir daran nehmen, nicht bezeigen können. Sie antwortete entrüstet: »Wie können Sie sagen, daß Sie nichts davon gewußt haben? Gräfin Schuwaloff hat Ihrer Majestät gesagt, daß sie bei der Tafel mit ihr von der Krankheit gesprochen haben.« »Das ist allerdings wahr,« erwiderte ich, »aber nur, weil sie mir sagte, Ihre Majestät sei noch zu schwach, um auszugehen, und bei dieser Gelegenheit habe ich sie nach den Einzelheiten der Krankheit gefragt.« Darauf entfernte sich Madame Tschoglokoff verdrießlich, und Madame Wladislawa meinte, es sei sehr merkwürdig, Streit mit einem Menschen anzufangen über eine Sache, von der er nichts wüßte. Da übrigens die Tschoglokoffs allein das Recht hätten, davon zu sprechen, so sei es doch ihre Schuld, daß sie kein Wort darüber erwähnt, und nicht die unsrige, wenn wir aus Unwissenheit gefehlt hätten. Kurze Zeit nachher fand ich Gelegenheit, der Kaiserin während einer Vorstellung bei Hofe zu sagen, daß weder Tschoglokoff noch seine Frau uns von ihrer Krankheit benachrichtigt hätten und wir aus diesem Grunde nicht imstande gewesen wären, ihr unsere Teilnahme zu beweisen. Sie nahm meine Worte sehr freundschaftlich auf, und fast schien es mir, als wenn der Einfluß jener Menschen im Abnehmen begriffen sei.

In der ersten Woche der Fasten wollte Tschoglokoff zum Abendmahle gehen. Er beichtete, aber der Beichtvater der Kaiserin verbot ihm, das Abendmahl zu nehmen. Der ganze Hof behauptete, dies geschehe nur auf Befehl Ihrer kaiserlichen Majestät, wegen seines Abenteuers mit Fräulein Kocheleff. Uebrigens schien Tschoglokoff während des größten Teiles unseres Aufenthaltes in Moskau sehr intim mit dem Kanzler Grafen Bestuscheff und dem General Stephan Apraxin zu sein, der jenem mit Leib und Seele ergeben war. Er befand sich fortwährend in ihrer Gesellschaft, und wenn man ihn reden hörte, hätte man meinen können, er sei Graf Bestuscheffs geheimer Rat. In Wahrheit aber konnte er dies nicht sein, weil Bestuscheff zu viel Geist besaß, als daß er sich von einem so anmaßenden Narren wie Tschoglokoff hätte raten lassen. Etwa um die Mitte unseres Aufenthaltes in Moskau indes hörte diese große Vertraulichkeit aus irgend welchem mir unbekannten Grunde plötzlich auf, und Tschoglokoff wurde der geschworene Feind derer, mit denen er kurz zuvor in intimstem Verkehr gestanden hatte.

Kurz nach meiner Ankunft in Moskau fing ich aus Langeweile an, die Geschichte Deutschlands vom Pater Barre, Kanonikus von St. Geneviève, in neun Quartbänden zu lesen. Alle acht Tage beendigte ich einen Band, worauf ich Platos Werke begann. Meine Zimmer waren nach der Straße zu gelegen, während das Hintergebäude, dessen Fenster auf einen kleinen Hof führten, vom Großfürsten bewohnt wurde. Wenn ich in meinem Zimmer las, kam gewöhnlich ein Kammermädchen herein und stand so lange es ihr gefiel im Zimmer, dann nahm eine andere ihren Platz ein, wenn sie es für passend fand. Da dies mir aber nur unbequem war, und ich überdies durch die Nähe der Gemächer des Großfürsten und von dem, was dort vorging, viel zu leiden hatte, ließ ich Madame Wladislawa meine Unzufriedenheit merken. Sie selbst litt in der Tat ebensoviel darunter als ich, denn sie bewohnte am Ende meiner Gemächer ein kleines Kabinett. Sie verstand sich denn auch bereitwilligst dazu, die Kammermädchen von jener Art von Etikette zu entbinden. Was wir aber sonst im Laufe des Tages zu erdulden hatten, war schrecklich. Der Großfürst dressierte mit seltener Beharrlichkeit unter lautem Peitschenknallen eine Meute Hunde, die er, indem er nach Jägerart schrie, in seinen beiden Zimmern – denn er hatte nicht mehr – hin- und herhetzte. Wenn dann einige der Tiere müde wurden, oder aus der Reihe liefen, wurden sie aufs strengste gezüchtigt, worauf sie natürlich noch lauter lärmten. War er schließlich dieser für die Ohren wie für die Ruhe seiner Nachbarn unerträglichen Unterhaltung satt, so nahm er seine Geige zur Hand und kratzte, während er im Zimmer auf- und abging, mißtönig und mit wilder Heftigkeit darauf herum. Dann begann er von neuem die Hunde zu dressieren und zu martern, was mir wahrhaft grausam erschien. Eines Tages, als ich solch ein armes Tier laut und anhaltend winseln hörte, öffnete ich die Tür meines Schlafzimmers, wo ich mich eben befand, und welches an das Zimmer stieß, wo die Sache vor sich ging. Ich sah, wie er einen Hund am Halsbande in der Luft hielt, indes einer seiner Burschen, ein Kalmücke, das arme Tier – es war ein kleiner englischer Charlot – beim Schwanze gefaßt hatte, während der Großfürst mit einem dicken Peitschenstocke so derb er konnte darauf losschlug. Ich suchte für das gequälte Tier Fürbitte einzulegen, erreichte aber nichts als eine Verdoppelung der Schläge. Da ich diesen widerwärtigen Anblick nicht ertragen konnte, kehrte ich mit Tränen in den Augen in mein Zimmer zurück. Tränen und Bitten aber versetzten den Großfürsten erst recht in Zorn, statt ihn zum Mitleid zu bewegen. Mitleid war für seinen Geist überhaupt ein peinliches, ja unerträgliches Gefühl.

Ungefähr um dieselbe Zeit überbrachte mir mein Kammerdiener Timotheus Nevreinoff einen Brief von seinem alten Kameraden Andreas Czernitscheff, dem man endlich seine Freiheit wiedergegeben hatte. Als er sich zu seinem Regiment, in welches er als Leutnant versetzt war, begab, führte ihn sein Weg in die Nähe von Moskau, wo er die Gelegenheit benutzte, mir einige Worte zu schicken. Ich machte es mit diesem Briefe genau so wie mit dem vorhergehenden, sandte ihm alles, worum er mich bat, und erwähnte kein Wort davon, weder gegen den Großfürsten, noch gegen irgend jemand.

Im Frühling ließ uns die Kaiserin nach Perowa kommen, wo wir mit ihr einige Tage beim Grafen Razumowski zubrachten. Fast täglich gingen der Großfürst und Tschoglokoff mit dem Hausherrn auf die Jagd, während ich in meinem Zimmer saß und etwas las, oder Madame Tschoglokoff kam, wenn sie nicht spielte, aus Langeweile zu mir, um mir Gesellschaft zu leisten. Sie beklagte sich bitter über Razumowski und die fortwährenden Jagden ihres Gemahls, der ein leidenschaftlicher Nimrod geworden war, seitdem er in Moskau einen sehr schönen englischen Jagdhund zum Geschenk erhalten hatte. Von anderer Seite indes erfuhr ich, daß ihr Mann allen Jägern zum Gelächter diene, weil er sich einbildete und man ihm glauben machte, seine Circe – so hieß sein Hund – fange alle Hasen, die man auftrieb. Ueberhaupt war Tschoglokoff sehr zu dem Glauben geneigt, daß alles, was ihm gehörte, von seltener Schönheit und Vortrefflichkeit sei. Seine Frau, seine Kinder, seine Diener, sein Haus, seine Tafel, seine Pferde, seine Hunde, kurz alles – obgleich es sehr mittelmäßig war – nahm an seiner Selbstliebe teil und besaß, da es ihm gehörte, in seinen Augen unvergleichlichen Wert.

In Perowa bekam ich eines Tages so heftiges Kopfweh, wie ich mich nicht erinnere, je in meinem Leben gehabt zu haben. Der übermäßige Schmerz brachte ein heftiges Uebelbefinden mit Erbrechen hervor, und jeder Schritt, den ich tat, vermehrte meine Leiden. Fast vierundzwanzig Stunden währte dieser entsetzliche Zustand, endlich schlief ich ein. Am folgenden Tag empfand ich nur noch eine große Mattigkeit. Während dieses Anfalls sorgte Madame Tschoglokoff aufs beste für mich. Auch alle diejenigen, die mich mit unverkennbarer Böswilligkeit umgaben, faßten in kurzer Zeit unwillkürlich ein wohlwollendes Interesse für mich und handelten, wenn sie nicht gescholten oder von neuem aufgestachelt wurden, gegen die Absichten derer, die sie angestellt. Oft ließen sie sich sogar von der Neigung, die sie zu mir hinzog, oder besser, von dem Interesse, das ich ihnen einflößte, fortreißen. Sie fanden mich nie zänkisch oder mürrisch, sondern immer bereit, das geringste Entgegenkommen von ihrer Seite zu erwidern. Hierbei kam mir besonders mein heiteres Temperament zu statten, denn alle diese Argusse amüsierten sich oft über meine drolligen Bemerkungen, und wider ihren Willen verschwand allmählich der Ernst von ihrer Stirn.

In Perowa hatte Ihre Majestät einen neuen Kolikanfall. Sie ließ sich sofort nach Moskau bringen, und wir fuhren im Schritt zu dem nur vier Werst entfernten Schloß. Jener Anfall hatte übrigens keine weiteren Folgen, so daß Ihre Majestät kurz darauf eine Wallfahrt nach dem Kloster Troitza unternehmen konnte. Da sie die sechzig Werst zu Fuß zurücklegen wollte, begab sie sich in das Haus von Pokrowskoje. Auch uns hieß man den Weg nach Troitza einschlagen, jedoch blieben wir in Rajowa, einem sehr kleinen, elf Werst von Moskau gelegenen Landhause Madame Tschoglokoffs. Die Räumlichkeiten desselben bestanden in einem kleinen Saal in der Mitte und zwei sehr kleinen Zimmern auf beiden Seiten. Unser ganzes Gefolge wurde in Zelten untergebracht, welche man rings um das Haus herum aufschlug. Davon benutzte auch der Großfürst eins, während ich eins der kleinen Zimmer bewohnte. Madame Wladislawa hatte das zweite inne, und die Tschoglokoffs hielten sich in den andern auf. Das Diner wurde gemeinsam im Saale eingenommen. Die Kaiserin machte drei bis vier Werst zu Fuß und ruhte dann einige Tage aus, so daß diese Reise fast den ganzen Sommer in Anspruch nahm, während welcher Zeit wir jeden Nachmittag auf die Jagd gingen.

Als Ihre Majestät bis Taininskoje – das auf der Seite der großen Straße von Troitza Rajowa fast gegenüber liegt – gekommen war, fiel es dem Hermann Grafen Razumowski, dem jüngeren Bruder des Günstlings, plötzlich ein, uns von seinem Landhause Pokrowskoje aus, welches an der Straße nach Petersburg an der andern Seite von Moskau lag, täglich in Rajowa zu besuchen. Er war sehr heiteren Temperaments und ungefähr im gleichen Alter wie wir. Wir mochten ihn sehr gern und auch die Tschoglokoffs empfingen ihn, als Bruder des Günstlings der Kaiserin, bereitwilligst in ihrem Hause. Seine Besuche dauerten den ganzen Sommer hindurch, und stets sahen wir seiner Ankunft mit vielem Vergnügen entgegen. Er dinierte und soupierte gewöhnlich mit uns, und kehrte dann nach dem Abendessen auf sein Gut zurück, machte also täglich vierzig bis fünfzig Werst. Ungefähr zwanzig Jahre später kam es mir einmal in den Sinn, ihn zu fragen, was ihn eigentlich zu jener Zeit veranlaßt habe, die Langeweile und Oede unseres Aufenthaltes in Rajowa mit uns zu teilen, während doch sein eigenes Haus täglich von der besten Gesellschaft Moskaus strotzte. Ohne sich lange zu bedenken, erwiderte er: »Die Liebe.« – »Aber ums Himmels willen,« fragte ich, »in welche Person unseres Kreises konnten Sie denn damals verliebt sein?« – »In wen!« rief er, »in Sie!« Bei diesem Geständnis brach ich in ein lautes Gelächter aus, denn nie würde mir etwas Derartiges in den Sinn gekommen sein. Dazu war er schon damals seit mehreren Jahren mit einer reichen Erbin des Hauses Narischkin verheiratet, welche die Kaiserin ihm allerdings etwas gegen seinen Willen zur Frau gegeben, mit der er indes glücklich zu leben schien; auch war es bekannt, daß die schönsten Frauen des Hofes und der ganzen Stadt sich um ihn rissen. Er war aber auch in der Tat ein schöner Mensch mit originellem Geist und äußerst liebenswürdigem Benehmen. An Verstand übertraf er bei weitem seinen Bruder, der ihm anderseits an Schönheit gleichkam, ihn an Edelmut und Wohlwollen aber übertraf. Diese beiden Brüder stammten aus der beliebtesten Günstlingsfamilie, welche mir je vorgekommen ist.

Um Sankt Peter ließ uns die Kaiserin zu sich nach Bratowchina kommen. Da ich den ganzen Frühling und einen Teil des Sommers auf der Jagd oder doch wenigstens in freier Luft gewesen war – denn das Haus in Rajowa war so klein, daß wir den größten Teil des Tages im nahegelegenen Walde zubrachten – kam ich in Bratowchina sehr rot und sonnenverbrannt an. Als die Kaiserin mich sah, schalt sie über meine Röte und sagte, sie werde mir zur Entfernung des Sonnenbrandes ein Wasser schicken. Wirklich sandte sie mir sofort eine Flasche mit einer Mischung von Zitronensaft, Eiweiß und Franzbranntwein und befahl meinen Kammerfrauen, mich täglich damit einzureiben. Nach einigen Tagen verschwand die Röte von meinem Gesicht, und seitdem habe ich dies Mittel öfter gebraucht und es andern für ähnliche Fälle mitgeteilt.

Wir verbrachten den Peterstag im Kloster Troitza. Da es am Nachmittag dieses Tages nichts gab, was den Großfürsten zerstreuen konnte, kam er auf den Einfall, in seinen Zimmern einen Ball zu veranstalten, an welchem jedoch nur er, zwei seiner Kammerdiener und zwei Frauen meiner Begleitung, von denen die eine eine hohe Fünfzigerin war, teilnahmen.

Von Troitza begab sich Ihre Majestät nach Taininskoje, wir indes kehrten nach Rajowa zurück und setzten dort unser früheres Leben fort. Hier blieben wir bis Mitte August, um welche Zeit die Kaiserin eine Reise nach Sophino, einem sechzig bis siebzig Werst von Moskau gelegenen Orte, unternahm. Wir übernachteten in Sophino und begaben uns am nächsten Tag in das Zelt der Kaiserin, wo wir sie damit beschäftigt fanden, den Verwalter des Gutes auszuschelten. Sie war nämlich gekommen, um auf die Jagd zu gehen, und hatte keine Hasen vorgefunden. Der arme Mensch war ganz bleich und zitterte vor Angst, während sie ihn mit Schmähreden aller Art überhäufte; sie schien in der Tat außer sich vor Wut zu sein. Als sie uns zum Handkuß kommen sah, umarmte sie uns wie gewöhnlich und setzte dann ihr Schelten fort. In ihrem Zorn schleuderte sie ihre Pfeile nach allen Seiten. Sie sprang von einem aufs andere, und ihre Zungenfertigkeit war großartig. Unter anderm bemerkte sie auch, sie verstehe sich vollkommen auf die Verwaltung von Gütern, die Regierung der Kaiserin Anna habe sie genügend darüber belehrt. Als sie wenig gehabt, fuhr sie fort, habe sie sich gehütet, viel auszugeben, denn sie hätte sich gefürchtet, sich durch Schulden ins Verderben zu stürzen; wäre sie aber mit Schulden gestorben, so würde sie niemand bezahlt haben, ihre Seele würde zur Hölle gefahren sein, was sie nicht wolle. So trage sie auch jetzt, wo sie es nicht nötig habe, zu Hause sehr einfache Kleider, oben aus weißem Taffet, unten aus schwarzem Tuch; auf diese Weise spare sie viel, aber noch mehr hüte sie sich, auf dem Lande oder gar auf der Reise kostbare Stoffe zu tragen. Das sollte auf mich gehen, denn ich trug ein mit Silber gesticktes lila Seidenkleid – und ließ es mir gesagt sein. Diese Vorlesung – denn eine solche war es, da niemand, wenn sie vor Zorn glühte, ein Wort sprach – dauerte wenigstens dreiviertel Stunden. Endlich brachte ein Hofnarr namens Aksakoff die Kaiserin zum Schluß. Er trat mit einem kleinen Stachelschwein herein, welches er ihr in seinem Hute darreichte. Sie näherte sich ihm, um es zu betrachten, stieß aber, sowie sie es gesehen, einen lauten Schrei aus, erklärte, es gleiche einer Maus und entfloh spornstreichs in ihr Zelt, denn sie hatte die größte Furcht vor Mäusen. Wir sahen sie darauf nicht mehr und sie dinierte allein. Am Nachmittag ging sie auf die Jagd, nahm den Großfürsten mit und befahl mir, mit Madame Tschoglokoff nach Moskau zurückzukehren. Da die Jagd aber wegen des starken Windes von kurzer Dauer gewesen war, folgte uns der Großfürst schon in einigen Stunden.

Eines Sonntags, als wir schon wieder nach Rajowa zurückgekehrt waren, ließ uns die Kaiserin nach Taininskoje kommen, wo wir die Ehre hatten, an der Tafel Ihrer Majestät zu speisen. Sie saß allein am Ende der sehr langen und schmalen Tafel, der Großfürst zu ihrer Rechten, ich ihm gegenüber zu ihrer Linken; neben dem Großfürsten der Marschall Buturlin, an meiner linken Seite die Gräfin Schuwaloff. Bei dieser Gelegenheit betrank sich der Großfürst unter dem Beistande Buturlins, der ebenfalls kein Verächter des Trunkes war, auf eine Weise, die jegliches Maß überschritt, so daß er nicht mehr wußte, was er sagte noch tat, abgerissene Worte stammelte, kurz so peinlich auffiel, daß mir die Tränen in die Augen traten, mir, die ich damals, so viel in meinen Kräften stand, alles Verwerfliche an ihm zu verhüllen und zu verbergen suchte. Die Kaiserin nahm mein schmerzliches Empfinden gut auf und erhob sich früher von der Tafel als gewöhnlich.

Am Nachmittag hatte Seine kaiserliche Hoheit mit Graf Razumowski auf die Jagd gehen sollen, blieb jedoch in Taininskoje, während ich nach Rajowa zurückkehrte. Unterwegs aber befiel mich plötzlich ein heftiges Zahnweh. Das Wetter begann kalt und feucht zu werden, und in Rajowa gab es nichts als das nackte Oberdach. Doch der Bruder Madame Tschoglokoffs, Graf Hendrikoff, welcher diensttuender Kammerherr bei mir war, machte seiner Schwester den Vorschlag, mich augenblicklich zu kurieren. Sie sprach mit mir darüber und ich willigte ein, sein Mittel zu versuchen, an dem nichts zu sein schien, das im Gegenteil viel mehr den Anschein völliger Charlatanerie hatte. Er begab sich also in das andere Zimmer und brachte eine ganz kleine Papierrolle, die er mich aufforderte, mit dem kranken Zahn zu kauen. Kaum aber hatte ich das getan, als meine Zahnschmerzen so heftig wurden, daß ich mich zu Bett legen mußte. Ein hitziges Fieber ergriff mich, ich begann zu phantasieren, und Madame Tschoglokoff, über meinen Zustand aufs höchste erschrocken, schalt ihren Bruder, dessen Mittel sie die Schuld gab. Sie verließ mein Bett die ganze Nacht nicht, ließ der Kaiserin sagen, ihr Haus in Rajowa sei durchaus kein geeigneter Aufenthalt für jemand, der so krank sei wie ich, und brachte es so weit, daß man mich am folgenden Tage, krank wie ich war, nach Moskau schaffte. Dort lag ich zwölf Tage lang im Bett, aber die Zahnschmerzen kehrten jeden Nachmittag zur selben Stunde wieder.

Anfang September begab sich Elisabeth in das Kloster Woskressenski und ließ uns den Befehl erteilen, ihr an ihrem Namenstage zu folgen. An diesem Tage machte sie Iwan Iwanowitsch Schuwaloff zum Kammerherrn. Es war dies ein großes Ereignis bei Hofe, und alle flüsterten sich zu, er sei ihr neuer Günstling. Ich freute mich besonders seines Avancements, weil ich ihn, als er noch Page war, als einen Menschen, dessen Streben viel versprach, erkannt hatte, denn stets fand man ihn mit einem Buche in der Hand.

Von diesem Ausfluge zurückgekehrt, erkrankte ich an einem von heftigem Fieber begleiteten Halsweh. Die Kaiserin besuchte mich während dieser Krankheit. Kaum aber begann ich mich zu erholen, als Ihre Majestät mir durch Madame Tschoglokoff befehlen ließ, bei der Hochzeit der Nichte der Gräfin Rumianzoff zugegen zu sein und die Braut zu schmücken. Sie verheiratete sich mit Alexander Narischkin, der später Oberschenk wurde. Da Madame Tschoglokoff sah, daß ich kaum genesen war, tat ihr dieser Befehl leid, und auch mir konnte er nicht sehr willkommen sein, denn ich wurde dadurch gewahr, daß man sich um meine Gesundheit, ja um mein Leben wenig bekümmerte. In diesem Sinne sprach ich dann auch mit Madame Wladislawa, die von einem so rücksichtslosen und ohne Schonung gegebenen Befehle ebenfalls wenig erbaut war. Dennoch raffte ich alle meine Kräfte zusammen, und am festgesetzten Tage brachte man die Verlobte in mein Zimmer. Ich schmückte sie mit meinen Diamanten, worauf sie in die Hofkirche zur Trauung ging, während ich mich mit Madame Tschoglokoff und meinem Hofe in das Haus der Narischkins begeben mußte. Da wir aber damals in Moskau den Palast am Ende der deutschen Sloboda bewohnten, mußte man, um zu den Narischkins zu gelangen, ganz Moskau durchfahren, d. h. eine Strecke von wenigstens sieben Werst zurücklegen. Es war im Oktober gegen neun Uhr abends. Es fror Stein und Bein und das Glatteis war so schlimm, daß man sich nur Schritt für Schritt vorwärts bewegen konnte. Mindestens drei Stunden war ich auf dem Hinwege unterwegs und ebenso viel auf dem Rückwege. Es gab keinen Menschen, kein Pferd in meinem Gefolge, die nicht mehrere Male hinfielen. Als wir endlich bis zur Kasanschen Kirche in der Nähe des Tores Troitzkaja gekommen waren, stießen wir auf ein neues Hindernis. Hier fand zu dieser Stunde die Trauung der Schwester Iwan Iwanowitsch Schuwaloffs statt, welche von der Kaiserin selbst geschmückt worden war, und eine Masse von Karossen drängte sich folglich am Tore. Jeden Augenblick mußten wir stillstehen, worauf das Hinfallen von neuem anfing, da kein einziges Pferd für das Glatteis beschlagen war. Endlich langten wir, nicht gerade in der besten Stimmung, an. Wir mußten sehr lange auf die Neuvermählten warten, denen es ungefähr ebenso ging wie uns. Der Großfürst begleitete den Bräutigam, dann mußte noch die Kaiserin erwartet werden. Endlich setzte man sich zu Tisch. Nach dem Souper fanden einige Festtänze im Vorzimmer statt, worauf uns befohlen wurde, die Neuvermählten in ihre Gemächer zu geleiten. Hierbei mußte man verschiedene sehr kalte Korridore passieren, mehrere Treppen steigen, die nicht weniger kalt waren, dann durch lange, in Eile von feuchtem Bretterwerk errichtete Galerien gehen, an deren Wänden das Wasser überall herunterlief. Endlich in den Gemächern angelangt, setzte man sich an eine Tafel, auf welcher der Nachtisch serviert wurde. Aber nur einen Augenblick hielt man sich hier auf, um die Gesundheit der Vermählten auszubringen, führte dann die Braut ins Schlafgemach und entfernte sich, um nach Hause zurückzukehren. Am folgenden Abend mußten wir wieder zu ihnen. Und wer hätte es geglaubt? Dieses unruhige Treiben, statt meiner Gesundheit zu schaden, verhinderte meine Genesung durchaus nicht, denn Tags darauf befand ich mich besser als vorher.



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