Katharina II. von Rußland
Erinnerungen der Kaiserin Katharina II.
Katharina II. von Rußland

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Sechstes Kapitel.

Reise nach dem Gute des Favoriten. – Einsturz des Hauses, das wir bewohnen. – Rückkehr nach dem Sommerpalast. – Ankunft des Malteser Ritters Sakromoso. – Er steckt mir heimlich Briefe von meiner Mutter zu. – Ich antworte ihr auf demselben Wege. – Uebersiedelung nach Peterhof. – Interessantes Verhältnis Tschoglokoffs zu Fräulein Kocheleff. – Ihre Verbannung. – Madame Tschoglokoffs Wut gegen ihren untreuen Gatten. – Die Kaiserin verzeiht ihm. – Mein Leben in Oranienbaum. – Rückkehr nach der Stadt. – Man verabschiedet Madame Kruse und gibt mir Madame Wladislawa. – Madame La Tour l'Annois. – Hochzeit des Grafen Lestocq. – Graf Czernitscheff schreibt mir heimlich.

Nach Ostern bezogen wir wieder den Sommerpalast und von dort begaben wir uns Ende Mai zum Himmelfahrtsfeste in den Palast des Grafen Razumowski nach Gostilitza. Am 23. desselben Monats beschied die Kaiserin den Gesandten des kaiserlichen Hofes, Baron von Breitlack, der nach Wien gesandt wurde, dorthin, und er brachte den Abend beim Souper mit der Kaiserin zu. Dieses Souper verlängerte sich bis tief in die Nacht, so daß wir erst nach Sonnenaufgang in das von uns bewohnte Haus zurückkehrten. Dasselbe war aus Holz und lag auf einer kleinen Anhöhe, nahe bei der Rutschbahn. Seine Lage hatte uns sehr gefallen, als wir im Winter zum Namensfeste des Oberjägermeisters in Gostilitza gewesen waren, und nun hatte man uns die Aufmerksamkeit erwiesen, uns hier einzuquartieren. Es bestand aus zwei Etagen, die durch eine äußere Treppe miteinander verbunden waren. Die obere bestand aus einem Saal und drei kleinen Zimmern, von denen wir das eine als Schlafzimmer benutzten. In dem andern hatte der Großfürst sein Ankleidezimmer, und das dritte bewohnte Madame Kruse. Unten logierten die Tschoglokoffs, meine Ehrendamen und meine Kammerfrauen. Nach der Rückkehr von jenem Souper begaben sich alle zu Bett. Gegen sechs Uhr morgens kam ein Gardeunteroffizier namens Levascheff von Oranienbaum, um mit Tschoglokoff über die dortigen Bauten zu sprechen. Da indes alles noch schlief, setzte er sich zur Schildwache, um zu warten. Plötzlich vernahm er ein eigentümliches Krachen, was ihm verdächtig vorkam. Da die Schildwache sagte, dies Krachen habe sich schon mehrmals wiederholt, seit sie auf Posten sei, sprang Levascheff auf und eilte nach der Außenseite des Hauses, wo er bemerkte, daß sich an der Basis des Hauses große Quadersteine loslösten. Schnell weckte er Tschoglokoff und meldete ihm, daß das Fundament des Hauses einzustürzen drohe und man versuchen müsse, die Bewohner herauszubringen. Tschoglokoff warf eilig seinen Schlafrock über und eilte hinauf, wo er, da er die Glastüren verschlossen fand, die Riegel erbrechen ließ. So gelangte er in das Kabinett, wo wir schliefen, weckte uns, indem er den Vorhang aufzog und forderte uns auf, uns so schnell als möglich anzukleiden und zu fliehen, weil die Grundmauern des Hauses einzubrechen drohten. Der Großfürst sprang aus dem Bett, ergriff seinen Schlafrock und eilte davon. Ich sagte Tschoglokoff, ich würde ihm sogleich folgen, und er ging. Schnell kleidete ich mich an, wobei ich mich erinnerte, daß ja Madame Kruse im andern Kabinett sorglos schlafe. Ich ging hinein, um sie zu wecken. Da sie aber in tiefem Schlummer lag, gelang mir es nur mit großer Mühe, und ebenso schwierig war es, ihr begreiflich zu machen, daß sie das Haus verlassen müsse. Ich half ihr noch beim Anziehen, und als sie fertig war, überschritten wir die Schwelle der Tür und traten in den Saal. Aber im selben Augenblick erfolgte der allgemeine Einsturz, begleitet von einem entsetzlichen Getöse, als wenn man ein Schiff vom Stapel ließe. Madame Kruse und ich fielen zu Boden. In diesem Moment kam Levascheff durch die Treppentür, die uns gegenüberlag; er hob mich auf und trug mich aus dem Zimmer. Zufällig fiel mein Blick auf die Rutschbahn, die sich ungefähr in der Höhe der zweiten Etage befunden hatte; sie war nicht mehr da, sondern wenigstens fünfzehn Fuß weiter unten. Als Levascheff mit mir bei der Treppe anlangte, auf der er hinauf gekommen, war auch diese eingestürzt. Inzwischen aber waren mehrere Personen auf die Trümmer gestiegen, und Levascheff überlieferte mich nun dem nächsten, dieser wieder einem andern, so daß ich von Hand zu Hand endlich bis zum Fuße der Treppe in die Vorhalle kam. Von dort trug man mich auf eine Wiese, wo ich den Großfürsten im Schlafrocke fand. Sobald ich das Haus verlassen, begann ich mein Augenmerk auf das zu richten, was dort vorging. Mehrere Personen sah ich, über und über mit Blut bedeckt, herauskommen, andere wieder mußten hinausgetragen werden. Unter den am schwersten Verwundeten befand sich auch die Fürstin Gagarin, meine Ehrendame. Sie hatte sich wie die andern retten wollen, aber als sie durch ein Zimmer kam, das an das ihrige stieß, stürzte der Ofen ein und schleuderte sie auf ein Bett; mehrere Ziegelsteine fielen ihr auf den Kopf und brachten ihr sowie einem Mädchen, das sich ebenfalls retten wollte, schwere Verletzungen bei. In derselben Etage befand sich eine kleine Küche, in der mehrere Domestiken schliefen, wovon drei durch das Zusammenstürzen eines Herdes getötet wurden. Doch dies war nichts im Vergleich mit dem, was sich zwischen der Grundmauer und dem ersten Stock ereignete. Sechzehn bei der Rutschbahn angestellte Arbeiter, welche dort schliefen, wurden durch den Einsturz zerschmettert. Die Ursache des ganzen Unglücks war, daß man das Haus im Herbste in Eile gebaut und ihm als Grundmauern nur vier Reihen Kalksteine gegeben hatte. In der ersten Etage ließ der Architekt zwölf Balken in Pfeilerform in der Vorhalle aufstellen und sagte, da er in die Ukraine verreisen mußte, dem Verwalter des Gutes Gostilitza, er solle auf keinen Fall erlauben, daß man bis zu seiner Rückkehr die zwölf Balken anrühre. Als indes der Verwalter von unserm beabsichtigten Aufenthalt in dem Hause hörte, hatte er, da die Balken die Vorhalle entstellten, nichts eiligeres zu tun, als sie herausnehmen zu lassen. Beim Eintreten des Tauwetters senkte sich dann das Ganze auf die vier Reihen Kalksteine, die an den Seiten heraustraten, während das Haus selbst einer Anhöhe zuglitt, die es aufhielt. Ich kam glücklicherweise mit einigen blauen Flecken und einem großen Schrecken davon. Alle aber hatten von diesem Ereignis eine so schreckliche Angst bewahrt, daß uns noch vier Monate lang jede etwas laut schließende Tür erzittern ließ. Als an jenem Tage der erste Schreck vorüber war, ließ uns die Kaiserin, die ein anderes Haus bewohnte, zu sich kommen, und da sie wünschte, die Gefahr geringer erscheinen zu lassen als sie in Wirklichkeit war, suchten sie alle als unbedeutend, einige sogar als nicht vorhanden hinzustellen. Mein Schreck mißfiel ihr besonders, und sie schalt mich deshalb. Der Oberjägermeister weinte aus lauter Verzweiflung und sprach davon, sich erschießen zu wollen. Man verhinderte ihn dann zum Scheine daran, denn in Wahrheit beabsichtigte er nichts dergleichen. Am nächsten Tag kehrten wir nach Petersburg, und einige Wochen später in den Sommerpalast zurück.

Ich erinnere mich nicht genau, aber ich glaube um diese Zeit war es, daß der Chevalier Sakromoso in Rußland eintraf. Es war lange her, seit ein Malteser Ritter Rußland besucht hatte, überhaupt sah man damals sehr wenig Fremde in Petersburg. Seine Ankunft war daher eine Art Ereignis. Man empfing ihn aufs beste und zeigte ihm alle Sehenswürdigkeiten von Petersburg und Kronstadt. Ein berühmter Marineoffizier wurde ihm als Begleiter gegeben; es war der damalige Kapitän und spätere Admiral Polianski. Sakromoso wurde auch uns vorgestellt, und als er mir die Hand küßte, ließ er ein kleines Billett in meine Hand gleiten und flüsterte: »Von Ihrer Frau Mutter.« Ich war zu Tode erschrocken über seine Verwegenheit und starb fast vor Angst, jemand könnte es bemerkt haben, besonders die Tschoglokoffs, die ganz in meiner Nähe standen. Ich nahm indes den Zettel und schob ihn in meinen rechten Handschuh, ohne daß es jemand bemerkte. In meinem Zimmer angelangt, fand ich in einem zusammengerollten Papier, auf dem mir Sakromoso mitteilte, daß er die Antwort durch einen italienischen Musiker erwarte, der beim Konzert des Großfürsten mitwirkte, wirklich einen Brief meiner Mutter. Sie war über mein unfreiwilliges Schweigen sehr beunruhigt, fragte mich nach der Ursache desselben und wollte wissen, in welcher Lage ich mich befinde. Ich antwortete ihr sofort und benachrichtigte sie, daß man mir verboten habe, an sie oder irgend jemand zu schreiben, unter dem Vorwande, daß es für eine russische Großfürstin nicht passend sei, andere Briefe zu schreiben, als die im Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten abgefaßten, denen ich nur meine Unterschrift beifügen dürfte, ohne jemals vorher zu befehlen, was man schreiben sollte, weil das Ministerium besser als ich wisse, was passend sei. Ferner teilte ich ihr mit, daß man Herrn Olsufieff fast ein Verbrechen daraus gemacht habe, daß ich ihm einige Zeilen zugehen ließ, mit der Bitte, sie in einen Brief an meine Mutter einzulegen. Dann unterrichtete ich sie noch von mehreren andern Dingen, nach denen sie fragte, rollte mein Billett genau so zusammen wie das, welches ich erhalten, und erwartete unruhig und ungeduldig den Augenblick, mich seiner entledigen zu können. Während des ersten Konzerts, das beim Großfürsten stattfand, ging ich einmal ganz unauffällig durchs Orchester und blieb hinter dem Stuhle des Violinsolisten stehen, den man mir bezeichnet hatte. Als er mich gewahr wurde, tat er, als wolle er sein Taschentuch aus seiner Rocktasche nehmen und öffnete so dieselbe weit genug, daß ich ohne Aufsehen meinen Zettel hineingleiten lassen konnte. Darauf entfernte ich mich nach einer andern Seite, und niemand faßte den geringsten Verdacht. Sakromoso steckte mir während seines Aufenthaltes noch zwei bis drei solcher zusammengerollter Papierchen zu, die denselben Gegenstand betrafen, und meine Antworten gelangten auf die gleiche Weise an ihn. Niemals hat jemand etwas davon erfahren.

Aus dem Sommerpalast zogen wir nach Peterhof, welcher damals umgebaut wurde. Man quartierte uns daher in den alten Bau Peters I. ein, der zu jener Zeit noch existierte. Aus Langeweile spielte hier der Großfürst jeden Nachmittag mit mir l'Hombre. Wenn ich gewann, wurde er ärgerlich, und verlor ich, so wollte er sofort bezahlt sein. Obgleich ich keinen Pfennig hatte, fing er an, mit mir Hazard zu spielen, und ich erinnere mich, daß uns eines Tages seine Nachtmütze als Marke für 10 000 Rubel diente. Wenn er indes verlor, wurde er am Ende des Spieles wütend und konnte mehrere Tage hindurch schmollen. Solches Spiel sagte mir natürlich in keiner Weise zu.

Während des Aufenthaltes in Peterhof sahen wir von unsern Fenstern aus, welche nach dem Garten aufs Meer hinauslagen, daß die beiden Tschoglokoffs fortwährend zwischen dem höhergelegenen Schloß und dem von der Kaiserin bewohnten, am Ufer des Meeres gelegenen Monplaisir unterwegs waren. Uns sowie Madame Kruse verlangte es sehr, die Ursache dieses häufigen Gehens und Kommens zu erfahren. Madame Kruse begab sich daher zu ihrer Schwester, die erste Kammerfrau bei der Kaiserin war. Ganz strahlend kam sie zurück, denn sie hatte erfahren, daß all dies Gebaren nur daher rühre, daß die Kaiserin von einem zärtlichen Verhältnis Tschoglokoffs mit einer meiner Ehrendamen, Fräulein Kocheleff, Kunde erhalten und in Erfahrung gebracht hatte, daß diese guter Hoffnung sei. Die Kaiserin hatte Madame Tschoglokoff zu sich gerufen und gesagt, ihr Gemahl betrüge sie, während sie ihn bis zur Narrheit liebe, ja so verblendet gewesen sei, das Fräulein, die Geliebte ihres Gatten, gewissermaßen bei sich wohnen zu lassen. Wenn sie sich von ihrem Manne trennen wollte, würde sie einen Schritt tun, der Ihrer Majestät nicht mißfalle, die überhaupt die Vermählung Madame Tschoglokoffs mit ihrem Gatten nicht gern gesehen hatte. Ja, sie erklärte ihr geradezu, sie wolle nicht, daß ihr Mann bei uns bleibe, sie werde ihn verabschieden und den Dienst ihr allein überlassen. Im ersten Augenblick leugnete Madame Tschoglokoff der Kaiserin gegenüber die Leidenschaft ihres Mannes und erklärte dieselbe für eine Verleumdung. Doch Ihre Majestät hatte während der Zeit, in welcher sie mit der Tschoglokoff sprach, das Fräulein befragen lassen. Die Kocheleff gestand alles ein, was Madame Tschoglokoff gegen ihren Gatten auf äußerste aufbrachte. Sie kehrte nach Hause zurück, wo sie ihrem Manne die bittersten Vorwürfe machte. Er aber fiel vor ihr auf die Knie, bat sie um Verzeihung und verschwendete seinen ganzen Einfluß auf sie, um sie zu besänftigen. Um der Kinder willen, deren sie sehr viele hatten, wurde denn auch das gute Einverständnis zwischen den Ehegatten wieder hergestellt, aber es war seitdem nicht mehr aufrichtig. Getrennt durch die Liebe, verbanden sie sich jetzt aus Interesse. Die Gattin verzieh dem Gatten, ging zur Kaiserin und sagte, daß sie ihrem Manne alles vergeben habe und bei ihm aus Liebe zu ihren Kindern bleiben wolle. Auf den Knien bat sie Ihre Majestät, ihn nicht schimpflich vom Hofe zu verabschieden, denn dies werde sie entehren und ihr Unglück noch vergrößern. Kurz, sie benahm sich bei dieser Gelegenheit so gut, mit so viel Festigkeit und Großmut, und ihr Schmerz war außerdem so aufrichtig, daß sie den Zorn der Kaiserin entwaffnete. Sie führte sogar ihren Gemahl vor Ihre kaiserliche Majestät, sagte ihm vor ihr noch einmal offen und ungeschminkt die Wahrheit, warf sich dann mit ihm vor der Kaiserin auf die Knie und bat dieselbe, ihrem Gatten um ihret- und ihrer sechs Kinder willen, deren Vater er ja sei, zu verzeihen. Alle diese Szenen dauerten ungefähr fünf bis sechs Tage, während welcher wir fast stündlich erfuhren, was vorgefallen war, weil man uns inzwischen weniger auflauerte, und weil alle auf die Verabschiedung der Tschoglokoffs hofften. Aber der Ausgang entsprach der Erwartung nicht, die man sich gemacht hatte, denn die Tschoglokoffs blieben, allerdings weniger glorreich als bisher, und nur Fräulein Kocheleff wurde zu ihrem Onkel, dem Oberhofmarschall Chepeleff, geschickt. Man wählte dazu den Tag, wo wir nach Oranienbaum gehen sollten, und während wir nach der einen Seite abreisten, entließ man das Fräulein nach der andern.

In Oranienbaum wohnten wir dieses Jahr in der Stadt zur Rechten und Linken des kleinen Hauptgebäudes. Das Abenteuer in Gostilitza hatte so großen Schrecken verursacht, daß man erst in allen Häusern des Hofes die Decken und Fußböden untersuchen ließ, worauf die, welche es bedurften, ausgebessert wurden.

Mein Leben in Oranienbaum war folgender Art. Um drei Uhr morgens stand ich auf, kleidete mich selbst von Kopf bis Fuß in Männerkleider, während mich ein in meinen Diensten stehender alter Jäger schon mit den Flinten erwartete. Ein Fischerboot lag am Ufer des Meeres bereit. Wir durchschritten den Garten zu Fuß, die Flinte auf der Schulter, und bestiegen, er, ich, ein Hund, sowie der Fischer, der uns fuhr, das Boot. Dann schoß ich Enten im Schilf, welches das Meer auf beiden Seiten des Kanals von Oranienbaum, der zwei Werst weit in die See hinausläuft, begrenzt. Oft fuhren wir auch über diesen Kanal hinaus, so daß wir bisweilen bei stürmischem Wetter mit unserm Boot aufs offene Meer getrieben wurden. Der Großfürst folgte uns ein bis zwei Stunden später, weil er immer ein Frühstück und Gott weiß was sonst noch nötig hatte. Wenn er uns erreichte, schossen wir gemeinsam, wenn nicht, jagte jeder für sich. Um zehn Uhr, manchmal auch später, kehrte ich zurück und kleidete mich zum Diner um. Nach dem Diner ruhte man ein wenig, und abends machte der Großfürst Musik oder wir unternahmen einen Spaziergang. Nachdem ich ungefähr acht Tage auf diese Weise gelebt hatte, fühlte ich mich doch sehr angegriffen und begann an Kopfweh zu leiden. Ich mußte einsehen, daß mir Ruhe und Diät nötig waren, und aß daher vierundzwanzig Stunden lang nichts, trank nur frisches Wasser, schlief zwei Nächte so viel ich konnte, worauf ich dieselbe Lebensweise von neuem begann und mich dabei sehr wohl befand. Ich erinnere mich, daß ich damals Brantômes Memoiren las, die mich sehr amüsierten; vorher hatte ich das Leben Heinrichs IV. von Perifix gelesen.

Zu Anfang des Herbstes kehrten wir in die Stadt zurück und erfuhren, daß wir den Winter in Moskau zubringen würden. Madame Kruse meldete mir bei dieser Gelegenheit, daß ich meine Wäsche ergänzen müsse. Ich beschäftigte mich also mit den einzelnen Stücken, während Madame Kruse mich damit zu unterhalten suchte, daß sie die Leinwand in meinem Zimmer zuschneiden ließ, um, wie sie sagte, mir zu zeigen, wie viel Hemden aus einem Stück gemacht werden könnten. Dieser Unterricht oder Zeitvertreib mißfiel aber offenbar Madame Tschoglokoff, die seit der Entdeckung der Untreue ihres Gemahls in noch schlechterer Stimmung war als vorher. Ich weiß nicht, was sie der Kaiserin sagte, aber eines Nachmittags meldete sie mir, daß Ihre Majestät Madame Kruse des Dienstes bei mir enthebe, die sich zu ihrem Schwiegersohn, dem Kammerherrn Sievers, zurückziehen werde. Tags darauf brachte sie mir Madame Wladislawa, die ihre Stelle bei mir einnehmen sollte. Sie war eine Frau von hoher, vornehmer Gestalt, deren geistvoller Gesichtsausdruck mir sogleich gefiel. Ich befragte sogleich mein Orakel Timotheus Nevreinoff über diese Wahl, der mir erzählte, diese Dame, die ich nie vorher gesehen, sei die Schwiegermutter des Staatsrates Pugowischnikoff, ersten Sekretärs des Grafen Bestuscheff. Es fehle ihr weder an Geist noch an Heiterkeit, aber sie gelte für sehr verschlagen, und ich müsse sehen, wie sie sich benehmen werde und ihr vor allem kein zu großes Vertrauen entgegenbringen. Sie hieß Praskowia Nikitischna. Sie debütierte vortrefflich, war gesellig, sprach gern und geistreich, kannte alle Anekdoten der Vergangenheit und Gegenwart aufs gründlichste, war in die Geschichte von vier bis fünf Generationen aller Familien eingeweiht, hatte die Genealogie der Väter, Mütter, Großmütter und der väterlichen und mütterlichen Ahnen der ganzen Welt frisch und fertig in ihrem Gedächtnis. Und in der Tat hat mich niemand besser als sie über das unterrichtet, was seit hundert Jahren in Rußland vorgegangen war. Geist und Benehmen dieser Frau sagten mir ungemein zu, und wenn ich mich langweilte, ließ ich sie plaudern, wozu sie stets bereit war. Bald auch entdeckte ich, daß sie die Worte und Handlungen der Tschoglokoffs sehr oft mißbilligte; da sie indes öfters in die Gemächer Ihrer Majestät ging, ohne daß man im geringsten wußte weshalb, hütete man sich bis zu einem gewissen Punkte vor ihr, weil man nicht sicher war, wie die unschuldigsten Worte oder Handlungen ausgelegt werden konnten.

Aus dem Sommerpalast zogen wir in den Winterpalast. Hier wurde uns Madame La Tour l'Annois vorgestellt, die in ihrer frühesten Jugend im Dienste der Kaiserin gestanden und die Fürstin Anna Petrowna, die älteste Tochter Peters I. begleitet hatte, als diese beim Regierungsantritt Peters II. Rußland mit ihrem Gemahl, dem Herzog von Holstein, verließ. Nach dem Tode der Fürstin war Madame L'Annois nach Frankreich zurückgekehrt und gegenwärtig nach Rußland gekommen, um sich hier dauernd niederzulassen, oder auch um sich wieder zu entfernen, nachdem sie von Ihrer Majestät einige Gnadenbezeigungen erhalten. Madame L'Annois hoffte, sie werde wegen ihrer alten Bekanntschaft die Gunst und das Vertrauen der Kaiserin erlangen, aber sie täuschte sich sehr, denn alle ließen es sich angelegen sein, solches zu verhindern. Schon während der ersten Tage ihres Aufenthaltes sah ich das Resultat voraus, und zwar auf folgende Weise. Eines Abends, als man im Zimmer der Kaiserin beim Spiele saß, kam und ging Ihre Majestät von einem Zimmer ins andere, ohne sich, wie das ihre Gewohnheit war, an irgend einem Platze niederzulassen. Madame L'Annois, die ihr augenscheinlich den Hof zu machen hoffte, folgte ihr auf Schritt und Tritt. Als die Tschoglokoff das sah, flüsterte sie mir zu: »Sehen Sie doch, wie diese Frau die Kaiserin verfolgt, aber das wird nicht lange dauern, man wird ihr schnell genug abgewöhnen, hinter Ihrer Majestät herzulaufen.« Ich ließ mir dies gesagt sein, und in der Tat begann man sie zu entfernen und schickte sie bald darauf, reich beschenkt, nach Frankreich zurück.

Im Laufe des Winters fand die Hochzeit Graf Lestocqs mit Fräulein Mengden, einer Ehrendame der Kaiserin, statt. Ihre Majestät war mit dem ganzen Hofe zugegen und erwies den Neuvermählten die Ehre, sie zu besuchen. Man hätte meinen sollen, daß sie in der höchsten Gunst bei ihr standen, jedoch ein oder zwei Monate später wendete sich das Glück. Als wir eines Abends im Zimmer der Kaiserin spielten, bemerkte ich den Grafen und näherte mich ihm, um einige Worte an ihn zu richten. Allein er sagte mit gedämpfter Stimme zu mir: »Kommen Sie mir nicht zu nahe; ich bin eine verdächtige Person.« Da ich glaubte, er scherze, fragte ich ihn, was er damit sagen wolle, aber er antwortete: »Ich wiederhole Ihnen im vollen Ernst, sich mir nicht zu nähern, weil ich eine verdächtige Person bin, die man meiden muß.« Als ich dann bemerkte, daß seine Züge verändert und sein Gesicht gerötet war, hielt ich ihn für betrunken und wandte mich weg. Dies geschah am Freitag, und am Sonntag sagte mir Timotheus Nevreinoff, als er mich frisierte: »Wissen Sie schon, daß Graf Lestocq und seine Frau diese Nacht verhaftet und als Landesverräter auf die Festung gebracht worden sind?« – Niemand wußte weshalb, nur erfuhr man, daß General Stefan Apraxin und Alexander Schuwaloff zu Kommissaren für diese Angelegenheit ernannt seien.

Die Abreise des Hofes nach Moskau wurde auf den 16. Dezember festgesetzt. Man hatte die Czernitscheffs in ein Haus der Kaiserin innerhalb der Festung gebracht, welches Smolnoi Dwor hieß. Der ältere machte mitunter seine Wächter betrunken und besuchte dann seine Freunde in der Stadt. Eines Tages brachte mir eins meiner Garderobemädchen, eine Finnländerin, die mit einem Hofbedienten und Verwandten Nevreinoffs verlobt war, einen Brief von Andreas Czernitscheff, worin er mich um verschiedenes bat. Das Mädchen hatte ihn bei ihrem Zukünftigen gesehen, wo sie den Abend gemeinsam verlebt hatten. Da ich diesen Brief nicht verbrennen wollte, um mich zu erinnern, um was er mich bat, wußte ich nicht, wo ich ihn lassen sollte. Lange Zeit war mir sogar die Korrespondenz meiner Mutter verboten, so daß ich nicht einmal Schreibzeug besaß und mir nun durch das Mädchen eine silberne Feder und Tinte verschaffen mußte. Tagsüber hatte ich den Brief in meiner Tasche, wenn ich mich auskleidete, steckte ich ihn unter das Strumpfband in meinen Strumpf und nahm ihn, ehe ich zu Bett ging, von dort weg, um ihn in meinem Hemdärmel zu verbergen. Schließlich antwortete ich, schickte ihm das Gewünschte auf demselben Wege, auf welchem sein Brief an mich gelangt war, und benutzte einen günstigen Augenblick, um diesen Brief, der mir so viel Unruhe verursachte, zu verbrennen.



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