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Viertes Kapitel.
Mannik

Gegen die zehnte Abendstunde kamen zwei Männer, elegant und nach letzter Mode gekleidet, in das »Schlachthaus«. Das Haus trug diese Bezeichnung nur als Spitznamen. Im übrigen gab es sich nach außen hin das Ansehen eines ordentlichen und bescheidenen Bierrestaurants. Diejenigen, die mit den örtlichen Verhältnissen vertraut waren, verzichteten von vornherein auf den Haupteingang. Sie benutzten die anderen Eingänge; und es gab deren verschiedene.

Die beiden Besucher gingen in den nach der Straße gelegenen kleinen Raum und nahmen in der Nähe einer Seitentür Platz. Als der Kellner ihnen den gewünschten Portwein brachte, drückte ihm Mingal einen Geldschein in die Hand und sagte: »Wir möchten nach unten.«

Der Kellner sah auf das Geld, warf einen flüchtigen Blick nach dem Schanktisch zurück, hinter dem der Wirt stand und flüsterte: »Gehen Sie durch die Tür. Ich komme gleich nach.«

Einer nach dem anderen verschwanden die beiden Besucher durch die Tür, die man ihnen bezeichnet hatte. In einem halbdunklen Korridor warteten sie eine Weile. Dann kam der Kellner, öffnete schnell eine weitere Tür, stieß sie hinein und riegelte hinter ihnen ab. Sie standen in völliger Dunkelheit. Alming zog eine stabförmige Taschenlampe aus dem Rock und leuchtete vor sich hin. In dem schwachen Licht sahen sie Stufe auf Stufe sich in die Tiefe senken. Es herrschte ein dumpfer, modriger Geruch.

Sie entsicherten ihre Waffen und stiegen hinunter. Dabei zählten sie für alle Fälle genau die Stufen. »Siebzehn«, sagte Ovel, als sie vor einer niedrigen, schweren Holztür anhielten. Sie klopften. Es wurde ohne weiteres geöffnet, da der Kellner schon Weisung gegeben hatte. Ein dicker Mann mit einer Schifferbluse begrüßte sie.

»Ist heute etwas Besonderes los?« fragte Mingal.

»Nichts Besonderes. Wie immer«, antwortete der Dicke. »Gehen Sie nur hinein.«

Sie kamen in einen gewölbten Raum, der durchaus nicht den Eindruck machte, als ob sich hier die unterirdische Welt ein Stelldichein zu geben pflegte. Die Wände waren frisch geweißt. Das Büfett im Hintergrunde glänzte von sauber geputztem Nickel und hatte blanke, facettierte Spiegelscheiben. Tische und Stühle waren aus dunkler Eiche. Der Fußboden hatte einen Belag von Linoleum. Zwischen den Gängen lagen rote Läufer. Sogar die Kellner trugen blendend weiße Jacken.

Mingal lachte leise: »Wenn diese Herrschaften unter sich sind, dann wollen sie so vornehm als möglich sein. Ich glaube, sie sind imstande, einen Einbruch zu begehen und sich einen guten Anzug zu stehlen, ehe sie ins Schlachthaus kommen.«

In der Tat waren alle Gäste überraschend gut gekleidet. Zwar die Gesichter von vielen ließen eine Täuschung über den Eigentümer der Kleidung nicht zu. Aber das wäre für einen Menschen, der nicht im Bilde war, auch das einzige Erkennungszeichen gewesen. Im übrigen herrschte ein sehr gedämpfter Lärm, eine betonte gegenseitige Freundlichkeit und Höflichkeit. Das hinderte nicht, daß zuweilen die Leidenschaften hier in wildester Form ausbrachen, und die Bezeichnung »Schlachthaus« kam nicht zuletzt daher, daß mehr als einmal in diesen sauberen und gepflegten Räumen Blut geflossen war.

Die Tische waren stark besetzt. Überall wurde eifrig getrunken. Um die neuen Gäste kümmerte sich kaum jemand. Sie fanden im Mittelgang des Lokals noch zwei Stühle und nahmen dort Platz. Sie unterhielten sich über gleichgültige Dinge. Dabei ließen sie ihre Blicke unauffällig in die Runde gehen, ob wohl ein Gesicht zu entdecken sei, dessen Träger ihnen für ihre Zwecke dienlich sein könnte.

Als sie eine Weile so gesessen hatten, entstand an einem der Tische eine Bewegung. Ein Gast redete auf einen Kellner ein. Seine Stimme übertönte die anderen: »Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß ich einen Fünfmarkschein gehabt habe, als ich kam. Jetzt kann ich ihn nicht finden.«

Der Kellner wollte sich damit nicht zufrieden geben. Ovel und Mingal verständigten sich durch einen Blick. Dann ging Mingal zu dem Tisch hinüber und sagte zu dem Kellner: »Warum glauben Sie dem Herrn nicht? Er ist ein guter Bekannter von mir, und ich übernehme die Zeche.« Damit warf er ein Geldstück auf den Tisch.

Der vermeintliche Zechpreller sah überrascht auf, erhob sich und sagte: »Verbindlichsten Dank, mein Herr. Wo und wann darf ich Ihnen Ihre Auslage zurückerstatten?«

»Ist nicht der Rede wert«, lächelte Mingal. »Sie würden meinen Freund und mich zu Dank verpflichten, wenn Sie uns etwas Gesellschaft leisten würden. Wir langweilen uns nämlich.«

Die übrigen Gäste an dem Tische lachten. Das war einmal eine billige Zeche. »Mannik,« sagte der eine, »du hast mehr Glück als Verstand.«

»Glück ist mehr wert«, sagte Mannik zufrieden und ging an den anderen Tisch. Dort stellte er sich mit aller Förmlichkeit vor: »Gestatten: Mannik.«

Mingal sagte: »Wir heißen Müller und Schulze.«

»Aha!« meinte Mannik. »Ich verstehe: unter Ausschluß der Öffentlichkeit.«

»Ganz recht. Wir stehen nämlich nicht im Register. Es tut uns leid, Herr Mannik, daß Sie Ihren letzten Geldschein verloren haben. So etwas soll für das wirtschaftliche Fortkommen recht hinderlich sein.«

»Nun,« sagte Mannik gottergeben, »es gibt immer noch gute Menschen auf der Welt; und solange es die gibt, solange gibt es auch Möglichkeiten, zu verdienen.«

»Leicht gesagt«, erwiderte Mingal. »Zuweilen kann man tagelang suchen; zuweilen aber auch liegt das Geld so auf der Straße umher. Man braucht sich nur zu bücken, und man hat einige hundert Mark, unter Umständen sogar tausend Mark verdient.«

Mannik war sehr hellhörig. Er verstand schon, warum man ihn an diesen Tisch geholt hatte. Er sagte träumerisch: »Tausend Mark verdiene ich sehr gern … wenn die Bedingungen nicht zu schwer sind.«

»Für nichts ist nichts«, sagte Ovel energisch. »Wer zu Geld kommen will, der muß sich schon einmal hart anfassen lassen. Sie sehen eigentlich aus, als ob Sie ganz gut einen Knuff vertragen könnten. Sind Sie im Augenblick beschäftigt?«

Mannik nickte: »Jedenfalls habe ich ein Angebot, einen Auftrag auszuführen. Aber ich habe mich noch nicht entschieden. Die Bedingungen sind mir etwas peinlich.«

»Schlachtfest?« frage Ovel fachverständig.

»Ach woher denn! Das ist ja Amateurarbeit. Nein, ich soll etwas viel Vertrackteres tun. Ich soll mich für nichts und wieder nichts einsperren lassen.«

Mingal stieß unter dem Tisch Ovel an und lachte: »Sonderbare Zumutung. Ist es unbescheiden, wenn ich frage, was das eigentlich auf sich hat? Verstehen Sie mich nur recht, Herr Mannik: ich will Ihnen kein Geheimnis entlocken. Es ist … reine Neugierde.«

»Bitte, bitte, Herr Müller oder Herr Schulze. Es ist ganz einfach ein Kassiberschleppen, das ich vornehmen soll.«

Ovel saß wie erstarrt. Auch Mingal hatte Mühe, seine Beherrschung zu bewahren. Wieder bewährte sich seine Überzeugung, daß nichts sinnloser und kostbarer sei als der Zufall. Seine ganze Chance bestand im Augenblick darin, sich diesen Zufall nicht wieder entwischen zu lassen. Vielleicht war die Spur falsch; vielleicht war sie aber auch richtig. Er saß schon zu lange untätig da, um nicht das Äußerste in dieser Situation zu wagen. Darum beugte er sich über den Tisch und frage schlicht: »Was bietet Ihnen Olly dafür?«

Mannik warf vor Schreck sein Glas um. Mingal war überzeugt, daß er es nur tat, um Zeit für eine Antwort zu gewinnen. Und er ließ ihm die Zeit. Während der Kellner die Tischplatte abtrocknete, zündete er sich nachlässig eine Zigarette an. »Nun?« frage er dann.

Mannik hob die rechte Hand etwas und sagte: »Ich bin taubstumm. Guten Abend.« Damit stand er auf und ging quer durch das Lokal fort.

Ovel und Mingal blieben zitternd auf ihren Plätzen. Sie kamen erst zu klarem Bewußtsein, als die schwere Holztür sich hinter Mannik geschlossen hatte. Dann zahlten sie und ließen sich hinausgeleiten. Beide bebten vor Zorn und Enttäuschung. »Warum hast du ihn nicht festgehalten?« zischte Ovel. »Was fängst du mit all deiner Schlauheit an, wenn du diesen Mann entwischen läßt.«

»Soll ich ihm mitten im Lokal etwa die Hände zusammenbinden? Im übrigen ist es besser, nachzudenken, als sich zu streiten.«

»Zugegeben. Du siehst, Olly ist noch da und ist schon in voller Tätigkeit. Sie will versuchen, an Bob heranzukommen. Er ist ja auch der einzige, der den Weg kennt. Wenn er nicht rechtzeitig Nachricht von uns bekommt, dann ist er endgültig für uns verloren. Du mußt dir seine Situation vorstellen. Er sitzt da und weiß nicht, was er beginnen soll.«

»Gewiß,« sagte Mingal, »aber wenn er draußen ist, kann er uns einstweilen auch nicht helfen, weil wir den Plan nicht haben.«

»Gleichgültig. Ich vermute, daß Olly ihn inzwischen hat, weil sie sich sonst nicht so um ihn kümmern würde. Mir ist nur unklar: woher weiß der Mann, daß Bob den Taubstummen spielt? Oder hältst du die Bemerkung für einen Zufall?«

»Das ist kein Zufall. Damit wollte er mir die Antwort darauf geben, daß ich Ollys Namen genannt habe. Diesen Mann müssen wir haben. Er wird im Keller nicht unbekannt sein. Wir wollen zurückgehen und nach ihm fragen.«

»Und Aufsehen erregen, nicht wahr? Ich denke nicht daran. Wir wollen morgen abend wieder herkommen. Ich bin überzeugt, daß er sich die Sache überlegt und ein größeres Angebot erwartet …«

»Oder daß er inzwischen Olly Bescheid gibt!«

»Das ist auch möglich; aber was schadet uns das? Sie weiß doch, daß wir hier etwas unternehmen. Auf jeden Fall gehen wir morgen wieder hierher. Ich weiß schon, wie ich Herrn Mannik mürbe mache.« – –

Sie waren am nächsten Abend wieder im Keller des »Schlachthauses«. Bald bestätigte sich ihre Vermutung. Mannik, in einem tadellos neuen Anzug, erschien und setzte sich, etwas entfernt von ihnen, an einen Tisch. Ovel winkte dem Kellner: »Bringen Sie, bitte, dem Herrn da drüben mit dem graugestreiften Anzug diesen Brief.«

Der Kellner erledigte seinen Auftrag. Mannik öffnete den Brief, ohne sich nach dem Tisch der beiden Gäste umzudrehen und las folgendes:

»An die Inspektion des Untersuchungsgefängnisses, hier. Wir erlauben uns, Ihnen mitzuteilen, daß in diesen Tagen dort ein Untersuchungsgefangener eingeliefert wird, der Mannik heißt. Vielleicht wird er auch einen anderen Namen angeben. Dieser Herr hat den Auftrag, sich mit dem dort inhaftierten Untersuchungsgefangenen Bob (Einbruch bei dem Buchbinder Jäger) in Verbindung zu setzen und ihm mündlich oder schriftlich eine Botschaft zu übermitteln. Wir empfehlen der verehrlichen Inspektion daher, sowohl auf Bob wie auf diesen Boten besonders achtzugeben. Eventuell kommt sogar Gefangenenbefreiung in Frage. Hochachtungsvoll! Müller und Schulze.«

Mannik faltete den Brief sorgfältig wieder zusammen und steckte ihn in die Tasche. Ovel beobachtete es durch den Spiegel des Büffets. Er sagte zu Mingal: »Jetzt wird er wohl kein Vergnügen mehr daran haben, für Olly diesen Auftrag auszuführen. Wenn er nicht für uns tätig sein will, dann schreibe ich unter allen Umständen an die Inspektion. In zwei Minuten sitzt er hier am Tisch.«

So geschah es auch. Mannik kam durch das Lokal, als habe er die Absicht, fortzugehen. Er spielte den Erstaunten, als er die beiden Gäste sah. »Sieh an, da sind ja die liebenswürdigen Helfer von gestern abend wieder. Wie geht's, meine Herren?«

»Danke, danke. Wollen Sie uns einen Augenblick Gesellschaft leisten?«

»Gerne«, sagte Mannik und nahm Platz. »Aber es kann sich nur um einen Augenblick handeln. Ich muß bald fort.«

»Nun, für einen kleinen Schoppen Wein wird es langen. Was machen die Geschäfte, Herr Mannik?«

»Es geht so an«, lächelte Mannik. »Die Konkurrenz ist groß.«

»Wirklich?« fragte Mingal. »Das wundert mich. Im allgemeinen heißt es doch, daß das Angebot die Nachfrage und damit den Preis drückt.«

»In diesem Falle liegt es umgekehrt, meine Herren. Mir sind tausend Mark geboten. Bieten Sie mehr?«

»Ich denke gar nicht daran«, sagte Mingal kühl. »Wenn Olly Ihnen tausend Mark bietet, dann biete ich Ihnen die Hälfte. Mehr ist uns die Geschichte nicht wert. Und wenn Sie nicht wollen, dann geht der Brief an die Inspektion ab und Sie sitzen auf.«

»Ich will nicht«, sagte Mannik gelassen. »Das heißt: für diesen Auftrag selbst verlange ich nicht mehr als fünfhundert Mark. Aber ich habe noch etwas anderes abzugeben, und dafür verlange ich zweitausend Mark.«

»Mätzchen!« rief Mingal verächtlich. »Nehmen Sie die fünfhundert und seien Sie zufrieden, daß wir Ihnen das Geschäft nicht ganz verderben. Entscheiden Sie sich heute abend noch; sonst ziehen wir das Angebot zurück. Dann können Sie sich einsperren lassen und haben überhaupt nichts davon.«

Mannik schmunzelte: »Meine Herren, ich bin nicht mehr so grün, wie Sie glauben. Zwar können Sie mir das Geschäft mit den tausend Mark verderben, aber ich kann Ihnen mehr verderben; oder besser gesagt: ich kann Sie davor bewahren, daß Sie noch mehr verderben, als Sie bisher schon verdorben haben. Warum wollen wir lange Verstecken spielen? Was macht übrigens Ihr Bein, mein Herr?«

Mingal riß die Augen auf. Jetzt war es klar, daß der Mann über eingehende Kenntnisse verfügte. Es war gleich, woher sie kamen. Es war wieder ein Beweis, daß Olly nicht schlief.

»Sie spielen Verstecken«, sagte Ovel erregt. »Wissen wir denn, ob Ihre Kenntnisse überhaupt etwas wert sind? Vielleicht sind sie gerade soviel wert wie der Schoppen Wein, den Sie da trinken. Wir kaufen keine Katze im Sack.«

»Das kann ich verstehen. Dann will ich den Sack ein ganz klein wenig, so oben am Zipfel öffnen, und Sie gewissermaßen den Schwanz von der Katze sehen lassen. Dann können Sie sich die Sache mit den zweitausend überlegen. Ich will sie jetzt gar nicht haben.«

»Gut«, sage Mingal. »Dann öffnen Sie erst mal den Zipfel.«

Mannik beugte sich etwas vor: »In diesen Tagen verreist der Detektiv Aren für längere Zeit.«

Es trat eine Pause des Schweigens ein. Ovel und Mingal waren sehr ernst geworden. Endlich sagte Mingal: »Wir schlagen Ihnen vor, daß wir uns in einer halben Stunde am Klostermarkt treffen. Einverstanden?«

Mannik nickte und ging. Ovel fuhr sich durch die Haare: »Jetzt geht das Rennen los. Wenn Aren verreist, dann hat das seinen guten Zweck. Sollte er den Plan entziffert haben? Wir müssen, glaube ich, die zweitausend springen lassen. Mannik kann ein Schwindler sein oder nicht. Ich vermute aber, daß er noch mehr weiß. Wir wollen nicht am falschen Orte sparsam sein.«

»Schon recht. Wir müssen aber zur Bedingung machen, daß er uns sagt, wo Olly steckt. Also gehen wir zum Klostermarkt.«

Mannik war schon an Ort und Stelle. »Nun, meine Herren?«

»Wir sind mit Ihrem Vorschlag einverstanden, aber nur unter der Bedingung, daß Sie uns den Aufenthalt von Olly mitteilen.«

Mannik zuckte die Schultern: »Dann zerschlägt sich das Geschäft. Ich kann Ihnen auf Ehrenwort versichern, daß ich nicht weiß, wo Olly ist und daß ich sie nie zu Gesicht bekommen habe.«

»Das sieht ihr ähnlich«, entfuhr es Ovel. »Aber egal. Sie sollen sehen, daß wir nicht kleinlich sind. Genügt Ihnen unser Ehrenwort, daß wir bezahlen, wenn der Auftrag ausgeführt ist?«

»Genügt mir. Wir sind ja unter Ehrenmännern. Was soll ich Bob bestellen?«

»Folgendes: er soll seine Rolle als Taubstummer beibehalten. Er soll sich aber schriftlich äußern, und zwar dahin, daß er den Einbruch nur aus Not versucht habe, um an die Ladenkasse zu kommen. Er sei in Not geraten, weil Olly ihn vollständig ausgeplündert habe. Im übrigen soll er ruhig seinen wahren Namen angeben. Sagen Sie ihm weiter, daß er sich beim holländischen Konsulat Geld abholen könne, sobald er frei ist. Er soll dann sofort nach Colombo kommen und dort im Gelben Haus Unterkunft nehmen.«

»Gut. Sonst noch etwas?«

»Das wäre wohl alles. Aber halt, eines noch. Sagen Sie ihm, er solle sich unter allen Umständen, ohne sich um uns zu kümmern, nach Colombo begeben, sobald er frei ist; auch dann, wenn wir hier noch zu tun haben. Vom Gelben Haus aus soll er versuchen, festzustellen, ob Miquels Aufzeichnungen noch vorhanden sind. Er muß sich zu diesem Zwecke an den alten Bungalow heranmachen. Dann soll er ob mit oder ohne Aufzeichnungen – drüben auf uns warten.«

»Das werde ich ausrichten«, sagte Mannik. »Und nun will ich mit meiner Gegenleistung herausrücken. Sie werden übermorgen im Generalanzeiger ein Inserat finden, in welchem ein Herr Krojan Bekannte oder Verwandte des Herrn Miquel zwecks Informationserteilung sucht.«

»Nanu? Was soll das für einen Zweck haben?« rief Mingal.

»Den Zweck kann ich Ihnen nicht sagen. Ich kann Sie nur auf folgendes hinweisen: Aren reist morgen ab. Ziel unbekannt. Man kann vermuten, daß er sich nur irgendwo in der Umgebung versteckt, um den Anschein zu erwecken, er sei vom Schauplatz abgetreten. Kaum ist er einen Tag weg, da sucht Herr Krojan Leute ausfindig zu machen, die etwas von Herrn Miquel wissen oder etwas über Herrn Miquel erfahren wollen. Er bekommt Mut, sobald Aren weg ist. Wenn ich nun Ovel oder Mingal hieße, würde ich mich sehr hüten, darauf hereinzufallen.«

»Woher wissen Sie unsere Namen?« packte Mingal ihn an.

»Ihre Namen? Ich habe doch Müller oder Schulze gesagt. Oder haben Sie etwas anderes verstanden? Also ich meine: man könnte zu Herrn Krojan ins Haus gehen und dann große Schwierigkeiten haben, wieder herauszukommen. Wenn aber niemand kommt, dann wird Frau … Verzeihung: Herr Krojan das Geld für das Inserat vergeblich bezahlt haben.«

»Hm«, sagte Ovel. »Ich kalkuliere, ich wäre in die Falle gegangen. Du wohl auch, Mingal.«

»Vielleicht. Bei dieser unübersichtlichen Geschichte hätte ich es vielleicht darauf ankommen lassen. Immerhin gut, daß wir es wissen. Also die Zweitausend sind geordnet, Herr Mannik … sobald alles andere erledigt ist. Haben Sie sich schon überlegt, wie Sie in das Untersuchungsgefängnis hineinkommen?«

»Versteht sich. In einer Stunde bin ich drin.«

»Nun, Sie haben es aber eilig«, lachte Mingal. »Wie machen Sie es denn?«

Mannik zog eine kleine blaue Schachtel aus der Tasche. »Sie wissen, meine Herren, daß der Handel mit Kokain verboten ist. Verfügen Sie sich, bitte, in das kleine Weinlokal, das da drüben unter der grünen Laterne liegt. Daher heißt es Laubfrosch. Da werde ich, mehr oder minder unauffällig, versuchen, den Inhalt dieser Schachtel los zu werden. Das Lokal wird scharf überwacht, und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn ich nicht binnen zehn Minuten einem Kriminalbeamten in die Hände falle.«

Ovel nickte zustimmend, aber Mingal schüttelte den Kopf: »Bester Mann, dann bekommen Sie doch mindestens drei Monate wegen verbotenen Handels mit Giften. Und solange können wir nicht warten.«

»Unsinn«, lachte Mannik. »Ich laß mich solange einsperren, bis ich Bob gesprochen habe, dann weise ich den Herren nach, daß in dieser blauen Schachtel gar kein Kokain ist, sondern … Magnesium, das mit feinem Kochsalz vermischt ist. Äußerlich sieht es wie Kokain aus. Aber für Magnesium mit Kochsalz kann man mich nicht bestrafen.«

Sie lachten alle drei herzlich. Dann verabschiedeten sie sich und wünschten einander ein frohes Wiedersehen. Ovel und Mingal begaben sich in den Laubfrosch. Die Gesellschaft dort war recht bunt gemischt. Man sah wirkliche und scheinbare Eleganz; biedere, stumpfe Gesichter und solche, die alle Merkmale des Rauschgiftes in den zerstörten Zügen trugen. Neben den zufälligen Gästen waren deutlich die Stammgäste zu erkennen, die an jedem Tisch bekannt waren, sich mit dem Barkeeper unterhielten, die Wirtin um Geld angingen und jedes unbekannte Gesicht zweifelnd betrachteten, ob es ein Kriminalbeamter sei oder einer, von dem man eine Freizeche erwarten konnte.

Die beiden saßen in der Nähe der Bar, tranken ihren Schwedenpunsch und warteten auf Mannik. Er kam nicht. Sie wurden unruhig. War hier irgendein neuer Bluff von Olly zu erwarten? Aber plötzlich stieß Mingal seinen Freund an: »Da sitzt er ja!«

Mannik hatte seinen Anzug gewechselt. Er sah unscheinbar und kümmerlich aus. An Stelle des Kragens trug er ein breites, rotes Halstuch. Er stierte mit gläsernen Augen vor sich hin. »Glänzende Maske«, flüsterte Ovel. »Den müssen wir uns für später warm halten. Er scheint etwas zu können. Vor allem ist es gut, daß er uns mit keinem Blick beachtet.«

Sie sahen, daß Mannik nach einem Tische hin Zeichen machte und die kleine blaue Schachtel andeutend hochhielt. Der Mann, dem das Zeichen galt, rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander, als wollte er sagen: Kein Geld. Mannik versuchte es nach einer anderen Richtung hin, wo eine blasse, grellweiß geschminkte Frau saß. Sie winkte ihm mit dem Kopfe. Er schlenderte mit schleifenden Bewegungen an ihren Tisch und stellte sich hinter ihren Stuhl. Dabei hatte er die blaue Schachtel in der geschlossenen Hand auf dem Rücken.

Während er noch mit der Geschminkten sprach, streckte sich vom Nebentisch eine Hand nach seinem Arm aus und hielt ihn fest. Mannik fuhr mit einem Ruck herum und wollte sich frei machen. Da wurde ihm eine blanke, runde Marke vor das Gesicht gehalten. In der nächsten Sekunde verließ er, von einem stämmigen Mann geführt, das Lokal. Das alles ging so schnell und exakt vor sich, daß die beiden Auftraggeber ihre helle Freude daran hatten.

Aber in Mingal war noch ein letztes Mißtrauen. »Bleib sitzen«, sagte er zu Ovel. »Ich gehe nach und will sehen, ob er tatsächlich abgeliefert wird oder ob das ein vereinbarter Bluff ist.«

Nach zehn Minuten kam er zurück und lächelte: »Mannik hat noch einen ordentlichen Hieb ins Genick bekommen und ist dann auf die Wache dreizehn geführt worden. Die Sache geht also ihren Gang. Und wir können uns schlafen legen.« –

In dem Distriktbüro 13 wurde Mannik unsanft in die Wachstube geschoben und auf einen Stuhl gedrückt. »So,« sagte der Beamte, »endlich einmal einen Kokshändler auf frischer Tat ertappt.«

Die anderen Beamten kamen neugierig hinzu. »Wer ist der Kerl? Wie heißen Sie?«

Mannik sah einen nach dem anderen aufmerksam an. Er gab keine Antwort und schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Wollen Sie jetzt endlich Antwort geben?« wurde er angeranzt.

Mannik schüttelte immer noch in dieser seltsamen Art den Kopf. Endlich sagte er leutselig: »Kinder, Kinder, wer hat euch eigentlich ausgebildet? Wozu habt ihr denn Augen?«

»Ist das aber ein frecher Lümmel! Wollen Sie jetzt Ihren Namen sagen!?«

»Winkelmann«, sagte der Arrestant bescheiden.

»Was für einen Beruf haben Sie?«

»Ich bin Kriminalkommissar bei der Abteilung fünf. Und das sage ich Ihnen, Schaffhausen, wenn Sie mir noch mal einen solchen Hieb ins Genick geben, dann lege ich Sie mit einigen Kunstgriffen auf die Erde, daß Sie sich für einen Pflasterstein halten.«

Er riß Halstuch, Perücke und den kleinen Schnurrbart ab und reckte sich. Ein dröhnendes Gelächter entstand in der Wachstube, an dem sich Schaffhausen nicht beteiligte. Ihm war sehr unbehaglich zumute. »Aber Sie haben sich doch so gesträubt«, sagte er entschuldigend.

»Das mußte ich, mein Lieber, weil einer der Herren mir nachging. Machen Sie sich keine Kopfschmerzen darüber. Ich trage es Ihnen nicht nach. Ich habe mir diese Rolle schließlich selbst ausgesucht und muß ihre Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen.«

»Was haben Sie denn angestellt?« wurde er gefragt.

»Amtsgeheimnis. Kann ich nicht sagen. Ist Herr Aren schon da?«

»Ja. Er sitzt seit einer Stunde in der Registratur und wartet auf Sie.«

»Schönen Dank. Guten Abend, meine Herren. Und machen Sie nächstes Mal Ihre Augen besser auf. Die Sache ist blamabel für Sie. Sie dürften sich schließlich durch eine so schlichte Verkleidung nicht täuschen lassen.«

Damit ging er zu Aren hinüber, der ihn freundlich begrüßte. »Na, alles gut gegangen?«

»Ausgezeichnet. Ich muß Ihnen nochmals bestätigen, daß Sie gute Gedanken haben.«

Aren wehrte bescheiden ab: »Was ist denn so wichtig daran? Etwa, daß ich Mingals Wohnung ermittelt habe? Oder daß ich seine Wirtin bestochen und alle Gespräche belauscht habe, die Ovel und Mingal miteinander geführt haben? Das sind doch Anfängerleistungen. Die Hauptarbeit hatten Sie. Was haben Sie erreicht?«

»Also erstens: Bob ist weder taub noch stumm. Das wußten wir längst. Dann zweitens: Ihre Vermutung bezüglich Ceylon hat eine neue Bestätigung bekommen. Bob soll sich nach seiner Freilassung sofort nach Colombo begeben und dort im Gelben Haus Unterkunft nehmen. Geld für ihn wird beim holländischen Konsul hinterlegt. Dann soll er versuchen, an die Aufzeichnungen Miquels heranzukommen, falls solche vorhanden sind. Zu diesem Zweck soll er sich in den alten Bungalow begeben. Und endlich: sie wissen nicht, wo Olly ist; genau so wenig wie wir.«

»Das ist sehr schön«, sagte Aren. »Soviel können wir also feststellen: Ceylon und Miquel gehören zusammen; ferner der Plan samt Miquel und Ceylon; endlich Ovel, Mingal und Bob auf der einen und Olly auf der anderen Seite. Wir haben jetzt ferner Colombo, das Gelbe Haus und den alten Bungalow; ferner die Andeutung von Aufzeichnungen, die Miquel drüben gemacht hat. Ich vermute – und das bestätigen Sie mir wohl –, daß es sich um ein Versteck mit wertvollen Sachen handelt, nach dem beide Parteien suchen. Das Wo und das Wie liegen allerdings noch im Schatten. Aber es gibt keinen Weg, der nur einen Anfang und kein Ende hätte. Wir müssen weitergehen. Haben Sie sonst alles vorbereitet?«

»Jawohl; und zwar glaube ich: mustergültig.«

»Recht erfreulich. Wir werden also jetzt getrennt marschieren und vereint schlagen. Halten Sie sich munter. Meine Instruktionen finden Sie in diesem Briefumschlag. Ich habe alle Situationen numeriert und die Eventualfälle mit A und B bezeichnet. Auch über die Nachrichtenübermittlung ist alles Erforderliche darin gesagt.«

»Na, denn viel Glück. Ich werde vermutlich in einer Woche wieder mit Ovel und Mingal zusammentreffen und dann sofort berichten.«

Damit trennten sie sich. – – – – – – – –

Das Inserat im Generalanzeiger, auf das Ovel und Mingal warteten, erschien zu der angegebenen Zeit nicht. Das beunruhigte sie. Sie mußten mit der Möglichkeit rechnen, daß Mannik sie falsch unterrichtet habe. Dem stand aber die Erwägung gegenüber, daß er noch kein Geld bekommen hatte und sich selber schädigte, wenn er falsch berichtete. Vielleicht hatte er aber auch, statt seinen Auftrag auszuführen, in irgendeiner Weise Olly verständigt, und sie hatte das Inserat nicht aufgegeben, weil sie auf den gewünschten Erfolg nicht mehr rechnen konnte. Immerhin vergewisserten sie sich, daß Arens Wohnung tatsächlich verschlossen und die Vorhänge heruntergelassen waren.

Dieser Teil der Voraussage stimmt somit. Wenn es richtig war, daß Olly sie mit der Anzeige fangen wollte, dann war nicht zu verstehen, warum sie nicht erschien. Sie studierten alle Zeitungen, deren sie habhaft werden konnten. Nichts war zu finden. Dagegen bekamen sie, als sie eine Woche vergeblich gewartet hatten, in einem neutralen Briefumschlag mit Poststempel aus dem Zentrum der Stadt Nachricht: Inserat erscheint nicht! Die Adresse und der Brief waren mit Schreibmaschine angefertigt.

Sie standen vor einem neuen Rätsel. Sie gingen in den Keller des Schlachthauses, um zu erfragen, ob Mannik sich wieder habe sehen lassen. Man sagte ihnen, Mannik sei von der Polizei erwischt. Das war ihnen nicht neu und damit war ihnen nicht gedient.

»Du wirst sehen,« sagte Mingal, »wir werden abreisen müssen, ohne das geringste erreicht zu haben. Der Plan ist weg; Aren ist verreist; Bob sitzt im Gefängnis; Olly meldet sich nicht; Mannik kommt nicht wieder. Alles Nieten! Es wird das beste sein, wir packen unsere Koffer und fahren nach Colombo zurück. Dieser Zettel bestärkt mich darin. Offenbar kommt er doch von Mannik und bedeutet, daß Olly ihre Ermittlungen hier ebenfalls aufgegeben hat. Vielleicht ist sie schon unterwegs nach Ceylon und hat einen Vorsprung, den wir nicht einholen können.«

»Was nützt der Vorsprung, wenn sie den Plan nicht hat? Und niemand, der sie nach dem Plan führen kann? Und warum sollte sie abreisen?«

Mingal überlegte: »Es gibt eine Möglichkeit, die mich schon seit einigen Tagen beunruhigt. Aren ist weggefahren. Warum sollte er nicht nach Ceylon gefahren sein? Und warum sollte Olly nicht davon Wind bekommen haben? Nichts natürlicher dann, als daß sie nachfährt. Dann braucht sie sich um uns nicht mehr zu kümmern.«

So berieten sie unausgesetzt hin und her und blieben im ungewissen. Diese fortgesetzten Beratungen und die Nachricht, die ihnen der anonyme Zettel überbrachte, hatten zur Folge, daß sie sich um die Zeitungen überhaupt nicht mehr kümmerten. So kam es auch, daß sie eine mittelgroße, nicht zu versteckte und nicht allzu sichtbare Anzeige übersahen, der sie sicher die größte Aufmerksamkeit geschenkt hätten, wenn sie zu ihrer Kenntnis gekommen wäre. Die Anzeige lautete:

 

Freihändiger Verkauf gegen Meistgebot!

Aus Nachlässen stammende Gegenstände (Schöer, Hamelmann, Miquel usw.) wie Haushaltssachen, Schmuckgegenstände, Bücher usw. Montag von 8 bis 12 Uhr. Mit behördlicher Genehmigung.

Trauthal, St. Martinigasse.

 

Dieser Verkauf war nicht stark besucht. Trauthal gab sich alle erdenkliche Mühe, seine Waren den wenigen Interessenten anzuhängen. Einige Stücke fanden Liebhaber, andere mußten zurückgestellt werden. Es blieben noch einige Bilder und ein Stoß Bücher übrig. Trauthal wies auf die schönen Öldrucke hin. Er wurde ausgelacht. Dann las er, wahllos durcheinander, Buchtitel vor. Aus einer Ecke sagte eine Frau, die nach Art der Händlerinnen ein Kopftuch umgeschlagen hatte: »Fünf Mark für den ganzen Schwung.«

»Kann ich nicht«, beteuerte Trauthal. »Dabei komme ich nicht auf meine Kosten. Es sind tadellose Einbände dazwischen und auch wertvolle Bücher.«

»Na, dann sieben Mark.«

»Zu wenig. Hier sind Schiller und Goethe. Und Plu … Plutarch.« (Er betonte die erste Silbe.) »Und noch eine ganze Menge ausländischer Sachen. Hier Ariost.« (Er betonte wieder die erste Silbe.) »In ganz feinem Pergament. Wer bietet mehr?«

»Zehn Mark«, sagte ein anderer Händler. Trauthal bekam Mut. »Zehn Mark sind geboten. Wer bietet mehr?«

»Zwölf«, sagte die Frau. Der Händler überbot auf fünfzehn. Die Frau wurde energisch: »Zwanzig Mark, und dann Schluß!« Aber der Händler, der Buch für Buch dicht an die kurzsichtigen Augen führte, war nicht aus dem Felde zu schlagen. Er nahm eines der Bücher heraus, hielt es Trauthal hin und sagte: »Zwanzig für dieses allein.«

Trauthal beeilte sich: »Zwanzig zum ersten, zum zweiten, zum dr...!«

Die Frau unterbrach ihn: »Halt! Das ist nicht anständig. Sie müssen Gelegenheit zum Bieten geben. Sonst ist die Sache Schiebung.«

Trauthal war empört: »Bei mir ist alles reell! Ich brauche die Sachen überhaupt nicht zu verkaufen, wenn ich nicht will.«

»Richtig«, sagte der Händler. »Ziehen Sie das Buch einfach von der Versteigerung zurück. Dann gebe ich Ihnen zwanzig Mark in bar.«

Trauthal hielt das Buch hoch und verkündete: »Ich ziehe dieses Buch hier von der Versteigerung zurück! Aus! Darf ich bitten, mein Herr?«

Er gab dem Händler das Buch und empfing dafür seine zwanzig Mark. Mit einem geringschätzigen Blick auf seine Konkurrentin entfernte sich der neue Besitzer. Er war noch nicht hundert Meter gegangen, als er eine Stimme hinter sich hörte: »He, Sie! Warten Sie mal!«

Es war die Händlerin. Er wartete und fragte: »Was wollen Sie denn? Das Buch haben?«

»Ja. Ich muß es für einen Kunden besorgen. Ich gebe Ihnen zehn Mark Nutzen. Lassen Sie es mir.«

Er schüttelte den Kopf: »Geht nicht. Ich muß es auch für einen Kunden haben. Sonst hätte ich für die Schwarte nicht zwanzig Mark geboten.«

»Sie auch für einen Kunden?« fragte die Frau. »Das ist ja merkwürdig. Vielleicht hat er den Auftrag zweimal vergeben? Wer ist denn Ihr Kunde?»

»Sie halten mich wohl für dumm, daß ich Ihnen meinen Kunden sage, was? Suchen Sie sich dümmere Leute aus.«

Sie ließ sich aber nicht abschütteln: »Lieber Mann, warum wollen wir uns eigentlich gegenseitig das Geschäft verderben? Es ist doch jeder mal auf den anderen angewiesen. Kommen Sie, wir wollen die Sache einmal in Ruhe besprechen. Das Restaurant hier an der Ecke sieht ganz nett aus. Da können wir in Ruhe eine Fleischbrühe trinken.«

»Na, meinetwegen. Aber ich verspreche nichts.«

Sie gingen in ein kleines Frühstückslokal und nahmen in der äußersten Ecke Platz, wo sich in einer Nische ein kleines Wachstuchsofa befand. Der Händler setzte sich vor den Tisch, während die Händlerin sich in das Dunkel der Nische drückte. »Sehen Sie mal …«, begann sie.

Aber er unterbrach sie: »Einen Augenblick, liebe Frau. Lassen Sie mich erstmal was sagen. Man muß wissen, mit wem man zu tun hat, nicht wahr? Ich hab' Sie noch nie auf einer Auktion gesehen. Wo ich doch immer da bin. Wer sind Sie denn überhaupt?«

»Ich bin Frau Kleinbauer aus der Klosterstraße.«

Der Händler dachte angestrengt nach: »Frau Kleinbauer? Kenn' ich nicht. Und dabei kenne ich doch sonst alle Kollegen. Sagen Sie mal, heißen Sie Olly mit Vornamen?«

»Nein. Katharine.«, sagte die Frau mit zusammengepreßten Lippen.

Der Händler machte eine abwehrende Geste: »Aber beste Olly, das ist ja nicht wahr!«

Die Frau stieß einen dumpfen Laut aus. Ihre erste Bewegung war, zu fliehen. Aber der Händler hatte den Tisch fest gegen das Sofa gedrückt: »So einfach geht das nicht, Olly. Sie haben mich hierher eingeladen, und nun dürfen Sie mir auch nicht davonlaufen.«

»Wer sind Sie?« fragte Olly. »Woher kennen Sie mich?«

»Ich kenne Sie gar nicht. Ehrenwort. Ich sehe Sie heute zum ersten Male. Ich habe eine Menge Geld daranwenden müssen, um diese Bekanntschaft zustande zu bringen. Trauthal hat diesen ganzen Verkauf überhaupt nur in meinem Auftrag vorgenommen, weil ich hoffen durfte, daß der Name Miquel seine Wirkung auf Sie nicht verfehlen würde. Denn ich brauche Ihre Bekanntschaft dringend.«

Olly saß zurückgesunken da. Das einfarbige Kopftuch entglitt ihr. Darunter wurden rabenschwarzes Haar und eine helle, hohe Stirn sichtbar. Sie war nicht mehr eigentlich jung; aber niemand hätte ihr die Attribute der Schönheit absprechen können, besonders in diesem Augenblick, wo sie alle Sinne und Energien zusammenraffte, um der Situation nicht zu unterliegen.

»Sie sind Aren?« fragte sie leise.

»Ich versichere Sie, daß ich es nicht bin. Aber es hat wenig Zweck, daß Sie sich darum kümmern, wer ich bin. Ich werde es Ihnen doch nicht sagen. Ich bin ehrlich, nicht wahr?«

»Sie werden nicht ohne Grund ehrlich sein«, sagte sie erbittert.

»Ganz recht, gnädige Frau. Ich habe mein Ziel vollkommen erreicht, und das bestand darin, Sie einmal zu sehen. Weiter kann ich nichts tun und weiter werde ich nichts tun. Ich habe keine Machtmittel, mehr zu tun.«

Olly gewann ihre Selbstbeherrschung wieder. »Also kann ich gehen, mein Herr?«

»Gewiß, gnädige Frau. Ich halte Sie keinen Augenblick. Ich würde es vielleicht tun, wenn ich es könnte. Aber ich tue es nicht. Es hat nicht einmal Zweck, daß ich Sie der Polizei denunziere, denn Sie haben ja noch nichts getan. Sie wollen doch erst etwas tun.«

Olly hatte eine böse Falte auf der Stirn. Dann sagte sie tastend: »Sie scheinen recht gut unterrichtet zu sein. Versprechen Sie sich etwas von einer längeren Unterhaltung?«

»Nicht das mindeste. Das Buch hingegen will ich Ihnen gerne schenken. Es ist mir ein Vergnügen, Sie für den ausgestandenen Schrecken zu entschädigen. Leider dürfte der Inhalt des Buches Ihre Erwartungen arg enttäuschen, denn es sind tatsächlich nur die ›Satyren des Ariost‹ darin.«

Olly lächelte: »Ich nehme trotzdem das Angebot gerne an. Verbindlichen Dank. Für jeden Menschen kann ein Buch verschiedenen Wert haben. Jeder entnimmt daraus das, was er für wichtig hält.«

»Ganz recht. Der eine nimmt die Satiren heraus, der andere … sagen wir mal: die Satire der Sache an sich. Ja, es gibt sogar Leute, die mit dem Pappdeckel des Einbands zufrieden sind.«

Jetzt knirschte Olly vor Wut: »Ich will gehen.« Aber als sie sah, daß er willig den Tisch zur Seite rückte und sich erhob, winkte sie ab: »Bleiben Sie sitzen. Ich bin Ihnen noch eine Fleischbrühe schuldig … und die zwanzig Mark, die Sie für mich verauslagt haben. Also der Plan ist nicht mehr darin?«

»Nein. In diesem Buch ist er auch nie gewesen. Es ist ein Duplikat, daß ich irgendwo aufgetrieben habe. Das Buch, in dem der Plan war, ist in andere Hände übergegangen.«

»Und der Plan selbst?«

»Den hat der Detektiv Aren.«

»Wo ist Aren?« fragte sie.

»Auf Reisen. Erschrecken Sie nicht. Sie dürfen eben nicht vergessen, daß Sie um gut drei Wochen zu spät gekommen sind … Was haben Sie davon, daß Sie die ganze Zeit hindurch das Gelbe Haus bewacht haben?«

»Mann, Sie sind unheimlich! Was wissen Sie alles?«

»Dies wußte ich nicht. Ich habe es auf gut Glück gesagt. Ich konnte mir sonst nicht denken, warum Sie drüben so lange getrödelt haben, wo doch hier so vieles auf dem Spiele stand. Aber im übrigen kenne ich Ovel, Mingal, Bob, das Gelbe Haus in Colombo, den alten Bungalow und noch vieles andere. Auch den Adampik kenne ich …«

Sie legte ihm die Hand auf den Arm: »Genug. Lassen Sie mich einen Augenblick nachdenken.«

Er schwieg, während sie, im Dunkel der Nische verborgen, ihren Gedanken nachging. Endlich fragte sie leise: »Was bezwecken Sie eigentlich mit dieser ganzen Geschichte? Wollen Sie Geld von mir haben? Wollen Sie einen Anteil an der Beute haben, oder was?«

»Ich habe schon gesagt, was ich wollte: wissen, wie Sie aussehen. Das weiß ich jetzt … und das genügt mir. Schade, daß Sie so unvorteilhaft angezogen sind. Ich spotte nicht. Ich meine es ganz aufrichtig.«

»Wollen Sie mir einige Fragen beantworten, mein Herr? Vorausgesetzt, daß Sie können und dürfen. Sind Ovel, Mingal und Bob hier?«

»Jawohl, aber an getrennten Orten. Ich war mit allen dreien zusammen. Mit zweien von ihnen werde ich mich heute abend wieder treffen. Ich werde Ihnen aber nicht verraten, wo. Um Sie zu beruhigen, füge ich hinzu: ich werde den beiden auch nicht verraten, daß ich Sie gesehen habe.«

»Sie treiben also ein Doppelspiel?« fragte sie hämisch.

»Jawohl. Es tut mir leid, daß ich Sie mit dieser Antwort enttäuschen muß. Ich bin bereit, auf diese Enttäuschung ein Pflaster zu legen und Ihnen zu raten: reisen Sie noch heute nacht ab in Richtung Colombo.«

»Würden Sie mir die Gründe für diesen guten Rat erklären?«

»Nein. Das ist unmöglich … das heißt,« verbesserte er sich, »unmöglich ist es nicht. Ich müßte, wenn ich es täte, einen Gegendienst verlangen.«

»Wieviel?« fragte sie.

»Dieses Wieviel ist eine verletzende Frage. Ich sagte Ihnen schon, daß ich kein Geld von Ihnen haben will. Als Entgelt möchte ich von Ihnen wissen, wer die wirklichen Erben des Herrn Miquel sind. Unter wirklichen Erben verstehe ich nicht diejenigen, die sich wirklich an seine Erbschaft heranmachen, sondern diejenigen, die nach dem Gesetz als Erben berufen sind.«

»Ich werde sie Ihnen nicht sagen«, antwortete Olly.

»Gut. Wie sie wollen. Ich dränge Sie nicht. Ich gebe nur eines zu überlegen: Sie verscherzen sich unter Umständen das Wohlwollen der Erben, die Ihnen sicher einen Finderlohn geben würden. Wenn die Erben nicht ermittelt werden, dann fällt alles, was da auf dem Adampik liegt, als herrenloses Gut dem Staate zu. Und eben dieses Finden werden weder Sie noch Ovel noch Mingal fertig bekommen. Sie können es nach Belieben glauben oder nicht. Jedenfalls sitzen Sie hier vergebens und werfen Ihr gutes Geld weg, ohne Vorteil davon zu haben. Vorteil können Sie nur haben, wenn Sie abreisen … oder wenn Sie mir die Namen der Erben angeben.«

Olly überlegte. Dann sagte sie lächelnd: »Ich schäme mich nicht, Ihren guten Rat anzunehmen. Dazu bin ich moralisch berechtigt. Ich muß einen Ausgleich für den Schrecken haben, den Sie mir eingejagt haben. Aber die Erben nenne ich Ihnen nicht. Sie können mich auch nicht dazu zwingen.«

»Das kann ich nicht. Aber es ist und bleibt ein Verlust für Sie.«

»Bedauerlich. Man muß sehen, wo die größere Chance liegt. Werden wir uns in Colombo treffen?«

»Leider nicht, soviel Freude ich auch an Ihrer Bekanntschaft habe. Aber nun habe ich Sie lange genug aufgehalten, gnädige Frau. Darf ich mich verabschieden?«

»Ich möchte, daß wir zusammen gehen. Ich liebe es nicht, verfolgt zu werden.«

»Wie Sie wünschen.« Sie gingen zusammen fort und die Straße entlang. Unterwegs fragte sie lächelnd: »Wenn ich nun nicht abreise?«

Er zuckte die Achseln: »Dann würde sich höchstens eines Tages die Fremdenpolizei um Sie kümmern, unter dem Gesichtspunkt: unerwünschte Ausländerin. Aber darüber kann ich keine Einzelheiten angeben.«

Sie reichte ihm die Hand: »Also ich fahre. Vielen Dank für das Buch und … als Beweis dafür, daß Sie mich nicht verfolgen, nehmen Sie hier ein Auto und fahren Sie in der Richtung zum Bahnhof die Straße hinunter, während ich mir ein anderes Auto nehme und in die entgegengesetzte Richtung fahre.«

»Gern. Sie sollen sich in mir nicht täuschen.« Er winkte einem Wagen und fuhr zum Bahnhof. Als Winkelmann dort ausstieg, lachte er vor sich hin und sagte: »Du dumme Gans! Glaubst du denn, daß ich allein hinter dir her war? In zehn Minuten weiß ich deine Wohnung.«

Er schlenderte etwas auf dem Bahnhofsplatz auf und ab, dann ging er an den Fernsprechautomaten und rief das Polizeipräsidium an. Seine Helfer waren schon zurück. Einer meldete: »Sie wohnt Pension Aurora, Sternstraße.«

Dann macht sich Winkelmann noch ein privates Vergnügen. Er rief bei der Pension Aurora an und verlangte Frau Olly zu sprechen. Die Besitzerin kannte unter ihren Pensionären einen solchen Namen nicht. »Tut nichts«, sagte Winkelmann. »Fragen Sie nur bei Ihren Gästen nach einer Frau Olly. Es wird sich schon eine Dame melden.«

In der Tat meldete sich nach einer halben Minute eine Frauenstimme: »Wer ist da?«

»Ich bins«, sagte Winkelmann freundlich. »Ich wollte nur Bescheid sagen, daß der bequemste Zug heute gegen Mitternacht fährt. Ich wünsche angenehme Reise.«

Von drüben hörte er undeutliche Laute des Erschreckens, sodann, fast kreischend: »Ich fahre nicht!«

Da sagte er betont und ernst: »Es ist besser, daß Sie reisen. Freiwillig ist es immer angenehmer als gezwungen. Also werden Sie reisen?«

»Ja …«

Dann hängte Winkelmann ab und war sehr zufrieden. – – –

Am gleichen Abend saß Mannik im Keller des Schlachthauses. Sein Anzug war etwas zerknüllt und unordentlich; seine Miene verdüstert und unzufrieden. Nach einer Weile erschienen seine beiden Auftraggeber. Mit sichtlicher Erregung kamen sie an seinen Tisch. »Na?« flüsterte Mingal. »Auftrag ausgeführt?«

»War nicht möglich«, antwortete er.

»Stümper!« schimpfte Mingal. »Die technischen Schwierigkeiten waren wohl zu groß?«

»Das nicht. Aber … Bob ist nicht mehr im Untersuchungsgefängnis. Er ist in das Krankenhaus geführt worden. Von dort ist er … entflohen!«

Ovel fluchte wild. »Wann war das?«

»Vor genau acht Tagen, soweit ich habe feststellen können.«

»Dann müssen wir ihn suchen; koste es, was es wolle. Haben Sie eine Ahnung, wie er es angestellt hat?«

»Jawohl. Er hatte einen Helfer.«

Die beiden wechselten einen Blick; und dieser Blick sagte: Olly ist uns zuvorgekommen!

»Und dieser Helfer ist ein anderer Untersuchungsgefangener namens Sommer. Wenigstens wird das vermutet, weil beide in derselben Zelle waren und Bob kurz nach der Trennung den Kranken spielte, um in das Krankenhaus zu kommen.«

»Er war also nicht wirklich krank?«

»Ist nicht anzunehmen. Ich habe mir sagen lassen, er hätte seinen Wärter, einen baumstarken Kerl, überwältigt.«

Betretenes Schweigen. Dann sagte Mingal: »Herr Mannik, würden Sie uns einen Augenblick allein lassen und draußen auf uns warten? Wir sind in zehn Minuten bei Ihnen.«

Mannik ging, ohne sich zu sträuben. Mingal schlug mit der Hand auf den Tisch: »Wenn Bob seit acht Tagen frei ist und nicht mit uns zusammengetroffen ist, dann ist er nicht mehr hier!«

»Leider kaum zu bezweifeln. Leider ist sogar zu vermuten, daß er auf der Fahrt nach Colombo ist.«

»Die nächste Vermutung ist, daß er nicht zum Vergnügen und nicht mit leeren Taschen gefahren ist.«

»Selbstverständlich nicht. Er hat Geld, und das hat er nicht von uns. Und wenn er Geld hat …«

»So hat er oder Sommer den Plan. Und wir sind verraten und verkauft!«

»Gar nicht zu bezweifeln. Also?«

»Er hat einen Vorsprung von acht Tagen. Bedenke das!«

»Acht Tage sind in Europa viel, aber nicht Ceylon. Wir müssen ihm umgehend folgen. Heute noch, in dieser Nacht.«

»Einverstanden. Unsere Sachen stehen ja fertig. Aber ich hätte Neigung, diesen Mannik mitzunehmen. Er scheint couragiert und durchtrieben zu sein.«

»Wir wollen es ihm vorschlagen. Komm!«

Aber sie hörten seine Stimme und sahen, daß er in einem offenen Auto saß. »Was ist denn das?« fragte Mingal. »Sind Sie ein reicher Mann geworden?«

»Nein, aber ich habe eine eilige Bestellung. Wir können uns ja morgen wieder treffen.«

Mingal lehnte sich gegen den Wagen und sagte eindringlich: »Das geht nicht. Wir reisen heute nacht ab. Wir wollten Ihnen den Vorschlag machen, mit uns zu kommen. Alle Spesen gehen natürlich zu unseren Lasten.«

»Mitkommen? Für längere Zeit?«

»Für mindestens vier Monate. Wir können Sie gebrauchen. Wenn Sie wünschen, geben wir Ihnen im voraus eine Summe Geldes.«

»Alles sehr schön und gut, meine Herrschaften; aber vier Monate lang kann ich nicht fortbleiben. So lange bekomme ich keinen Urlaub.«

»Was heißt das: Urlaub? Sie sind doch ein freier Mann.«

»Nicht ganz«, kam die lachende Antwort. »Ich bin Kriminalkommissar bei der Abteilung fünf.«

Der Wagen fuhr mit einem Ruck an und verschwand knatternd und fauchend in der Dunkelheit.

Eine Viertelstunde später fuhren Mingal und Ovel zum Flugplatz. – – –


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