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Kurz vor acht Uhr klingelte bei dem Geheimrat Ismael am Bülowplatz schon der erste Patient. Er wünschte dringend, als erster vorgelassen zu werden. Das Hausmädchen führte ihn in das Wartezimmer und beschied ihn nach einer Weile, er müsse noch eine Viertelstunde warten. Der Patient dankte und griff zu der Lektüre auf dem Tische. Nach der angegebenen Zeit öffnete der Geheimrat die Tür zum Sprechzimmer: »Bitte, kommen Sie hier herein.«
Der Patient war ein elegant gekleideter Mann von etwa dreißig Jahren. Er hatte etwas Südliches in seinem Typ, etwas Unschuldiges und Verderbtes zugleich. Er erhob sich mühsam mit Hilfe eines Stockes, biß die Zähne zusammen und näherte sich stark hinkend.
»Nanu?« fragte der Geheimrat. »Verletzung?«
Der Patient lächelte schmerzlich: »Jawohl, Herr Geheimrat. – Danke, es geht schon.«
»Was ist Ihnen denn passiert? Kommen Sie hier auf den Liegestuhl. Warten Sie, ich helfe Ihnen.«
»Vielen Dank. Herr Geheimrat, ich muß vorweg bemerken, daß ich auf Ihre Diskretion angewiesen bin. Ich habe einen Schuß in das linke Bein bekommen, und zwar bei der Ausübung einer strafbaren Handlung.«
Ismael wich unwillkürlich vor dieser tollkühnen Selbstbezichtigung zurück. Er sagte zögernd: »Ich stehe unter meiner Verschwiegenheitspflicht als Arzt …«
»Das weiß ich,« sagte der Mann, »und damit rechne ich. Damit muß ich rechnen, weil ich diese Stadt vorläufig nicht verlassen kann. Ich will Ihnen auch klar sagen, um was es sich handelt, damit Sie mich nicht für einen gemeinen Verbrecher halten. Nein, wehren Sie nicht ab. Ich bin in die Wohnung eines Mannes eingedrungen, der kompromittierende Briefe einer Frau besaß, und dieser Frau bin ich verpflichtet. Offenbar war aber der Mann auf mein Kommen vorbereitet, denn er hatte einen Selbstschuß gelegt. Ich bitte Sie, mich schnellstens zu kurieren … weil ich den Einbruch wiederholen muß.«
»Alle Achtung vor Ihrem Mut; aber ich bin zu sehr Arzt, um an solcher Mitwisserschaft interessiert zu sein.«
Er machte sich energisch daran, dem Patienten das Beinkleid abzustreifen und den Verband zu öffnen.
»Gott sei Dank, kein schmutziges Taschentuch,« sagte er, »sondern Jodoformgaze. Ausschußöffnung ist nicht vorhanden. Dann muß ich Sie sofort unter den Röntgenapparat bringen. Bleiben Sie ruhig liegen. Ich rolle den Stuhl hinüber.«
Die Röntgenaufnahme wurde gemacht. Bis die Platte entwickelt war, saß der Patient, brennend vor Ungeduld, in einem kleinen Laboratorium. Das Fenster ging auf die Straße hinaus. Er öffnete es, weil ihn die Luft im Zimmer bedrückte. Da sah er durch den schmalen Spalt, daß auf der anderen Straße ein Mann stand, der das Haus sorgfältig beobachtete. Er lächelte verächtlich und schloß das Fenster wieder.
Die Röntgenplatte bestätigte, was der Arzt sich gedacht hatte: ein Geschoß von geringem Kaliber saß im Fleisch. Es hatte einen schräg nach oben verlaufenden, geraden Kanal geschlagen. Es genügte die vorsichtige Handhabung einer Sonde, um es mühelos zu entfernen.
Der Patient lag ruhig und beherrscht auf dem Operationstisch. »Eigentlich möchte ich Ihnen eine kleine Narkose geben«, sagte der Geheimrat. Aber der Kranke weigerte sich energisch. »Geht es nicht mit einer örtlichen Betäubung? Ich hasse diese anderen Mittel.«
»Na, dann versuchen wir es mit Chloräthyl. Viel hilft es nicht, aber der Schmerz wird nur kurz sein.«
Noch während er sich den Anschein gab, mit den Vorbereitungen beschäftigt zu sein, fuhr er plötzlich mit der Sonde in den Wundkanal, zog zurück und hatte ein kleines Stahlgeschoß entfernt, gerade, als der unvermutete Schmerz dem Patienten zum Bewußtsein kam und er alle seine Kräfte zusammenriß.
»Nicht anspannen«, sagte Ismael. »Es ist schon alles in Ordnung. Hier ist das Ding. Die Sache ist ausnahmsweise glatt gegangen … ich meine die Verletzung.«
»Ja«, lachte der Patient und wischte sich einige Schweißperlen von der Stirn. »Dieses Mal ist es noch gut abgelaufen.«
»Schwester Henriette«, rief der Geheimrat in das Nebenzimmer. »Bitte, helfen Sie mir eben mit dem Verband.«
Die Schwester erschien, nickte stumm und half. Wahrend Ismael zu einem Instrumentenschrank ging, beugte sie sich plötzlich über den Verletzten und fragte mit hastigem, fast drohenden Flüstern: »Wo ist der Plan?«
Der Mann riß die Augen auf, als sei ein Gespenst vor ihm aufgetaucht. Seine Finger krampften sich um das Gestänge des Tisches. Er hatte den Mund halb offen und hätte fast einen Schrei ausgestoßen, wenn die Schwester nicht mit einer kurzen, warnenden Bewegung den Finger an den Mund gelegt hätte. Sie sah ihn unaufhörlich durchdringend an. Aber er konnte sie nicht erkennen. Sie stand gegen das Licht und hatte ihre weiße Haube tief in die Stirn gezogen. Darunter konnte er nur einen schmalen Streifen tiefschwarzer Haare sehen. Die Züge schienen glatt und ebenmäßig; aber es war alles im Halb dämmern. Nur um den Mund glaubte er eine Falte von verbissener Energie zu erkennen. Eine böse Ahnung durchzuckte ihn. »Olly?« fragte er flüsternd.
Sie wandte sich mit einem Ruck ab, als habe sie Furcht, sich zu verraten. Mit leichten, schwebenden Schritten ging sie durch den Raum. Ihre Bewegungen waren so geschmeidig und beherrscht, daß er in seiner schreckhaften Ahnung bestärkt wurde, dieses sei nicht einfach nur eine Schwester, sondern eine Frau … die er überall zu finden geglaubt hätte, nur nicht hier. Wie leicht war es möglich, daß sie gehört hatte, was er dem Professor als Ursache seiner Verletzung angegeben hatte! Sie würde unschwer ihre Folgerungen daraus ziehen können. Vor Aufregung stöhnte er leise. Der Geheimrat sah auf: »Na, tut es weh?«
»Entschuldigen Sie, es ist nur ein kleines Zucken. Ich spüre nur ein ganz wenig Wundschmerz. Sonst nichts.«
»Den werden Sie auch wohl in den nächsten vierzehn Tagen noch spüren. Nun machen Sie vorläufig keine großen Experimente mit ihrem Bein. Legen Sie sich einige Tage ruhig hin. Wenn Sie wollen, können Sie wieder zum Verbinden hierherkommen. Es kann aber auch ein anderer Arzt tun. Ich sage Ihnen das ganz ehrlich mit Rücksicht auf meine sehr belastete Zeit.«
»Das ist Ihnen nicht zu verdenken, Herr Geheimrat. Darf ich Sie dann bitten, gleich zu liquidieren?«
Der Geheimrat nannte eine Summe, die nicht gerade gering war. Aber der Patient zahlte, ohne eine Miene zu verziehen. Er ließ zum ersten Male etwas von Unbehagen verspüren, als der Geheimrat sagte: »Ich bitte noch um Angabe Ihres Namens und Ihrer Wohnung. Ich bin als Arzt verpflichtet, Journal zu führen.« Und als er die verstörte Miene des anderen sah: »Das beeinträchtigt meine Verschwiegenheitspflicht als Arzt nicht.«
»Henry Alming«, sagte der Patient. »Dorotheenstraße 17.«
»Notieren Sie es, Schwester Henriette. Wünschen Sie Begleitung nach Hause, Herr Alming?«
»Danke, nein. Ich fühle schon wieder, daß ich mich auf meine Beine verlassen kann.«
Während die Schwester ihm beim Verlassen des Operationstisches half, immer mit tief gesenktem Kopf, flüsterte sie ihm auch noch einmal zu: »Hüte dich, wenn ich dich draußen treffe!«
Für eine Weile war er wieder nahe dran, die Beherrschung zu verlieren. Diese Drohung war deutlich. Aber die ganzen Umstände blieben verworren und erschreckend. »Olly?« fragte er noch einmal leise.
Sie gab mit keinem Zeichen eine Antwort. Sie geleitete ihn, halb hinter ihm gehend, bis zum Eingang des Wartezimmers. Da der Geheimrat in der Nähe war, sagte er: »Vielen Dank, Schwester. Bemühen Sie sich nicht weiter. Ich nehme mir unten einen Wagen.«
Da er starke Schmerzen beim Gehen verspürte, winkte er das erste Auto herbei, das über den Platz rollte. »Rolandstraße 9«, sagte er. –
Gegen elf Uhr vormittags lag Aren, mit einem dicken Wollschal um den Hals, auf seiner Chaiselongue und schmökerte planlos. Er sah recht elend und angestrengt aus. Eine große Flasche mit Emser Wasser stand neben ihm auf dem Rauchtisch. Er sah ungeduldig auf die Uhr, als wartete er auf etwas oder jemand. Er fluchte leise vor sich hin: »Ich hab doch kein Stroh im Kopf. Ich kann doch noch denken. Es gibt doch wohl noch Aufregungen in der Welt!« – Das Telephon rief. Er meldete sich, horchte aufmerksam und notierte: Rolandstraße 9.
Aber das war nicht das Ereignis, auf das er wartete. Diese Ermittlung der Adresse war keine große Leistung.
Seine Geduld wurde aber noch auf eine harte Probe gestellt. Dann hörte er endlich die Haustür gehen. Es kamen Schritte die Treppe hinauf. Es wurde gegen seine Zimmertür geklopft.
»Herein«, krächzte er und stand auf.
In der Tür erschien Ovelmann und sah ihn erstaunt und etwas zweifelnd an. Aber Aren war ganz unbefangen. Er sprach mit kräftiger, röchelnder Stimme: »Guten Morgen, Herr Ovelmann. Der Teufel soll Sie holen.«
Der andere stand immer noch in der Tür, von Mißtrauen und Unsicherheit gefoltert. »Warum denn?« fragte er verblüfft.
Aren wies auf seinen dick umwickelten Hals: »Das habe ich von dem Rotwein und dem Kaffee und dem Schnaps. Aber Ihnen fehlt nichts; und das gönne ich Ihnen nicht.«
»Das tut mir aufrichtig leid, lieber Herr Aren. Sie sehen tatsächlich elend aus.«
»Na, es wird vorübergehen. Womit kann ich Ihnen im Übrigen dienen, Herr Direktor? Aber so setzen Sie sich doch.«
»Danke, danke«, stotterte Ovelmann. »Ich wollte … es ist mehr, verstehen Sie, eine Art Neugierde. Als ich heute früh zur Fabrik hinausfuhr, sah ich aus purem Zufall, daß eine Krankenschwester zu Ihnen ins Haus ging. Da dachte ich mir: Was ist denn bei Aren los? Ich wollte eigentlich aussteigen, aber ich hatte keine Zeit, weil ich um zehn Uhr eine Besprechung in der Stadt hatte. Und wie ich zum zweiten Male hier vorbeikomme, sehe ich doch, weiß Gott, wieder dieselbe … wieder eine Krankenschwester herauskommen. Da sagte ich mir: sofort nach der Konferenz gehst du hin und siehst nach, was da los ist.«
»Das ist reizend von Ihnen. Was für eine glänzende Beobachtungsgabe Sie haben! Aber Sie haben richtig beobachtet. Es war die alte Polizeischwester Grete. Wir beide lieben uns unglücklich. Ehe sie in Dienst ging, habe ich sie angerufen, weil ich Halsschmerzen hatte.«
»Das ist doch kein Grund, eine Krankenschwester anzurufen, Sie Held!«
»Sie bemuttert mich,« sagte Aren verschämt, »und ist beleidigt, wenn ich ihr nicht jede Kleinigkeit melde. Sogar Emser Kränchen hat sie mir besorgt. Unter uns gesagt: Château Lafitte ist mir lieber.«
»Glaub ich Ihnen aufs Wort. So, nun entschuldigen Sie die Störung. Ich muß weiter. Gute Besserung. Seien Sie nächstes Mal solider.»
»Das ist Sache des Schicksals«, sagte Aren trocken und verabschiedete seinen Besucher.
Als er allein war, wickelte er sich den langen, warmen Schal vom Halse und lachte: »Solch ein Stümper! Solch ein plumper Bursche!« Dann nahm er aus der Flasche mit Emser Kränchen einen tüchtigen Schluck … Kognak. »So«, sagte er befriedigt. »Das wäre das Vorspiel. Jetzt kann der erste Akt mit seinen eigentlichen Verwicklungen beginnen.«
Er rief Winkelmann an: »Lieber Winkelmann, bis jetzt ist alles programmgemäß und … ohne Ergebnis verlaufen. Aber gegen Abend muß ich Sie doch noch mal sprechen. Ich habe leider Stubenarrest. Also bei mir? Schön.«
Während dieses Arrestes, den er sich im Interesse der Sache auferlegt hatte, war Aren keineswegs müßig. Er fertigte eine ganze Reihe von Zeichnungen an, die er immer wieder vernichtete. Er schrieb sich dann eine Reihe von Gedanken auf, und zwar jeden auf einen besonderen Zettel. Diese Zettel breitete er auf dem Tische aus und schob sie wie Figuren auf einem Schachbrett durcheinander.
»Bis jetzt«, seufzte er, »ist die Eröffnung beiderseits recht kläglich. Ich könnte ihm ja den einen Bauern schlagen, aber ich weiß nicht, was damit gewonnen ist. Ach was, man muß es einfach riskieren. Entweder er reagiert nicht, dann ist er jedenfalls um einen Bauern ärmer; oder er geht zur Offensive über, und dann ist wenigstens sein Angriffsplan zu übersehen. Also wagen wir es.«
Er verbrannte die Zettel, nahm zur Stärkung wieder einen Schluck Emser Kränchen und bereitete sich dann sein Abendbrot. Er hatte kaum abgeräumt und alles für die Aufwartefrau in die Küche getragen, als Winkelmann erschien.
»Na, kommt jetzt etwas mehr?« fragte er begierig.
»Es kommt bestimmt etwas; aber ich weiß noch nicht, ob es wichtig ist.«
Nun erteilte er Winkelmann wieder einen Auftrag, den dieser mit allen Zeichen des Unglaubens und Widerstrebens entgegennahm. Aber als Aren ihm eine Wette anbot, daß dieser Auftrag das gewünschte Ergebnis haben würde, wich er zurück: »Nein, das riskiere ich doch nicht. Sie bleiben also zu Hause, bis ich komme oder anrufe?«
»Abgemacht. Ich werde auch diese Nacht nicht ins Bett kommen und mit der Chaiselongue vorliebnehmen müssen.«
»Na,« brummte der Kommissar, »wenn Sie recht haben, bekomme ich auch keine Ruhe. Also kein Grund, Mitleid mit Ihnen zu haben.« – –
Gegen ein Uhr nachts schnarrte das Türsignal. Aren fuhr aus dem Schlaf und machte Licht. Winkelmann kam und brachte den kleinen Buchbinder Jäger mit. Der war äußerst aufgeregt und fiel gleich mit einem Schwall von Worten über den Detektiv her: »Nee, wissen Sie, lieber Mann, ich hab' mir die Sache doch anders vorgestellt. Ich kann jetzt noch nicht richtig wieder Atem holen. Das mach' ich nie wieder mit. Um keinen Preis.«
»Nun ist es doch vorüber, lieber Herr Jäger. Ich kann Ihnen versichern, daß Sie von jetzt an Ruhe haben werden. Sie sehen aber, daß die Sache auch dann aufregend ist, wenn die Beteiligten äußerlich sehr ruhig erscheinen. Ich habe Ihnen aber gestern versprochen, daß ich Ihnen erzählen wollte, was aus der Geschichte geworden sei. Dieses Versprechen will ich jetzt einlösen, soweit das im Augenblick möglich ist. Auch unser lieber Freund Winkelmann weiß noch nicht alles, während er Dinge kennt, von denen ich noch nicht weiß. Also lassen Sie mich den ersten Teil des Dorfspiels referieren. Späterhin, vielleicht erst nach langen Wochen oder gar nach einigen Monaten, werde ich weiter berichten können:
Gestern nachmittag saß ich friedlich hier in meinem Zimmer und schmökerte in einem Buche, den ›Satyren des Ariost‹. Ich habe es in einem kleinen Trödelladen der St.-Martini-Gasse entdeckt. Das Buch stammt angeblich aus einem Nachlaß. Als ich so mitten in der Lektüre bin, klingelt das Telephon, und es meldet sich der Direktor Ovelmann von den Zeinithwerken. Er bittet mich um eine Zusammenkunft, um Kontrollmaßnahmen zu besprechen, die er in seiner Fabrik treffen wollte. Als Zeit dafür war neun Uhr abends im Savoy vereinbart. Ich fragte so ganz nebenher, ohne mir eigentlich etwas dabei zu denken, ob noch mehr Herren kommen würden. Da stotterte Ovelmann einen Augenblick und sagte, er wüßte es nicht. Ich gebe Ihnen zu, daß ich darauf erst nachträglich aufmerksam wurde, als ich anfing, über das Gespräch nachzudenken.«
Winkelmann unterbrach: »Was für einen Anlaß zum Nachdenken hatten sie denn?«
Aren wies auf seinen Wandspruch: »Eigentlich nur den da; und dann den Ärger über die Störung; und zuletzt wohl der Instinkt, der jedem im Blute liegt und von dem die wenigsten Gebrauch machen. In meiner Verärgerung und Zerstreutheit rufe ich bei den Zeinithwerken an und lasse mich mit Direktor Ovelmann verbinden. Ich habe nicht mit ihm gesprochen, sondern nur einige Worte von ihm gehört. Aber die genügten mir, um festzustellen, daß das unter keinen Umständen die Stimme war, die ich vorher am Telephon gehört hatte. Die erste Stimme war breit, schwer und dunkel. Diese Stimme war scharf, hell, fast etwas grell. Eine Verwechslung war ganz unmöglich. Darum wurde mein Mißtrauen so heftig, daß ich nicht umhin konnte, nach Möglichkeiten zu suchen, die hier etwas unklar erscheinen ließen.
Und das war gar nicht so schwer, wie es scheinen möchte. Stellen Sie sich vor, meine Herren: in einem gut geleiteten Werk, das kostbares Material verarbeitet, kommen Unregelmäßigkeiten vor. Der Direktor sagt mir, sie kämen trotz strengster Kontrolle vor. Der Detektiv soll also helfen, hier Aufklärung zu schaffen. Was tut man unter solchen Umständen? Man geht in die Fabrik und sieht sich zunächst mal die ganze Sache an: die Arbeitsstellen, die Ankleide- und Untersuchungsräume, die Eingänge und Ausgänge, die Möglichkeiten, etwas zu verstecken und so fort. Und wenn das alles geschehen ist, dann setzt man sich mit den Direktoren zusammen und läßt sich die augenblicklichen Kontrollmaßnahmen erklären.
Aber nichts von dem geschah. Man bestellt mich für abends neun Uhr in ein feudales Restaurant, also an einen denkbar ungeeigneten Ort, um solche Dinge zu bereden. Man weiß noch nicht einmal, ob die anderen Direktoren, die doch schließlich dasselbe Interesse haben sollten wie Herr Ovelmann, auch dorthin kommen werden. Nimmt man hinzu, daß schon nach meinem Anruf in den Zeinithwerken feststand, daß Ovelmann eins ein ganz anderes Organ hatte als Ovelmann zwei, so ist der Schluß von selbst gegeben, nicht wahr?«
»Der Schluß meines Verstandes ist nur gegeben«, meinte der kleine Jäger. »Sonst aber gar nichts.«
»Seien Sie nicht zu bescheiden«, sagte Aren. »In jedem Menschen steckt die Fähigkeit zu einem Detektiv, wenn er sie nur entwickeln will, das heißt, wenn er Gehirn und Phantasie hat. Überlegen Sie doch: es bittet mich jemand für eine späte Abendstunde in ein feudales Restaurant im Zentrum der Stadt. Nach dem, was ich Ihnen gesagt habe, ist nicht wahrscheinlich, daß er mir ernsthaft etwas über die Zeinithwerke erzählen will. Er kann gewiß davon erzählen und allerhand Märchen vorbringen; aber im Grunde liegt ihm an meiner Meinung und Beratung nichts, denn er hat ja nichts mit dem Werk zu tun. Das Restaurant ist auch nicht der geeignete Ort, um mich totzuschlagen. Also was kann er wollen?«
»Sie aus Ihrer Wohnung locken!« rief Jäger.
»Sehr richtig. Ihm liegt daran, daß ich an diesem Abend für einige Stunden nicht zu Hause bin. Ich sagte schon: auf mich selbst kann man es nicht abgesehen haben. Kommt also nur meine Wohnung in Betracht. Man will die Möglichkeit haben, sich hier etwas umzusehen. Weitere Frage: Was gibt es bei mir an wichtigen Dingen zu sehen? Ich will nicht sagen, daß ich ärmlich lebe; aber ich lebe einfach. An den paar Sachen, die hier liegen und stehen, kann wirklich keinem Menschen gelegen sein. Was zum Teufel wollte man hier finden? Ich ging jedes Stück einzeln durch, jeden Gegenstand, sogar jedes Buch. Es blieb ganz zuletzt nur der Ariost übrig, den ich bei dem Trödler gekauft hatte. Es steckten doch keine verborgenen Schätze darin wie bei einem alten Klosterbuch, wo meinetwegen im Deckel etwas eingeklebt ist, etwa eine kostbare Handschrift oder eine wertvolle Miniatur. Um mich von der Sinnlosigkeit einer solchen Idee zu überzeugen, nahm ich ein Federmesser und löste vorsichtig eine Ecke des Pergamentumschlages vom Pappdeckel ab … und siehe da: zwischen Pergament und Pappe liegt ein Blatt Papier, mit Zeichen darauf.«
»Wo? Wo ist das?« rief Winkelmann und sprang auf. »Ruhe, Ruhe«, mahnte Aren. »Das trage ich wohlgeborgen auf meinem Herzen. Nur Herr Jäger hat es bisher gesehen.«
»Aber ich bin nicht daraus klug geworden«, gestand Jäger.
»Kein Grund zum Schämen, mein Herr; denn ich bin auch nicht sofort daraus klug geworden. Jedenfalls war ein solches eingeklebtes Blatt nichts Alltägliches, und die Zeichen selbst schienen mir noch auffälliger. Beides zusammen ergab die Möglichkeit – ich betone: die Möglichkeit –, daß man es auf dieses Buch abgesehen hatte, beziehungsweise auf dieses Blatt. Was blieb also zu tun? Zu Hause bleiben? Das wäre vorsichtig, aber dumm gewesen, weil ich ja dann nichts an Aufklärung bekommen haben würde; und Sie werden verstehen, daß mir an einer Aufklärung viel gelegen war. Sollte ich nun zum Savoy gehen und das Buch hier liegen lassen? Das wäre auch dumm gewesen, denn dann wäre es vermutlich bei meiner Heimkehr samt dem Blatt verschwunden gewesen, und ich wäre um nichts klüger geworden. Ich habe den einfachen Mittelweg genommen: ich habe das Buch hier gelassen, aber ohne den Zettel. Herr Jäger war so freundlich, das Buch im Eiltempo neu zu binden und das Blatt sorgfältig herauszutrennen.«
»Aha«, sagte Winkelmann. »Daher der Zusammenhang.«
»Ja«, bestätigte Aren. »Das ist der erste Zusammenhang. Der Vorteil meiner Methode wird einleuchten. Ich konnte durch Sie feststellen, ob man es wirklich auf das Buch oder auf das Blatt abgesehen hatte, und brauchte darum das Blatt doch nicht aus den Händen zu geben. Aber es konnte mir nicht genügen, zu wissen, ob man es darauf abgesehen hatte; ich wollte auch gerne wissen, wer Absichten auf das Buch hatte. Natürlich stand für mich von vornherein fest, daß es sich nicht um eine einzelne Person handeln konnte, denn wenn mich einer im Savoy erwartet, um mich dort mit unnützen Gesprächen festzuhalten, mußte ein zweiter sich inzwischen mit meiner Wohnung beschäftigen. Ich selbst hingegen konnte nicht an beiden Orten zu gleicher Zeit sein. Darum mußte ich dem Besucher für alle Fälle einen Stempel aufdrücken, an dem ich ihn später wiedererkennen konnte.«
Der Kommissar lachte: »Das ist ein solider Stempel geworden.«
»Wieso?« fragte Jäger.
»Kommt sofort. Ich ließ mir von dem alten Waffenmeister bei Gersing einen kleinen Selbstschuß legen, ehe ich die Wohnung verließ, und begab mich dann in das Savoy. Dabei ist eine kleine Nachlässigkeit des Herrn Ovelmann zu vermerken: er hatte schlechthin das Savoy als Treffpunkt angegeben. Wie sollte ich da unter hundert Leuten den mir unbekannten Herrn herausfinden? Er aber mußte mich offenbar kennen, und das war weiterhin verdächtig. Wie sollte er dazu kommen? Ich lasse mich grundsätzlich weder abbilden noch photographieren. Mein Gesicht ist Gott sei Dank ausdrucklos genug, um nirgends aufzufallen. Ich zeige mich wenig, und wenn ich arbeite, tue ich es fast immer in irgendeiner Maske. Der Herr Ovelmann mit der breiten Stimme mußte mich aber kennen. Er stand auch sehr bald, nachdem er mich erblickt hatte, von einem Tische auf und begrüßte mich. Wir haben dann über alle möglichen Dinge gesprochen, aber nicht über die Zeinithwerke. Ich habe gar kein Hehl daraus gemacht, daß ich ihn durchschaute; und er hat kein Hehl daraus gemacht, daß er das sehr wohl merkte. Ich hatte mich darauf präpariert, ihn betrunken zu machen, und er hatte sich darauf präpariert, mich betrunken zu machen. Als wir uns in unseren Absichten erkannt hatten, gaben wir das Wetttrinken auf und gingen, um noch einen guten Kaffee zu haben, in meine Wohnung.«
»Wie?« riefen Winkelmann und Jäger wie aus einem Munde. »Das haben Sie riskiert?«
»Aber meine Herren, das mußte ich doch! Glauben Sie denn, ich gebe mein gutes Geld umsonst aus? Ich hatte an dem ganzen Abend doch noch nichts Positives erreicht. Ich mußte mich demnach bemühen, wenigstens den Kreis meines Wissens zu erweitern. Darum nahm ich ihn mit nach Hause. Da haben wir denn festgestellt, daß der Schuß prompt seine Wirkung getan hatte. Aber zugleich war auch das Buch verschwunden. Die Leistung imponierte mir. Sie beweist, daß ich es mit intelligenten und tollkühnen Leuten zu tun habe, die sich auch durch eine Schußwunde nicht behindern lassen, das zu tun, was sie wollen. Zugleich wurde mir dadurch der Wert des Blattes bestätigt: man nimmt einen Schuß in Kauf, nur um das Buch mit dem eingeklebten Blatt in die Hände zu bekommen.«
»Wie hat sich der falsche Ovelmann denn benommen?« fragte Winkelmann.
»Eigentlich sehr nett. Er hat alles geglaubt, was ich sagte. Er hat mich für so naiv gehalten, wie ich mich stellte.«
»Erklären Sie das doch, bitte«, sagte der Buchbinder.
»Gerne. Nehmen wir an, Sie erwarten einen Verbrecher und legen zu seiner Begrüßung einen Selbstschuß. Würden Sie das dann mit großen Buchstaben an die Tür schreiben?«
»Bestimmt nicht. Haben Sie es etwa getan?«
»Jawohl. Ich stellte mir vor, wenn der Besucher kommt und das Schild liest, wird er sich sagen: das ist aber ein naiver Jüngling, wenn er glaubt, ich ließe mich dadurch abschrecken. Ich denke gar nicht daran. Er öffnet … und es knallt. Also ist der Beweis der Naivität geliefert. Ovelmann hat auch daran geglaubt. Er hat unter allen Umständen auch daran geglaubt, daß ich über den Verlust des Buches böse sei!«
»Wieso denn?« fragte Jäger.
»Ich sagte ihm, daß ich gerade dieses Buch neu hätte binden lassen und es just vom Buchbinder geholt hätte. Da zuckte er zusammen, als ob er sich auf Stecknadeln gesetzt hätte. Dann interessierte er sich mit einem Male für alte Bücher und Buchbinder und wollte wissen, wo ich binden lasse. Und ich in meiner Naivität sagte es ihm auch, jedenfalls so andeutungsweise, daß er Sie finden mußte, wenn ihm daran gelegen war. Und es blieb mir nichts anderes übrig, als ihn auf Sie zu hetzen. Wenn er mir überhaupt glaubte, dann würde er auch versuchen, das herausgetrennte Blatt noch bei dem Buchbinder zu finden. Dazu mußte er aber in der folgenden Nacht bei Ihnen einbrechen oder einbrechen lassen. Damit hätte ich dann eine neue Bestätigung über den Wert des Blattes. Eventuell aber auch Aufklärung darüber, ob noch mehr Herren an dem Unternehmen beteiligt sind. Herr Winkelmann wird mir darüber gleich berichten können. Ich will nur mit dem zu Ende kommen, was ich Ihnen noch sagen kann. Ich hatte bei der ganzen Sache den Eindruck, als ob es sich bei Herrn Ovelmann um einen Menschen handelte, der etwas Geld hinter sich hatte. Dafür sprach sein ganzes Auftreten. Wer so viele Weinsorten kennt wie er, der ist mindestens schon mal in der Lage gewesen, sie sich zu leisten. Also war für seine Mitarbeiter, wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf, anzunehmen, daß auch sie nicht mittellos sein würden. Einer der Mitarbeiter hatte sich nun im Dienste der guten Sache eine kleine Verletzung zugezogen, für die er unter allen Umständen einen Arzt aufsuchen mußte. Und zwar würde er zu einem Arzt hingehen und nicht den Arzt zu sich kommen lassen, weil auf alle Fälle das Risiko sehr groß war, seine Wohnung zu verraten. Er mußte, um sicher zu gehen, auch möglichst früh einen Arzt aufsuchen. Er würde endlich, so schloß ich weiter, zu einem der sogenannten besseren Ärzte gehen. Da ist man sicher, diskret behandelt zu werden, und man kann über die Ursache seiner Verletzung irgendeine gutklingende Erzählung anbringen. Darum habe ich Herrn Winkelmann gestern nacht gebeten, sich mit den sogenannten prominenten Privatärzten in Verbindung zu setzen und mir Bescheid geben zu lassen, wo ein Patient mit einem Beinschuß auftauchen würde. Von sieben Uhr an stand ich als eine der – verzeihen Sie die naive Überzeugung – nettesten Krankenschwestern bereit, die ich seit langem gesehen habe.«
Jäger lachte vor Vergnügen: »Mit diesem Organ haben Sie das gewagt?«
»Das Organ habe ich sehr geschont«, sagen Aren. »Ich habe nur geflüstert, und zwar Dinge, die nicht einmal der Geheimrat gehört hat. Beim Verbinden habe ich mal sachte angefragt, wo der Plan sei.«
»Sieht Ihnen ähnlich«, grinste Winkelmann. »Vermutlich wird er Ihnen aber die Auskunft verweigert haben.«
»Richtig«, sagte Aren. »Er konnte auch vor Schreck gar nicht reden. Aber mich interessierte auch weniger die Auskunft, als erstens die Besichtigung meines Besuchers, sodann die Feststellung, ob etwa noch weitere Personen an dem Unternehmen beteiligt seien. Und das ist der Fall. Es ist noch eine Frau daran beteiligt, die Olly heißt.«
»Woher wissen Sie das?« fragte der Kommissar.
»Er hat selbst diesen Namen genannt. Aber so entsetzt, daß es sich bei dieser Olly nur um eine Gegenspielerin handeln kann. Das macht die Sache noch komplizierter. Im übrigen hat er einen falschen Namen und eine falsche Wohnung angegeben. Aber das versteht sich ja von selber.«
»Ich verstehe nur nicht,« sagte der Buchbinder, »warum Sie ihn nicht haben festnehmen lassen.«
»Das ging nicht. Ismael hat mir nur erlaubt, ihn zu sehen. Alles andere wäre ein Verstoß gegen seine ärztliche Verschwiegenheitspflicht gewesen. Aber im übrigen hätte es auch gar keinen Zweck gehabt. Was hätte ich davon? Was hätte ich ihm beweisen können? Daß er einen Schuß ins Bein bekommen hat, und daß ein solcher Schuß auch aus meinem Selbstschuß stammen konnte. Mehr nicht. Dann hätte ich immer noch nicht gewußt, was es mit dem Plan auf sich hat, der auf dem Blatt gezeichnet steht. Und um einen Plan handelt es sich zweifellos. Ein Schrifttext ist es nicht. Endlich ist nicht zu vergessen, daß wir erst in den Anfängen sind. Ich kann doch die Figuren nicht gleich vom Schachbrett herunternehmen, ehe das Spiel richtig angefangen hat. Jedenfalls habe ich dem Herrn den guten Rat gegeben, sich vorläufig nicht außer dem Hause sehen zu lassen. Er wird das schon vor lauter Angst nicht tun, und das wird unsere Beobachtungen erleichtern, da wir ihm dann nicht nachzusteigen brauchen.«
»Ich glaube,« unterbrach ihn Winkelmann, »er wird höchstens mißtrauisch geworden sein und so bald als möglich verschwinden.«
»Er wird nicht verschwinden, obgleich er mißtrauisch ist. Er wird sogar sehr mißtrauisch sein und auf die Idee kommen, ob Aren nicht selber die Krankenschwester war. Aber dieses Mißtrauen ist inzwischen schon beseitigt. Ich habe nämlich noch folgendes mitzuteilen. Um mich als Krankenschwester herzurichten, habe ich in aller Frühe die alte gute Polizeischwester Grete zu mir gebeten. Sie hat mich nach allen Regeln der Kunst hergerichtet. Dann habe ich das Haus verlassen, während Schwester Grete im Hause blieb. Sie ist erst weggegangen, als ich wieder zurückkam. Dieser Vorgang ist genau beobachtet worden, und zwar von Ovelmann.«
»Beweisen! Beweisen!« schrie Winkelmann aufgeregt.
»Ovelmann war gegen elf Uhr selbst bei mir. Tableau? Nicht wahr? Ich hatte mich darauf vorbereitet und einen dicken Schal um meinen Hals gebunden. Er war sichtlich erstaunt, mich anzutreffen. Er mußte annehmen, daß ich, falls ich seinem Freunde als Krankenschwester assistiert hätte, unmöglich zu Hause sein könnte, wenn ich als Krankenschwester wieder die Wohnung verlassen hatte. Nun hatte eine Krankenschwester die Wohnung verlassen, und ich war doch zu Hause. Also konnte ich nicht mit der Krankenschwester identisch sein. Er konnte zwar auf die Idee kommen, daß es dann eben zwei Krankenschwestern gegeben habe, aber er sah doch, daß ich selber krank war. Sie wollen sagen, Winkelmann: plump. Zum hundertsten Male meine Antwort: es kommt auf die wahrscheinliche Wirkung eines Mittels oder einer Methode an.« Zum Nachweis zeigte Aren den Schal und die Flasche mit Emser Kränchen, aus der sich die beiden Besucher mit Ergötzen stärkten.
»Es sind also an dem Plan interessiert: der falsche Ovelmann, der falsche Alming und die unbekannte Frau mit dem wahrscheinlichen Namen Olly …«
»Und der Taubstumme«, ergänzte Winkelmann. »Denn jetzt komme ich an die Reihe. Sie haben ganz richtig vorausgesehen, daß Ovelmann versuchen würde, bei Herrn Jäger das Blatt noch zu finden. Ich habe Ihrer Anweisung gemäß zwei handfeste Kriminalbeamten aufgestellt. Vor gut zwei Stunden stieg ihnen denn auch ein Mann in blauer, ganz netter Monteuruniform in die Arme. Er hatte nur neue Sachen an, die kein besonderes Merkmal tragen. Das ist sehr vorsichtig. Das Besondere ist, daß der Mann taubstumm ist. Er antwortet auf keine Frage. Wir haben einen Taubstummenlehrer aus dem Schlaf geholt und alle erdenklichen Experimente mit ihm anstellen lassen. Aber er antwortet einfach nicht. Er sah sich alles an, verstand offenbar alle Zeichen, die ihm der Lehrer machte; weigerte sich aber, irgendetwas zu äußern. Er machte nur einmal eine Bewegung, als wollte er sagen: Gebt euch doch keine Mühe; ich sage doch nichts. Papiere hat er natürlich nicht. Uns blieb nichts übrig, als den Mann festzuhalten.«
»Dumm«, sagte Aren. »Aber wieder ein Beweis, daß die Herren gut organisiert sind … und daß wir nach wie vor nichts, aber auch gar nichts wissen. Waren Sie beim Trödler, Herr Winkelmann?«
»Jawohl. Auftragsgemäß. Und da gibt es etwas sehr Lustiges zu berichten. Unmittelbar nachdem Sie das Buch gekauft hatten, hat sich ein untersetzter, breiter Herr eingefunden, der es kaufen wollte. Er hätte es am Morgen zufällig in der Auslage gesehen. Der Trödler hat bedauert. Der untersetzte Herr hat erklärt, er sei Sammler, es sei Ehrensache für ihn, seinen Konkurrenten das Buch abzujagen. Ob er den Käufer nicht beschreiben könne. Das habe er, der Trödler, nach bestem Können getan, zumal ihm der Herr eine indische Bronze abgekauft habe.« »Aha«, sagte Aren. »Daher ist Ovelmann auf mich verfallen. Mein Gesicht scheint also doch nicht so ausdruckslos zu sein, wie ich es für meine Zwecke nötig habe. Na, und weiter?«
»Dann habe ich noch ermittelt, woher er die Sachen hat. Sie stammen alle aus dem Nachlaß eines alten Farmers, der früher in Ceylon lebte und sich seit einem halben Jahre hier in der östlichen Vorstadt zur Ruhe gesetzt hat. Er war als Miquel gemeldet. Der Hauswirt hat die paar Sachen, die er hatte, wegen der rückständigen Miete versteigern lassen. Da hat sie der Trödler erworben. Als Todesursache hat der Kreisarzt Arterienverkalkung festgestellt. Mehr ist nicht zu ermitteln.«
Aren hatte den Kopf in die Hände gestützt und war sehr nachdenklich geworden. Seine Lippen bewegten sich in unhörbarem Selbstgespräch. Dann sprang er plötzlich auf und rief: »Es ist nicht auszudenken! Es wäre zu schön! Winkelmann, ich sage Ihnen: wir kommen mit der Sache weiter. Ich hab einen Lichtblick bekommen. Schnell, wo ist das Emser Kränchen? Stärken Sie sich, meine Herren. Wir bekommen Arbeit. Aber erst will ich darüber schlafen. Gute Nacht, meine Herren. Gute Nacht.«
Er drängte seine Besucher zur Tür hinaus. Winkelmann und Jäger blieben auf der Straße stehen. Aber sie stellten fest, daß das Licht in Arens Wohnung nicht erlosch. »Passen Sie auf,« sagte der Kommissar, »er denkt gar nicht daran, zu schlafen. Er arbeitet. Er spricht mit seinem Igel Fifi. Und wenn er das tut, dann gibt es etwas Neues.«