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In der Staatsbibliothek saß seit geraumer Zeit der Detektiv Aren. Wahrend er in den ersten Tagen ruhig und mit fast heiterer Miene arbeitete, wurde er von Mal zu Mal nervöser und brummiger. Irgendetwas schien seinen Erwartungen nicht zu entsprechen, ja, es schien ihn sogar derartig aus der Fassung zu bringen, daß er sich selbst und sein Äußeres völlig darüber vernachlässigte. Er war unrasiert und hatte zuweilen einen Kragen an, den er besser in die schmutzige Wäsche getan hätte. Er trug auch zuweilen eine Brille und kaute an seinem gelben Bleistift. Er wälzte Bücher über Indien, unaufhörlich, in allen Einzelheiten, mit einer verbissenen Eindringlichkeit. Die Beamten der Bibliothek wurden schon mißtrauisch und waren ganz darauf eingestellt, ihm immer nur ein Buch zur Zeit zu geben, da sie in diesem Leser einen Bücherdieb vermuteten. Aber durch Zufall erfuhren sie, wer der eifrige Leser sei, und daß er mit einem Problem beschäftigt war, das er nicht lösen könne. Sie versuchten, ihm mit ihren eigenen Kenntnissen zu helfen; aber er war derartig überreizt, daß er schroff jede Unterstützung ablehnte: »Wenn ich es nicht selber lösen kann, dann soll es eben ungelöst bleiben.«
Auch Ovelmann erfuhr davon, sei es durch Zufall, sei es, weil er sich um das Tun und Lassen seines Gegners kümmern mußte. Er wagte es, kurzerhand zu Arens Wohnung zu gehen, gegen Abend, als er annehmen konnte, daß Aren von seinem ergebnislosen Studium zurück sei. Aber schon an der Haustüre empfing ihn die Aufwartefrau, breit, respektabel, drohend: »Herr Aren ist nicht zu Hause. Er ist verreist.«
Ovelmann lächelte: »Verehrte Frau, ich sehe ja, daß Licht in seinem Zimmer ist.«
»Er ist aber nicht da. Jedenfalls ist er nicht zu sprechen. Guten Abend.«
Sie wollte die Türe zuschlagen. Aber Ovelmann hielt seinen Fuß dazwischen: »Einen Augenblick noch, liebe Frau. Bestellen Sie ihm bitte, daß Herr Ovelmann da gewesen wäre. Ich komme morgen abend wieder und hole mir Bescheid. Das heißt: wenn Sie es erlauben.«
»Am Wiederkommen kann ich Sie nicht hindern«, knurrte die Alte. Ovelmann ging noch einmal auf die andere Straßenseite, um ganz sicher zu sein. Er sah den langen, schmalen Schatten Arens ruhelos am Fenster vorbeihuschen und wieder verschwinden.
Am nächsten Abend erschien er wieder, um sich die Antwort zu holen. Die Aufwärterin hatte ihn schon erwartet. Sie kam die Treppe herunter, löste die Sperrkette und sagte durch den Spalt der Tür: »Schönen Gruß von Herrn Aren, und Sie sollen sich zum Teufel scheren.« Dann knallte die Tür zu. Die Sperrkette wurde vorgelegt. Das Licht im Treppenhaus erlosch. Aber der wandernde Schatten war nach wie vor zu sehen. – – –
Ovelmann schlenderte langsam durch die Straßen. Vor einem Hause an der Rolandstraße pfiff er leise eine Melodie, ging aber an dem Hause vorüber, ohne es scheinbar zu beachten. An der Ecke der Straße machte er kehrt. Diesmal ging er ohne weiteres in das Haus hinein und klingelte an der Tür der unteren Wohnung. Hinter der Glasscheibe meldete sich eine Frauenstimme: »Zu wem wollen Sie?«
»Zu Herrn Alming.«
Es wurde ihm geöffnet. Mit der Sicherheit des Nachtwanderers ging er den dunklen Korridor entlang, tastete, als er in der Mitte war, nach einer Türklinke und trat ein, ohne anzuklopfen. »Tag«, sagte er verdrießlich.
Alming (oder Mingal, wie er in Wirklichkeit hieß) lag in einem Sessel und las. Er hob den Blick kaum von dem Buche auf. »Na, was Neues?«
»Einen schönen Gruß hat er mir bestellen lassen, und ich möchte mich zum Teufel scheren.«
»Ich habe ihn überschätzt«, sagte Mingal verächtlich. »Es hat nur Zweck, einen intelligenten Gegner zu haben; denn der rührt sich und setzt sich in Bewegung. Dieser hier verkriecht sich in seinem Bau und wartet, wahrscheinlich, daß wir den ersten Hieb riskieren.«
»Ich traue ihm nicht«, schimpfte Ovelmann. »Er hat eine Form der Naivität, die unberechenbar ist.«
»Gewiß, aber gefährlich kann sie erst werden, wenn sie zum Bewegungskrieg übergeht. Und da glaube ich, ihm gewachsen zu sein. Verflucht noch mal, jetzt sitzen wir hier volle vier Wochen herum und sind um nichts weitergekommen. Und diesen ewigen Wohnungswechsel habe ich bald satt; ebenso die Lektüre von modernen Büchern. Ich hätte im Leben nicht gedacht, daß aus mir noch einmal eine Bücherratte werden könnte.«
Ovelmann lachte gereizt: »Du meinst wohl immer noch, es ginge hier so wie unten, ja? Wenn es nicht klappt, dann mit Revolver und Dynamit. Du scheinst an deine Rückkehr nach Europa noch immer nicht zu glauben.«
»Ich glaube leider nur zu sehr daran, oder besser gesagt: wir müssen eben daran glauben. Ich fürchte nur, auf die Dauer werde ich die Nerven verlieren. Ob sich der Kerl wirklich einbildet, er könnte in der Staatsbibliothek den Plan entziffern? Im günstigsten Falle bekommt er heraus, daß er sich auf Ceylon bezieht …«
Ovelmann unterbrach ihn: »Alles das scheint mir im Augenblick nicht so wichtig wie die Tatsache, daß wir vermutlich zwischen zwei Feuern stehen.«
»Gott segne deine Naivität, lieber Ovel. Dieses ›vermutlich‹ ist reizend. Wir stehen unter allen Umständen zwischen zwei Feuern. Ich nahm an, das würde deine erste Frage heute sein.«
»Entschuldige. Du hast recht. Also, was ist mit Olly?«
»Verschwunden. Vom Hauspersonal weiß niemand etwas. Sie sagen, es kämen öfter Schwestern nur zur Aushilfe oder für kurze Zeit zur Ausbildung. Wenn dringende Fälle vorlägen, würde auch diese oder jene Schwester vom Heim angefordert. Sie glauben, daß eine Schwester Henriette da war, aber sie wissen nicht, wann und wie lange.«
Ovel – das war sein richtiger Name – überlegte. »Es war unklug von dir, dich mit Olly zu überwerfen. Schließlich hat sie dir schon viel im Leben genützt.«
Mingal entgegnete kühl: »Jeder ist sich selbst der Nächste. Sie kann mir nicht mehr nützen.«
»Henry, ich sage dir: Olly ist noch hier in der Stadt. Sie wird Vorbereitungen treffen … und wenn nicht alles täuscht, bekommt sie den Plan eher in die Hände als wir. Sie zur Gegnerin zu haben, ist nicht ungefährlich.«
»Sie hat kein Geld für die Reise. Darum kann sie ohne uns nichts machen.«
»Und wir haben den Plan nicht. Wir werden mit ihr teilen müssen. Das ist weiter nicht wichtig. Bedenklich ist nur, daß Weiber nicht reinen Mund halten können. Sie wird schwätzen; wird diesen und jenen ins Vertrauen ziehen. Sie wird das tun müssen, weil sie es alleine doch nicht schaffen kann.«
Sie blieben eine Weile nachdenklich. Dann stöhnte Ovel: »Was der arme Bob wohl macht. Ich sehe nicht die geringste Möglichkeit, ihn frei zu bekommen.«
Alming warf das Buch beiseite: »Laß dieses Kapitel weg. Die ganze Schuld daran hast du alleine. Wie konntest du so tapsig sein und ihn prompt in der nächsten Nacht zum Buchbinder schicken? Zwar wird Bob reinen Mund halten, und wenn er daran sterben müßte. Aber uns fehlt eine wertvolle Hilfskraft. Sie ist weg. Durch deine Dummheit und Voreiligkeit.«
»Ja, ja«, schimpfte Ovel. »Schweig nur davon. Damit wird es auch nicht besser. Es ist vernünftiger, an seine Rettung zu denken.«
»Rettung? Man hat ihn auf frischer Tat ertappt und müßte ihn wegen versuchten Einbruchsdiebstahls aburteilen. Wenn er gescheit ist, gibt er irgendeinen Namen an, damit man ihm wenigstens den Prozeß machen und dann über die Grenze schieben kann. Aber was kann er machen, wenn er keine Instruktionen von uns bekommt? Man wird ihn so scharf bewachen, daß es ausgeschlossen ist, ihm einen Kassiber zu schicken. Wir können auch nicht hingehen und ihn etwa als Verwandten besuchen. Das würde uns schlecht bekommen. Wir sind machtlos. Absolut machtlos.«
Ovel stand auf: »Nur das ewige Nachdenken macht uns so gedankenlos. Wir müssen etwas tun. Ich gehe heute nacht in die Keller und sehe, daß ich jemand bekomme.«
»Jemand? Wofür? Damit er zu Bob geht und ihm einen schönen Gruß von uns bestellt?«
»Jemand, der sich für eine nicht zu schwere Geschichte und gegen gutes, hinterlegtes Geld einige Tage einsperren läßt. Solche Leute gibt es.«
»Na, und dann?« fragte Alming gespannt.
»Dann müssen wir uns überlegen, was wir Bob bestellen lassen können.«
»Glaubst du, daß du jemand findest?«
»Wir müssen es versuchen. Es wird am besten sein, wir gehen beide in die Keller.«
Sie nahmen einige Umwandlungen an ihrer Garderobe und an ihrem Äußeren vor, dann verließen sie getrennt das Haus. – – –
Bob saß in seiner Zelle im Untersuchungsgefängnis. Seine schöne blaue Monteurkleidung hatte man ihm gelassen. Er gab zuweilen rauhe Kehllaute von sich, setzte sich geduckt auf seinen Schemel und starrte vor sich hin. Die Zeit wurde ihm unerträglich lang. Er entbehrte die Freiheit sehr. Hinzu kam, daß er fast täglich mit Vernehmungen belästigt wurde. Er sagte nichts; verstand nichts; rührte sich nicht; warf hin und wieder einen Blick auf den Kommissar, auf den Gerichtsarzt, auf den Lehrer aus der Taubstummenanstalt, und sah wieder zu Boden.
Man gab ihm gelegentlich Bücher aus der Gefängnisbibliothek in die Zelle. Er rührte sie nicht an. Das einzige Lebenszeichen gab er von sich, wenn er sah, daß ihm die Mahlzeiten auf den Tisch gestellt wurden. Dann fiel er wie ausgehungert darüber her.
Winkelmann unterhielt sich über ihn mit dem Gefängnisinspektor: »Ich habe den Eindruck, daß man diesen armen Kerl einfach als willenloses Werkzeug benutzt hat. Jetzt ist er zu ängstlich, etwas zu gestehen. Ich meine, man sollte ihm die Kost etwas verbessern, damit er zufriedener wird. Vielleicht kommt dann gelegentlich ein Wort aus ihm heraus.« Bob bekam in der Folgezeit eine bessere Verpflegung. Aber die einzige Wirkung war, daß sie seinen Heißhunger noch vermehrte. Er grunzte behaglich, wenn ihm die Mahlzeit gebracht wurde. Im übrigen blieb er stumpf und teilnahmlos.
Eines Tages, gegen Mittag, wurde die Tür zu seiner Zelle geöffnet. Zwei Wärter hielten einen Untersuchungsgefangenen an den Schultern. Der Mann wehrte sich aus Leibeskräften und sparte nicht mit Schimpfworten. Aber es nützte ihm nichts. Man stieß ihn in die Zelle und riegelte ab. Aber damit gab sich der neue Gast nicht zufrieden. Er stellte sich mit dem Rücken gegen die Tür und trommelte taktmäßig mit den Absätzen dagegen. Nichts antwortete auf seine Demonstration. Er gab sie endlich auf, da er ihre Vergeblichkeit einsah.
Erst jetzt machte er sich mit seiner neuen Umgebung vertraut. Er ging zu seinem Zellengenossen, der ihn nur mit einem flüchtigen Blick gestreift hatte, hielt ihm die Hand hin und sagte: »Tag. Sommer ist mein Name. Wer sind Sie denn?«
Bob sah die Hand vor seinem Gesicht, blinzelte und schwieg. »Denn nicht, du Hohlkopf«, schimpfte Sommer und setzte sich in die andere Ecke.
Als das Mittagessen gebracht wurde, knurrte er den Wärter an: »Ist das hier eine Schweigezelle? Oder was ist hier los?«
»Der Mann ist taubstumm«, sagte der Wärter. »Es ist genug, wenn einer hier so viel redet. Darum haben wir diese Zelle für Sie ausgesucht.«
Sommer nahm seinen Napf und ging damit auf seinen Schemel. Er sah sofort, daß der andere besseres Essen hatte als er. Das wurmte ihn tief. Bob beobachtete es wohl. Er schien ein guter Kerl zu sein, denn er deutete Sommer durch Bewegungen an, daß sie den Inhalt beider Näpfe miteinander vermischen und dann teilen wollten.
»Laß man«, sagte Sommer. »Ist ja gut gemeint von dir. Aber ich will die Sippschaft hier schon dazu kriegen, daß sie mir besseres Futter gibt.«
Bob sah nur die ablehnende Gebärde, schwieg und aß seinen Napf leer.
Sommer vertiefte sich für den Rest des Tages in die Lektüre, die man für seinen Genossen zurechtgelegt hatte. Dann dunkelte es. Um sechs Uhr kam die Abendbrotsuppe. Um neun wurden die Pritschen an den Wänden aufgeschlossen und heruntergelassen. Die beiden legten ihre Strohsäcke und ihre Matten zurecht. Sommer schien in diesen Verrichtungen nicht unerfahren. Mit großer Geschicklichkeit wickelte er sich ein, warf sich einige Male hin und her und schlief dann mit festen, gleichmäßigen Atemzügen ein.
Bob war durch diese neue Nachbarschaft sehr beunruhigt. Zwar sah der andere recht gutmütig aus, aber immer hatte er irgendetwas zu schwätzen. Und auch im übrigen war Bob von Mißtrauen nicht frei. Er lag schlaflos. Mitten in der Nacht erhob er sich sehr leise und vorsichtig, stand von seiner Pritsche auf und ging zu Sommer hinüber. Der schlief fest. Sein Gesicht, gegen die Wand gekehrt, war nicht genau zu erkennen. Da wagte Bob es, sich selber dem Schlaf zu überlassen.
Am anderen Morgen, als sie beide vor ihren Waschnäpfen standen, sagte Sommer, während er sich mit dem groben Handtuch das Gesicht abrieb: »Nun paß' mal auf, lieber Bob. Wenn wir gute Nachbarschaft halten wollen, dann laß diese nächtlichen Besuche. Es könnte dir schlecht bekommen. Verstanden?«
Bob hatte offenbar nicht verstanden. Er rieb sich lange und ausgiebig das Gesicht, bis es eine hellrote Farbe hatte. Sommer sagte auch weiter nichts. Sie tranken ihren Roggenkaffee, aßen die schwere Schnitte Schwarzbrot und säuberten die Zelle.
Sie wurden zu verschiedenen Zeiten zum Spaziergang in den Hof geführt. Erst Bob, dann Sommer.
Als der Wärter hinter ihm abschließen wollte, sagte er: »Ich möchte ein Stück Papier und einen Bleistift haben. Ich will an den Untersuchungsrichter schreiben.«
Aber erst nach dem Mittagessen wurde sein Wunsch erfüllt. Er begann zu schreiben. Als er fertig war, bog er einen schmalen Rand des Papiers um, faltete ihn scharf mit dem Daumennagel und trennte ihn sorgfältig ab. Auf diesen schmalen Streifen schrieb er mit großen Buchstaben das Wort Pik und legte es seinem Zellengenossen in die Hand. Der sah darauf nieder … und fuhr zusammen. Ängstlich, wie gejagt, starrte er Sommer an. Der nahm den Streifen wieder an sich, verwischte die Schrift mit dem Daumen und riß den Streifen Papier in kleine Fetzen.
Dann sagte er gemütlich: »Weißt du, Bob, der Unterschied zwischen uns ist der: du kennst mich nicht; aber ich kenne dich. Du bist von der Partei Ovel; ich von der Partei Olly. Ich komme nach drei Tagen wieder raus, weil man mir nichts nachweisen kann. Du spielst den stummen August und wirst eine kleine Ewigkeit sitzen, bis dich irgendein Zufall identifiziert. Wenn ich Lust hätte, könnte ich es jetzt schon tun. Aber ich habe keine Lust.«
Bob schwieg immer noch; aber die Erregung funkelte ihm aus den Augen. Seine Hände zitterten.
Sommer lachte: »Glaubst du denn wirklich, deine Herren Chefs würden monatelang auf dich warten? Wenn sie keinen Erfolg haben – und das werden sie wahrscheinlich nicht –, dann ziehen sie eben wieder ab und überlassen dich einem vergnügten Schicksal.«
Da sprang Bob auf. Sommer sprang fast gleichzeitig auf und sagte leise, aber eindringlich: »Halt! Bleib mir drei Schritt vom Leibe. Ich trau' dir nicht. Und wenn du jetzt nicht sofort deine Rolle als Taubstummer aufgibst, dann …«
»Sei still!« zischte Bob. Seine Augen glühten dunkel. Wie ein eingesperrtes Tier, das gegen die Gitter springen will, duckte er sich. So verharrte er eine Zeitlang, ohne daß Sommer ihn auch nur eine Sekunde aus den Augen ließ. Dann lehnte er sich ermattet gegen die Wand.
Ein rasendes Angstgefühl beschlich ihn. Warum hatte er sich von diesem Strolch aus der Rolle werfen lassen? Wofür war jetzt diese unerhörte Anstrengung vergeudet, als Mensch mit klarer Stimme und scharfen Ohren den Taubstummen zu spielen? Ein unvorsichtiges Wort dieses gefährlichen Schwätzers, und er konnte mit langen Monaten einer sinnlosen Untersuchungshaft rechnen … um nachher, arm wie eine Kirchenmaus, jedem Zufall und jedem Verhungern ausgesetzt, auf der Straße zu liegen. Sein Zorn steigerte sich in das Sinnlose. Er duckte wieder den Kopf vor und sagte mit scharfer Betonung, die vom Übermaß der Energie etwas zitterte: »Nun hör' mal gut zu, was ich dir sage. Du hast mich jetzt mit List und Tücke und deinen boshaften Andeutungen wieder zum Hören und Sprechen gebracht. Jetzt ist mir alles, aber auch alles egal. Es kann sein, daß du nichts weißt und mich nur mit ein paar Worten, die du selbst nicht verstehst, in die Falle gelockt hast. Es kann aber auch sein, daß du mehr weißt. Dann rate ich dir, mir das sofort mitzuteilen. Wenn du es nicht kannst, dann drehe ich dir so schnell den Hals um, daß du keinen Wärter mehr rufen kannst. Ich habe so etwas gut, sehr gut gelernt.«
Sommer ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Mein lieber Bob, du darfst dich nicht überschätzen. Ich weiß selber, welche Methode die Eingeborenen in Ceylon anwenden, wenn sie jemand schmerzlos das Licht ausblasen wollen. Ich kenne auch die Abwehrmethoden; und du darfst nicht daran zweifeln, daß ich auf einen Angriff von dir gefaßt bin. Darum habe ich schon gestern nacht nicht geschlafen. Ich hätte dir bei der ersten unvorsichtigen Bewegung die Pulsader durchgebissen. Merkst du jetzt, wohin der Hase läuft?«
Bob wischte sich den Schweiß von der Stirn: »Heiliger Himmel, was ist das für eine Situation! Heißt du wirklich Sommer?«
»Ach, woher denn! Mein richtiger Name geht dich nichts an. Nenne mich meinetwegen Adam. Das gibt dann zusammen Pik Adam oder Adam Pik. Bist du jetzt im Bilde?«
»Im Bilde bin ich schon,« stöhnte Bob, »aber beruhigt noch lange nicht. Ich kenne dich nicht. Ich weiß nicht, was ich mit dir anfangen soll. Willst du mir eine Frage beantworten?«
»Es kommt darauf an«, sagte Sommer vorsichtig. »Ich kann es dir nicht im voraus versprechen.«
»Wo ist der Plan?«
Da lachte Sommer leise. »Der Plan? Den habe ich bei dem Buchbindermeister Jäger abgeholt.«
Nun schoß Bob wie ein wütendes Tier auf und warf sich der ganzen Länge nach Sommer entgegen. Aber der machte, im Bruchteil einer Sekunde später, die gleiche Bewegung und packte Bob, während sie zusammen hinfielen, scharf um die Kehle. Der Druck war so fest, daß Bob den Mund öffnen mußte und dumpfe Laute von sich gab. Aber schon stand Sommer wieder auf und ging zu seinem Schemel zurück.
»Setz' dich hin«, sagte er ruhig. »Du siehst, daß du mit solchen Kinderscherzen nicht weiterkommst. Ich bin nicht die richtige Adresse, an die du dich mit deiner Wut zu wenden hast. Schuld an deiner Überrumpelung ist allein Ovel, weil er die Sache so tölpelhaft angestellt hat. Da ist es doch kein Wunder, daß dich gleich zwei Mann in Empfang genommen haben. Gibst du jetzt das Rennen auf?«
»Ich habe nichts aufzugeben. Ich sitze fest und kann nichts machen. Wozu dient eigentlich die ganze Komödie? Ich bin hier und werde für die nächste Zeit sicher hier bleiben. Wenn ich dir glauben kann, wird man dich bald laufen lassen. Womit ist mir also gedient?«
»Das will ich dir sagen. Überleg doch mal: ich habe den Plan. Weiter nichts. Ich weiß nichts damit anzufangen. Ceylon ist groß, und der Adampik ist hoch. Verstehst du?«
»Und ich soll dir den Plan erklären? Du glaubst wohl, ich bin verrückt? Ich weiß wohl: Mingal und ich sind die einzigen, die ihn lesen können. Aber was bekomme ich für meine Weisheit?«
Sommer beugte sich vor: »Die Freiheit und eine gute Belohnung.«
»Wenn man nur wüßte, ob man dir glauben kann«, stöhnte Bob. »Ich sage dir immer wieder: ich traue dir nicht.«
Sommer nahm den Wasserkrug, benetzte einen Finger und begann damit Figuren auf den Tisch zu zeichnen. Bob sah aufmerksam hin, aber plötzlich wischte Sommer alles wieder mit seinem Ärmel aus. »Ich wollte dir nur zeigen, daß ich den Plan so gründlich kenne, daß ich ihn dir auswendig aufzeichnen kann. Bist du jetzt überzeugt?«
»Was ich da eben gesehen habe, das genügt mir. Ich kenne den Weg und Steg. Also welchen Anteil bekomme ich?«
»Anteil?« frage Sommer nachdenklich zurück.
»Jawohl, Anteil. Für eine begrenzte Summe tue ich es nicht. Ich will einen bestimmten Prozentsatz von den Sachen haben, die da liegen.«
»Darüber habe ich nicht zu bestimmen. Das ist Ollys Sache. Es muß dir genügen, wenn ich dir sage, daß ich bei dir bleibe, bis wir mit allem fertig sind.«
»Und wie sollen wir dorthin kommen? Du vergißt, daß ich nicht einfach ausbrechen kann.«
»Du mußt ausbrechen. Aber nicht von hier aus. Ich lasse mich heute abend in eine andere Zelle bringen, verstehst du? Morgen früh markierst du irgendwelche Krämpfe. Das wirst du wohl können. Drüben die Leute machen so etwas sehr geschickt. Dann wird man dich, aller Vermutung nach, ohne viel Federlesens in die Krankenanstalt bringen. Da ist eine besondere Abteilung für Gefangene. Man wird dich untersuchen und kaum etwas finden. Nach zwei Tagen verweigerst du die Aufnahme jeglicher Nahrung. Es ist anzunehmen, daß man dich dann unter den Röntgenapparat bringt, um zu sehen, ob du schweigsamer Gast irgendetwas verschluckt hast. Vom Röntgenzimmer aus geht ein langer Gang bis zur Gefangenenabteilung. Unterwegs wird es sich für dich empfehlen, ohnmächtig zu werden. Du fällst wie ein Stein zu Boden. Die Schwester oder der Wärter läuft zurück, um Hilfe zu holen. Du hast dann die Möglichkeit, während ihrer Abwesenheit in irgendeines der Zimmer auf dem Flur zu gehen, kurzerhand das Fenster zu öffnen und herauszuspringen. Auf jeden Fall landest du im Garten. Versuch' dann, so schnell als möglich die Isolierbaracken zu erreichen. Die sind gar nicht zu verfehlen. Sie liegen im Südteil des Gartens, sind flach und lang und haben ein schneeweißes Dach. Merk dir das gut. Hinter der Isolierbaracke ist eine Desinfektionsanstalt: ein kleiner roter Ziegelbau. Da ist ein Kohlenkeller, von der Seite aus zu erreichen. Auf die Gefahr hin, recht dreckig zu werden, kriechst du hinein. Du mußt dort so lange bleiben, bis ich komme. Hast du verstanden? Wiederhole mal.«
Bob wiederholte alles und prägte es seinem Gedächtnis erneut ein. »Und was machst du inzwischen?«
»Ich betreibe meine Freilassung«, lachte Sommer. »Mir kann man nämlich nichts nachweisen. Ich habe mich doch nur einsperren lassen, um mit dir Fühlung zu bekommen. Ja, da reißt du die Augen auf. Glaubst du, daß nur Ovel sich rührt? Wir rühren uns auch, mein Lieber. Und wir haben den Plan. Also ist der Vorteil der heftigen Bewegung wohl auf unserer Seite.«
Gleichwohl blieb Bob mißtrauisch und aufmerksam. Gegen Abend veranstaltete Sommer einen furchtbaren Lärm. Er verlangte energisch, in eine andere Zelle gebracht zu werden; lieber allein, als mit diesem schweigsamen Gast zusammen. Er machte einen derartigen Höllenspektakel, daß die Wärter, schon um selber Ruhe zu haben, ihn herausholten.
Bob überlegte, daß er nicht viel zu wagen habe. Darum wollte er den Versuch machen, den Weg zu bestreiten, den dieser unbekannte Sommer ihm vorgezeichnet hatte. Eigentlich war alles recht klar und übersichtlich. Alles sprach von sorgsamer Überlegung und genauer Kenntnis von Ort und Möglichkeiten.
Die Wärter fanden ihn am nächsten Morgen, ganz zusammengekauert, mit zusammengepreßten Händen und Zähnen, auf dem Boden vor seiner Pritsche liegen. Sie hoben ihn auf das Bett zurück und holten den Arzt. Der untersuchte aufmerksam, ohne etwas Bestimmtes feststellen zu können. »Na, auf jeden Fall ins Krankenhaus, damit wir ihn unter Beobachtung nehmen können.«
Er gab ihm eine Einspritzung, die Bob heldenhaft ertrug. Wenn er nur gewußt hätte, welche Wirkung normalerweise davon zu erwarten war! Aber instinktiv machte er es richtig. Er löste die verkrampften Bewegungen etwas und warf sich, Kehllaute röchelnd, zur Seite.
Der Arzt sah ihn an und sagte: »Hm, also ab mit ihm.«
Bob wurde, wenn auch nicht allzu sanft, in einen Krankenwagen geschafft und weggebracht. Die Vorgänge fingen an, ihm zu behagen. Man brachte ihn in ein helles, geräumiges Zimmer. In dem schönen weißen Bett fühlte er sich recht wohl und machte sich sofort an einen ausgiebigen Dauerschlaf. Er wachte auf, als er undeutlich verschiedene Stimmen hörte und das grelle Licht einer elektrischen Lampe über den Augenlidern fühlte. Er mußte sich über die Maßen beherrschen, um seinen Schrecken nicht zu verraten. Er blinzte mit den Augen und sah, daß ein Arzt, ein weiterer – offenbar ein Assistent – und eine Krankenschwester im Zimmer waren. Der Arzt fühlte ihm den Puls, und Bob glaubte ihm, als er ihn sagen hörte: »Stark beschleunigt.«
Sodann fühlte er; daß ihm ein Thermometer in die Achselhöhle geschoben wurde und daß die Schritte das Zimmer verließen. Er sah durch einen Spalt der Augen, daß es leer war.
Sofort nahm er das Thermometer und hielt es gegen die Birne der kleinen Nachttischlampe. Es stieg erfreulich: 37 – 37,5 – 38 – 38,5 – … Bob meinte, nun sei es genug. Er legte es in die Achselhöhle zurück und machte es sich wieder behaglich. Als die Krankenschwester kam und abgelesen hatte, notierte sie etwas auf einer Tabelle, drehte das Licht aus und ging.
Bob war ein Mensch, der so leicht nicht aus der Fassung zu bringen war. Er hatte in seinem Dasein viele Situationen erleben müssen, die eine Menge Selbstbeherrschung und Geschmeidigkeit verlangten. Aber selten hatte er innerlich so geflucht wie in diesem Augenblick, und zwar lediglich darüber, daß er mit diesem Krankspielen die Zeit sowohl für das Mittag- als auch für das Abendessen verschlafen hatte. Er war eben eine optimistische Natur trotz allem, und kaum sah er am Horizont die blassen Hoffnungsstreifen der Befreiung, als er schon – wie eben jetzt – den kleinen Dingen seine Aufmerksamkeit zuwandte. Er hatte oft genug im Leben gehungert, wenn es nicht anders gehen wollte; aber hier wäre es anders gegangen, wenn seine Verschlafenheit ihm nicht einen Streich gespielt hätte.
Eines aber hatte diese lange Nacht im Gefolge: er sah vor Hunger und Zorn am nächsten Morgen wirklich elend aus. Der beschleunigte Puls, die abendliche Temperatur und dieses Aussehen gaben ihm wirklich den Anschein eines Kranken. Aber man betrieb seine Ernährung vorsichtig. Die Schwester brachte ihm gegen acht Uhr einen Teller mit Haferschleim, den er langsam auslöffelte. Er hatte in den folgenden Stunden und am nächsten und übernächsten Tag überhaupt seine Gedanken nur auf die Mahlzeiten gerichtet. Mehr zu denken war er nicht in der Lage. Dieses Denken war umso dringlicher und schmerzlicher, als er, gemäß Sommers Weisung, nun aufhören mußte, zu essen. Er drückte die Hand über den Magen, schloß die Augen, stöhnte leise vor Hunger und rührte sich nicht. Dann ging alles so, wie der kesse Sommer es ihm vorausgesagt hatte. Der Arzt knetete auf seinem Leib herum. Bob zuckte bei einer bestimmten Stelle, die er sich genau merkte, krampfhaft zusammen.
»Vielleicht Fremdkörper«, meinte der Arzt zu dem Assistenten. »Diese Kerle verschlucken ja allerhand. Wollen ihn mal unter den Röntgenapparat bringen.«
Bald darauf erschien ein baumlanger Wärter – ach, dachte Bob, wäre doch eine Krankenschwester gekommen – nahm ihn unter die Arme und hob ihn auf. Bob machte ihm andeutende Bewegungen, daß er alleine gehen wollte. »Umso besser«, brummte der Wärter.
Langsam, sich an der Wand entlang tastend, ging Bob vorwärts. So hatte er ausreichend Gelegenheit, sich alles genau einzuprägen. Er kam, wie Sommer vorausgesagt hatte, in den langen Gang. Rechts und links waren Türen, alle mit Mattglasscheiben und Aufschriften: Laboratorium+I, Laboratorium+II, Kassenverwaltung, Inspektion, Geistlicher … Bob nahm sich vor, durch das Zimmer des Geistlichen zu gehen …
Dann lag er in dem verdunkelten Raum, in dem es aus Glasröhren funkte und knisterte. Auch diese Prozedur ging vorüber. Der Wärter hob ihn vom Tisch herunter, und wieder ging es in den langen Gang hinein.
Kurz vor der Tür zum Zimmer des Geistlichen sank Bob lautlos zu Boden. »Er hat schlapp gemacht«, sagte der Wärter, duckte sich und nahm ihn wie ein Kind auf die Arme.
Jetzt war die vergnügte Spielerei zu Ende. Nun wurde es bitterer Ernst. Noch zwanzig, fünfzehn Schritte, und dieser Riese von einem Wärter hatte ihn mühelos wieder in seine Krankenzelle gelegt. Er spürte die stahlharten Muskeln der Arme durch seinen dünnen Anzug. Er versuchte, sich etwas zu schütteln; aber das hatte nur den Erfolg, daß der Wärter ihn noch stärker anpackte. Er wollte verhindern, daß der Ohnmächtige ihm nochmals auf den Boden fiel.
Jetzt waren es nur noch fünfzehn Schritte, vielleicht nur noch zehn bis zum Ende des Ganges, wo die schwere Gittertür lag. Bob öffnete ein wenig die Augen, sah das breite, gedrungene Kinn des Wärters gerade über sich und stieß plötzlich seinen Schädel mit aller Wucht und Wut dagegen, so daß er den Rückstoß bis weit in das Genick hinein spürte. Von dem Anprall taumelte der Wärter bis an die Wand zurück. Seine Arme öffneten den massiven Griff; aber sie ließen nicht los. Er konnte nur annehmen, daß der Kranke in einem Anfall von Krämpfen oder Zuckungen diese Bewegung ausgeführt hatte. Darum dachte er in dieser Sekunde weder an eine Gefahr noch an eine unmittelbare Abwehr. Aber die geringe Lockerung seines Griffes genügte Bob, den rechten Arm frei zu bekommen. Er schwang ihn und schlug mit der starr geballten Faust dem Wärter einen zweiten Hieb unter das Kinn. Es war ein ausgesprochener Boxerhieb, der mit vollendeter Präzision die richtige Stelle erreichte.
Jetzt sank der Wärter zurück und gab Bob frei. Ein dritter Hieb streckte ihn ohnmächtig zu Boden. Bob riß ihm die Mütze vom Kopf und drückte sie ihm über das Gesicht. Dann war er mit zwei großen Sprüngen am Zimmer des Geistlichen. Er drückte die Klinke. Die Tür war verschlossen! Ohne Besinnen sprang er zur nächsten Tür. Verschlossen! Die nächste Tür war das Laboratorium. Es war fast unvermeidlich, daß Menschen darin waren. Er konnte sich vorstellen, daß der Raum der ganzen Länge nach mit Tischen voll Gläsern und Präparaten verstellt war. Ehe er alle diese Hindernisse genommen hatte, war er zehnmal gepackt und überwältigt.
Aber es blieb ihm keine andere Wahl. Sein Gehirn arbeitete in dieser brennenden Gefahr mit der Geschwindigkeit und Genauigkeit eines Motors. Er riß die Tür auf, mit einem harten, schlagenden Geräusch. Im Zimmer drehten sich zwei Laboranten, die dort arbeiteten, erschreckt um. Bob lehnte sich gegen die Wand, die Augen krampfhaft aufgerissen, deutete mit der Hand in den Gang hinaus und würgte, wie zu Tode erschreckt, die Worte hervor: »Da draußen … der Wärter … verunglückt!« Dann deckte er seine Hand über die Augen und blieb erschöpft stehen.
An ihm vorbei schossen die beiden Laboranten zur Tür hinaus, um zu sehen, was draußen geschehen sei. Da schloß Bob schnell und leise die Tür hinter ihnen zu, ging um die langen Tische herum an eines der weit geöffneten Fenster, war mit einem Sprung draußen und ging in aller Ruhe, ohne sich durch seine Hast bemerkbar zu machen, wie ein in der Anstalt beschäftigter Monteur zu den Isolierbaracken hinüber. Da sah er schon die roten Ziegelmauern des Desinfektionshauses. Er ging hinein, fand seitwärts eine eiserne Tür, geschwärzt und verrußt, und öffnete sie. Ein Dunst von Heizungskohle stieß ihm entgegen. Es knirschte unter seinen Schritten. Er zog die Tür hinter sich zu und war im Dunkel. Vorsichtig stieg er über die schweren Brocken hinweg, machte sich oben auf dem Haufen eine Mulde und legte sich hinein. Wenn dieses Lager auch mit seinem schönen weißen Krankenbett keinen Vergleich aushalten konnte, so war es doch nicht hinter Schlössern und Eisenstäben.
Er atmete schwer und erschöpft. Diese letzte Zeit der Untätigkeit und der beschränkten Freiheit hatte ihn doch mehr geschwächt, als er vermutet hatte. Es hing jetzt alles davon ab, die letzten Kraftreserven heranzuholen, um nicht noch im letzten Augenblick zu versagen.
Er lag da und mühte sich, wieder ruhig zu atmen, sich nicht in Aufregung zu verschwenden und klare Sinne zu behalten. Sein Schicksal war nach wie vor ungewiß. Er kannte Sommer nicht; hatte ihn nie gesehen und hatte nie von ihm gehört. Aber Sommer kannte den Plan … oder vielleicht besaß er ihn sogar, wie er im Untersuchungsgefängnis behauptet hatte. Aber das war bei ruhiger Überlegung kaum denkbar. Bei der Beratung mit Mingal und Ovel war sehr wohl die Vermutung aufgetaucht, daß der Detektiv Aren den Plan habe, daß er ihn in dem Buch gefunden und entfernen lassen hatte und daß er aus diesem Grunde den Diebstahl ruhig geschehen lassen konnte. Er konnte aber auch noch beim Buchbinder liegen, weil er unentdeckt geblieben war. Bob wußte jetzt, daß die Möglichkeit ausschaltete, denn sonst hätte man ihn nicht gleich beim ersten Versuch des Einsteigens durch zwei Beamte in Empfang genommen. Das konnte nicht Zufall sein. Das war bestellte Arbeit.
Und wenn Aren den Plan nicht gefunden hatte, blieb immer noch unklar, wie er um den Einbruch in seine Wohnung und bei dem Buchhändler wissen konnte. Vielleicht Olly? Gleichgültig; jedenfalls besaß Sommer den Plan nicht, sondern Aren … es sei denn … er weitete im Dunkeln erschreckt die Augen … es sei denn, daß Sommer und Aren ein und dieselbe Person seien.
Er drückte sich beide Fäuste auf die Stirn, aus Wut, daß er nicht früher an eine solche Möglichkeit gedacht hatte. Was war jetzt das Ergebnis? Man hatte ihm das Geheimnis entlockt, daß er weder taub noch stumm sei; man hatte seine Beziehungen zu Ovel und Mingal klar aufgedeckt und hatte im übrigen noch einen guten Grund, ihn wegen dieser Flucht und des Angriffs auf den Wärter sehr fest hinter Schloß und Riegel zu halten.
Er weinte vor Wut und Verzweiflung. Aber sein Zorn war größer als seine Niedergeschlagenheit, und er versuchte noch einmal, zu einem klaren Gedanken zu kommen. Und da fand er, daß es noch zwei andere Möglichkeiten gab. Es konnte sein, daß Aren den Plan noch beim Buchbinder gelassen hatte, und daß einer von Ollys Helfern ihn in der zweiten Nacht dort entwendet hatte, als sein eigener Versuch in der ersten Nacht fehlgeschlagen war. Zum anderen konnte es auch sein, daß es einem von Ollys Helfern gelungen war, was Mingal mit einem Beinschuß und einem Fehlschlag bezahlen mußte: das Blatt mit dem Plan bei Aren selbst zu entwenden oder sich eine Kopie zu besorgen.
Beide Möglichkeiten blieben unsicher. Entscheidende Aufklärung würde er erst bekommen, wenn Sommer wirklich erscheinen würde, um ihn aus dieser Situation zu befreien. Und gerade das erschien ihm jetzt zweifelhaft. Einige Minuten später wußte er, daß Sommer in der Nähe war; aber nicht, um ihn zu befreien, sondern um ihn auszuliefern! Aus dem kleinen Luftloch oben an der Mauer, dicht unterhalb der Decke, konnte er Geräusche und Rufe aus dem Garten der Anstalt hören. Dazwischen unterschied er deutlich Sommers Stimme. Er vernahm ganz klar die Worte: »Im Kohlenkeller!«
Obgleich er wußte, daß er verloren sei, drückte er sich tiefer in seine Mulde hinein, in instinktiver, letzter Abwehr. Er bedeckte sich in aller Eile mit großen Koksbrocken, preßte die Arme kreuzweise über das Gesicht und schüttelte mit den Ellenbogen noch einige Brocken darüber. Bald darauf wurde die eiserne Tür aufgerissen. Ein-, zwei-, dreimal wurde mit großen Schürhaken in den Koksberg gestoßen. Es rollte und knisterte und stäubte. Dann schlugen die langen Stangen bis oben auf den Berg hinauf. Sie trafen überall auf Koks, gaben überall dasselbe harte, rasselnde Geräusch. Ihm stand für Sekunden das Herz still.
»Hier ist er nicht«, sagte eine Stimme. Obgleich ihm das Blut mit lauten Schlägen zu Kopf drang, konnte Bob doch unterscheiden, daß diese Stimme zwar ähnlich klang wie Sommers Stimme, aber doch nicht seine Stimme sein konnte.
Die Eisentür fiel wieder in das Schloß. Die Schritte entfernten sich. Hin und wieder rollte noch ein Stück Koks den Berg hinunter, und jedesmal brannte der Schreck wie glühendes Eisen. Dann wurde es ganz ruhig.
Der schwache Streifen Licht aus der Luftöffnung her wurde blasser und verdämmerte endlich. Von dem kleinen Turm der Kapelle konnte er die Schläge der Uhr hören. Es wurde zehn, dann elf Uhr, dann Mitternacht. Seine Glieder schmerzten unerträglich. Keine Stelle seiner Haut war frei von dem scharfen Druck der Koksbrocken. Lange war diese Tortur nicht mehr zu ertragen. Er bereitete sich darauf vor, sein Versteck zu verlassen und die Flucht auf eigene Rechnung zu versuchen.
Warum hatte er das eigentlich nicht längst getan? Schon vor zwei, drei Stunden wäre es möglich gewesen. Einhundertachtzig Minuten Schmerz und Nadelstiche hätte er sparen könne. Er wußte, daß ringsum der Anstaltsgarten war. Man würde ein Krankenhaus wohl mit einem Gitter umgeben, aber nicht mit einer unübersteigbaren Mauer. Auch Wachtposten waren nicht zu vermuten, denn hier war doch kein Gefängnis. Und irgendwie würde er schon den Weg zu Ovel oder zu Alming finden. Aber da lag eine Schwierigkeit. Sie wohnten immer und grundsätzlich getrennt. Sie wechselten auch fortgesetzt ihre Wohnungen. Sie gaben sie einander auch nur in dringenden Fällen bekannt, schon um den anderen vor jeder Versuchung oder jedem unfreiwilligen Verrat zu bewahren. In der Regel trafen sie sich an dritten Orten; meist nur zu zweit, selten zu dritt: und sie verabredeten dabei jedesmal einen neuen Treffpunkt.
Es war also ein Wagnis, in diesem Zustand, barhäuptig, mit blauem Monteuranzug, völlig geschwärzt von Ruß und Kohlenstaub, sich in die Straßen zu wagen. Er zweifelte nicht mehr daran, daß gerade dieser Plan von Olly kam und daß er geeignet war, ihn völlig von seinen bisherigen Freunden zu entfernen und ihn der Frau und ihren Helfern auszuliefern.
Es schlug eins. Da öffnete sich unten mit einem kleinen Spalt die eiserne Tür. »Bob!« flüsterte jemand.
Bob antwortete nicht. Er fürchtete, in eine Falle zu geraten. Wieder diese Stimme: »Bob, mach' keinen Unsinn. Ich hänge dir hier ein Frauenkleid an die Tür. In fünf Minuten bist du fertig. Sonst riegle ich die Tür von außen zu.«
Diese Drohung war so mächtig, daß es dagegen keinen Widerstand gab. Der Trieb zur Selbsterhaltung regte sich wild. Es war nicht auszudenken, hier länger zu bleiben, vielleicht für Tage abgesperrt … bis er ermattet und erschöpft war und sich selber ausliefern mußte … oder hier einfach jämmerlich verhungern würde. Und endlich war es auf jeden Fall besser, eine noch so große Strafe abzusitzen, als hier auf dem Kohlenhaufen umzukommen.
Langsam befreite er sich aus seinem Versteck. Jede Bewegung schmerzte wie Brand in allen Gliedern und am ganzen Körper. Endlich war er unten auf der Erde. Er tastete zur Tür. Sie war einen Spalt weit offen. Er faßte in Stoff, betastete ihn, fand die Ärmel, den weiten unteren Teil eines Frauenkleides und die schmale Taille. Er schlüpfte hinein. Das Kleid schloß bis hoch an den Hals. Dann wartete er, kraftlos gegen die Tür gelehnt.
Die Flüsterstimme war wieder neben ihm: »Fertig?« – »Ja«, sagte er leise zurück. – »Dann nimm das Kopftuch hier. Gib mir deinen Arm. Hast du Stiefel an?« – »Nein, Filzschuhe.« – »Gut. Dann komm.«
Sie drückten sich um die Ecke des kleinen Gebäudes. Mit eiligen Schritten ging es durch den Garten. Dann kam eine dunklere Stelle, die im Schatten hoher alter Tannen lag. Sie gelangten von dort aus an eine niedere Mauer, über der sich ein spitzes Eisengeländer befand. An einer kleinen Pforte machten sie halt, sicherten noch einmal nach allen Seiten und schlichen hindurch.
Unmittelbar vor der Pforte stand ein kleiner, gedrungener Kraftwagen. Bob fühlte sich hineingestoßen. »Tuch über den Kopf!« kommandierte Sommer. Bob gehorchte. Ein kurzer, metallischer Laut, als der Anlasser das Schwungrad anwarf. Dann ein Ruck, und der Wagen schoß vorwärts, unaufhaltsam vorwärts.
Die Räder glitten über ruhigen Asphalt. Dann rollten sie etwas zitteriger über Steinpflaster. Endlich surrten sie über den Schotter einer blankgewalzten Chaussee. Bob hörte, daß der Auspuff geöffnet wurde. Die Fahrt wurde beschleunigt.
»So«, sagte Sommer. »Wenn du nicht erstickt bist, dann wirf das Kopftuch ab.«
Bob tat es mit einem Fluch. Aber das Licht der Scheinwerfer blendete ihn allein durch den Reflex so, daß er die Augen schließen mußte.
Nach geraumer Zeit hielt der Wagen. »Hier ist eine Viehtränke«, sagte Sommer. »Da wasch dich erst mal gründlich. Deine Ausstattung habe ich hinten im Koffer. Ich hole sie inzwischen heraus.«
»Vor allen Dingen gib mir was zu essen«, sagte Bob. »Mir ist ganz elend.«
»Essen kannst du, wenn wir weiterfahren. Hier, nimm vorläufig einen Schluck Kognak. Der macht dich lebendig.«
Bob tat einen langen Zug aus der flachen Reiseflasche. Er spülte, obgleich es ihn wie Gift brannte, allen Staub und alles Durstgefühl herunter. Dann warf er seine Kleidung ab und stieg in die Tränke. »Schnell machen!« drängte Sommer; und Bob gab sich Mühe, so sehr es ihm seine schmerzenden Glieder erlaubten. Dann wurde ihm Wäsche und ein Reiseanzug gereicht. Er hatte noch die letzte, entfernte Vorstellung, daß ihn jemand in den Sitz drückte, daß der Wagen mit einem Ruck vorwärtssprang … dann entglitt ihm das Bewußtsein.
Als er aufwachte, sah er über sich den blauen Himmel. Er blinzelte hinein und wußte nicht, wie er das zu deuten hatte. Er versuchte, sich darüber klar zu werden, ob er noch im Wagen saß und ob der Wagen noch fahre. Er tastete um sich. Aber er faßte kein Leder, sondern … Gras. Täuschung! Traum! dachte er. Er gab sich einen Ruck, schnellte zum Sitzen auf … und fand sich auf einer sommerlichen Wiese, allein, vor einer dichten Hecke aus Haselnußsträuchern!
Das konnte kein Traum sein. Er trug wirklich den Reiseanzug, den Sommer ihm in der Nacht gegeben hatte. Er betastete alle Taschen. Sie waren leer, bis auf eine, in der er ein einfaches Taschentuch fand, ohne jedes Zeichen oder Monogramm. Er sah ausdruckslos durch diese Landschaft, die er nicht kannte. Er stützte den Kopf in die Hände und stöhnte leise vor sich hin.
Da kam hinter der Hecke her eine bekannte Stimme: »Na, ausgeschlafen?«
Bob wußte nicht, ob er sich freuen oder ob er fluchen sollte. Ohne Sommer zu sehen, sagte er schwer und drohend: »Du hast mir was in den Kognak getan!«
»Das habe ich, lieber Bob«, antwortete Sommer und kam aus der Hecke heraus. »Ich hatte das Gefühl, als ob du immer noch ein wenig widerspenstig wärst, und ich hielt es darum für nötig, dir noch einmal zu beweisen, daß du diesen Widerstand auf jeden Fall aufgeben mußt. Du wirst jetzt einsehen, daß dir nichts anderes übrigbleibt.«
»Ich glaube schon«, sagte Bob dumpf. Dann sah er sich um: »Wo ist der Wagen?«
»Der Wagen ist weg. Mit dem Wagen kommst du also nicht weiter. Geld hast du auch nicht; ebensowenig eine Waffe. Du hast nicht einmal einen Paß. Aber alle diese schönen Dinge, lieber Bob, habe ich. Sogar einen wunderschönen Paß, der aussieht, als wäre er gerade für dich angemessen. Bob, ich frage dich nun zum allerletztenmal: gibst du dich zufrieden? Und gibst du mir die Hand darauf, daß es dabei bleibt? Ich will dich nicht zwingen, damit du nachher nicht sagen kannst, du hättest ein Recht, dein Versprechen zu widerrufen. Ich bin bereit, dir den Weg zur nächsten Station zu zeigen und dir auch etwas Reisegeld zu geben. Es steht ganz bei dir. Vorher will ich dir aber eins sagen, und das sag' ich dir auf Ehrenwort: ich habe den Plan vernichtet …«
Bob sprang auf: »Mensch, bist du wahnsinnig?«
»Ruhig! Ruhig! Hör' nur weiter zu. Ich habe ihn vernichtet, nachdem ich ihn auswendig gelernt habe. Ich kann ihn in jedem Augenblick wieder aufzeichnen, mit jeder, selbst der geringsten Einzelheit. Aber das tue ich erst, wenn wir an Ort und Stelle sind, und dann nur stückweise, damit du mir nicht mit meinen Kenntnissen davonläufst. Nun überleg' dir die Sache.«
»Es gibt nichts mehr zu überlegen«, sagte Bob. »Ich erkenne an, daß du der Stärkere bist. Hier hast du meine Hand. Ich gebe dir auch mein Ehrenwort, daß ich mich nicht gezwungen fühle. Nur wäre ich dir dankbar, wenn du mir etwas zu essen verschaffen könnest.«
Sommer lachte: »Dann bemühe dich, bitte, auf die andere Seite der Hecke. Da steht alles zu deinem Empfang bereit.«
Bob sah einen kleinen Handkoffer, der mit einer Papierserviette überdeckt war. Darauf standen, wie zu einem Picknick geordnet, eine Reihe von Büchsen und kleinen Flaschen. Bob hielt sich nicht lange mit der Prüfung auf. Er aß und trank, bis der letzte Krumen und der letzte Tropfen verschwunden waren. Dann lächelte er friedlich: »Darf ich noch eine Stunde schlafen? Ich bin so wunderschön satt.«
»Meinetwegen«, sagte Sommer. »Eine Stunde kann ich noch drangeben. Aber nachher müssen wir den Weg unter die Beine nehmen. Vergiß das nicht.«
»Das vergesse ich nicht«, sagte Bob und war in der gleichen Sekunde eingeschlafen.
Genau nach einer Stunde wurde er geweckt. Er war sofort munter und sprang auf. »Geht's jetzt los? Schön. Dann laß mir den Handkoffer. Ich fühle jetzt Bärenkräfte in mir.«
Neben der Wiese her lief eine Landstraße, durch einen Graben abgetrennt. Sie waren mit einem vergnügten Sprung drüben und trabten über die Chaussee, an deren Ende das rote Gebäude einer kleinen Station winkte. – – – –