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3. Kapitel.
Drei Spritzen

Mit schwindendem Bewußtsein, das jedoch nicht ganz erlosch. Ich wußte genau, daß ich auf den Knien lag und mit den vorgestreckten Händen mich stützte, daß die Tränen mir immer noch aus den brennenden Augen stürzten und daß diese qualvolle Reizung sich auch in anderer Weise äußerte: durch ein Brillantfeuerwerk, durch bunte Blitze, durch Raketen, rasende Feuerräder und züngelnde Flammenzungen. Ich merkte auch, daß mir nun die Arme nach hinten gerissen wurden, daß man mich hochriß, in den Korbsessel zurückdrückte und jemand meine Kiefer mit einem kalten Gegenstand weit öffnete ...

Mein Wahrnehmungsvermögen, die Fähigkeit der Selbstbeobachtung wurden kräftiger und klarer; die halbe Betäubung wich, und auch der Reiz auf meinen Tränendrüsen ließ nach.

Immer noch umflorten Blickes sah ich Haldens schlanke Gestalt an einem langen, schmalen Operationstisch hantieren, auf dem ein menschlicher Körper lag. Der verstellbare Tisch war schräg nach unten gerichtet, so daß die Füße des Körpers tiefer lagen und ich nach einiger Anstrengung auch das Gesicht erkennen konnte – überhaupt die ganze Gestalt: es war Ernst Mendels Leiche!

Nun schwanden auch die letzten Nebel ...

Die Umgebung war dieselbe geblieben: der Bestrahlungsraum ... Rechts von mir Harst, gefesselt, geknebelt, an den Rohrsessel gebunden wie ich ... Rechts von Harst Arno Matzka ...

Wir drei hatten die Partie verloren ... Halden hatte uns überlistet. Mein Hirn prüfte die Vorgänge der letzten Minuten mit sachlicher Schärfe: die Zigaretten, die die beiden sich in den Mund gesteckt hatten, Halden und Manquier, waren nichts anderes als winzige »Gasmasken« gewesen.

Halden beachtete uns nicht.

Er ging hin und her, holte allerlei Fläschchen, kochte eine kleine Injektionsspritze aus, – alles mit der Ruhe des Arztes, der an besondere Experimente gewöhnt ist.

Nun füllte er die gereinigte Spritze aus einem winzigen Fläschchen mit einer grünlichen Flüssigkeit, prüfte, ob in der Spritze sich keine Luftbläschen mehr befänden, und lehnte sich leicht am fahrbaren Operationstisch.

Sein Gesicht war die Maske des tadellosen Ehrenmannes – sein Ton mild und freundlich ...

»Meine Herren, ich bedauere aufrichtig, daß Ihr Verhalten mich zwang, Ihnen den Beweis zu liefern, daß ich Leuten Ihrer Art gewachsen bin. Da die Situation hierdurch eine erhebliche Verschiebung zu unser beider Ungunsten erfahren hat: Sie sind in meiner Gewalt, und ich muß notwendig das Feld räumen, nachdem ich Ihnen einen letzten Beweis meiner mannigfachen Künste gegeben haben werde, – da also die Dinge jetzt ganz anders liegen, will ich der Wahrheit die Ehre geben: Ich habe in der Tat einige meiner Patienten zu wissenschaftlichen Zwecken insofern mißbraucht, als ich ihnen Gifte, von mir erfunden, in die Blutbahn spritzte, um die Wirkung dieser Gifte auch am menschlichen Organismus erproben zu können. Sie wissen fraglos, meine Herren, daß das berühmte Pfeilgift der südamerikanischen Indianer, das Curare, eine fast augenblickliche Lähmung des Nervensystems herbeiführt, und daß die mit Curare Vergifteten zunächst nur völlig Gelähmten gleichen und der Tod erst später eintritt – wann, darüber wußte man bisher nichts Bestimmtes. Diese Gelähmten, das ist erwiesen, behalten bis zum endgültigen Verscheiden Gehör, Geschmack, Gesicht, auch die Fähigkeit, logisch zu denken. Es sind lebende Leichname, zum langsamen Absterben verurteilt, – es sind also seelische Höllenqualen, die diese Aermsten erdulden, bevor ihr Herz den letzten Schlag getan hat. Mir ist es nun gelungen, dieses Curare erheblich zu ... verbessern. Ich habe mit meinem neuen Giftstoff, den ich Haldin nenne, die eigenartigsten Krankheitssymptome hervorrufen können. Das Haldin in starker Verdünnung wirkt nur auf die Augen und erzeugt leichte Sehstörungen. Eine stärkere Mischung macht den Patienten unfähig, Personen zu erkennen: er sieht nur immer sich selbst. Das reine Haldin tötet scheinbar blitzartig, läßt aber den Betreffenden dennoch unbegrenzt weiterleben – als lebenden Leichnam, insofern unbegrenzt, als der verborgen glühende Lebensfunke erst erlischt, wenn der Körper infolge Mangel an Nahrungsaufnahme dahinwelkt und schließlich seine nicht mehr spürbaren Funktionen gänzlich aussetzen. Das kann Wochen dauern, je nachdem der Betreffende mehr oder weniger widerstandsfähig ist. – Ich hatte nun Grund, Ernst Mendel aus dem Wege zu räumen. Ich verreiste angeblich, verbarg mich in Mendels Zimmer, gab ihm, den ich chloroformiert hatte, eine Spritze fast reinen Haldins, ließ die Retorte explodieren, und verließ das Haus wieder – natürlich verkleidet. Aber die Wirkung der Spritze versagte teilweise, wahrscheinlich dadurch, daß ich Mendel vorher chloroformiert hatte. Ich kehrte scheinbar von meiner Reise zurück, nahm Mendel in mein Haus und hatte die Genugtuung, einen Menschen nunmehr in meiner Gewalt zu haben, den ich haßte, – – falls dieser Ausdruck meine Empfindungen gegenüber Mendel zu erschöpfen vermag ...«

Wie er das so mit seiner fraglos angenehmen Stimme hinsprach, als handele es sich um eine gleichgültige Nichtigkeit, beschlich mich wiederum dasselbe Grauen, das ich in diesem verfl... Hause schon mehrfach empfunden hatte. Jetzt wußte ich mit Bestimmtheit: von diesem Ungeheuer in Menschengestalt ging ein unmerkliches Fluidum aus, das man erst spürte, wenn man ihn näher kannte, ein Fluidum wie ein Pesthauch ...

»Was mit Mendel schließlich geschehen, meine Herren ...« – o, wenn dieser Satan wenigstens einmal den schleimigen Tonfall geändert hätte!! – »das sehen Sie hier vor sich ... Mendel hat eine zweite Spritze reinen Haldins bekommen und ist ... scheinbar tot – – scheinbar ... Sein Ableben habe ich bereits der Polizei gemeldet. Der Totenschein ist in Ordnung, und nach drei Tagen wird Mendel eingeäschert werden – – lebendig-tot, wie er hier vor uns liegt, wie er hier jedes Wort hört, das ich spreche, und, wenn ich ihm die Lider hebe, auch alles sehen kann. Er weiß also, was ihm droht: das Ende im Ofen des Krematoriums. Er weiß es, und er wird alle Höllenqualen der Angst durchmachen, bevor die Hitze ihn vollends tötet. – Sie könnten nun zweifeln, daß Mendel nur ... scheintot ist, meine Herren, daß ich Ihnen vielleicht nur grauenvolle Dinge erzähle, die lediglich in meiner Phantasie geboren sind. Ich will Ihnen beweisen, daß Mendel noch lebt. Hier in dieser Injektionsspritze befindet sich das Gegengift gegen mein Haldin. Geben Sie acht ...«

Er beugte sich über den armen Chemiker, stieß ihm die nadelfeine Spitze in den linken Unterarm und preßte das Gegengift in die Blutbahn, zog die leere Spritze wieder heraus und ... lächelte uns an ...

»Es dauert nur drei bis vier Minuten,« sagte er ... »Dann tritt die Wirkung ein, die freilich nur vorübergehend ist, da ich die Dosis Gegengift sehr karg bemessen hatte ...«

Er setzte sich in den Korbsessel neben den Operationstisch und beobachtete das Gesicht des ... Toten ...

»Ich?! ... Mir standen kalte Schweißperlen auf der Stirn.

Eine fürchterliche Ahnung war mir soeben aufgegangen.

Wenn Halden etwa auch uns drei durch sein Haldin in ... Scheintote zu verwandeln beabsichtigte ...?!

Wir konnten uns ja nicht wehren ...

Und er ... wollte fliehen, hatte er vorhin erklärt. Sicherlich hatte er einen geheimen Fluchtweg vorbereitet, und daß draußen Matzkas Leute und unsere Kriminalbeamten Posten standen, würde zwecklos bleiben ... Er würde entkommen, verschwinden, und uns drei würde man dann hier scheinbar leblos auffinden ...

Mir wurde fast übel bei diesem Gedanken vor unendlichem Grauen ...

Meine Blicke stierten Mendels Leichengesicht wie hypnotisiert an ... Da – – bei Gott – – Mendels Augenlider zuckten ... Die Wangen bekamen Farbe ... Die Lippen öffneten sich ... Ein pfeifender Atemzug ... noch einer – Die Augen waren offen ... Der Unterkiefer zitterte wie im Krampf ... Mit einem Ruck richtete sich Mendel halb auf, drehte den Kopf nach Halden hin, – – und ein gurgelnder Schrei folgte – – ein einziges Wort:

»Erbarmen!!«

Dann sank er wieder zurück ... Alle Anzeichen dafür, daß er noch lebte, erloschen wieder, als ob man eine Reihe von Kerzen ausbläse – eine nach der andern ...

Nun war's wie vordem: ein Toter lag auf dem Tische, einer, den jeder Uneingeweihte für tot halten mußte.

Ich?! ... Der kalte Schweiß lief mir die Wangen hinab – in den falschen Vollbart ... Der Schweiß kitzelte die Haut.

Vor meinen Augen schwammen wallende rosige Nebel ...

Ich war einer Ohnmacht nahe ...

Haldens Stimme peitschte mich auf ...

»Meine Herren, bevor ich mich nun von Ihnen für immer verabschiede, will ich Mendel wieder in sein Zimmer nach oben tragen und dann zurückkehren, um Ihnen gründlich Lebewohl zu sagen ... Sehen Sie her ... Hier liegen bereits die drei mit Haldin gefüllten kleinen Spritzen ... Es ist das letzte Haldin, das ich vorrätig habe ... Es genügt für Sie drei ... Und nachher benutze ich mein Schlupfloch ins Freie, meine Herren, – durch den Keller bis in eins der Treibhäuser, ganz hinten im Gemüsegarten ... Ein Gang, sauber abgestützt, bildet die Verbindung. Es war eine mühselige Arbeit ... Auf Wiedersehen ... Ich bin in ein paar Minuten wieder da. Werden Sie also nicht ungeduldig. Ich verspreche Ihnen: Sie werden in kurzem die Quittung für Ihre Einmischung in meine Angelegenheiten erhalten: den Scheintot!«

Er nahm die Leiche Mendels – nein, den lebenden, unglücklichen Mendel in die Arme und schritt die Treppe empor.

Oben klappte eine Tür.

Wir drei Opfer dieses Satans waren allein ...

Aber nicht verloren – noch nicht ...

Was Harald beabsichtigte, als er nun sofort seinen Sessel durch ruckartige Körperbewegungen, durch fortwährendes Hin- und Herkippen auf das Tischchen vorwärtsschob, wo die fertigen Spritzen lagen, – – das wurde mir sofort klar ...

Er wollte die Spritzen herabstoßen ...

Sie mußten auf dem Fliesenboden zerbrechen, und ihr Inhalt würde über die Fliesen sickern, würde nicht mehr benutzbar sein ...

So dachte ich ... Und – – irrte mich ...

Harsts körperliche Gewandtheit triumphierte über die Fesseln, über den Sessel, den er mit sich vorwärtsschleppen mußte. Er erreichte das Tischchen ...

Er hatte nur die Lippen und die Zähne zur Verfügung, denn der Knebel in seinem Munde war im Genick festgebunden – und seine Hände auf dem Rücken gefesselt – – wie bei Arno Matzka und mir ...

Er war Jongleur ... Er ist ja alles, was er sein will.

Er benutzte die Tischkante als Stützpunkt ... Er entleerte die Spritzen ... Er tat noch mehr ...

Auf dem Tischchen stand ein halb gefülltes Wasserglas, daneben eine Karaffe ...

Er brachte es fertig, die Spritzen mit Wasser zu füllen, indem er das Glas mit der Schulter festdrückte und den Rand des Wasserglases als Halt für die Spritze verwandte ...

Es ging ... Er arbeitete mir vollkommenster Ruhe ...

Er legte die mit Wasser gefüllten Spritzen auf denselben Platz zurück, verwischte ein paar danebengefallene Tropfen mit den Lippen ... Und wackelte zurück mit seinem Sessel ...

Keine Sekunde zu früh ...

Halden kam. –

Vielleicht wird der Leser sich fragen, weshalb wir nicht versuchten, unsere Fesseln abzustreifen ... Weil es unmöglich war ... Weil Halden Draht, weichen Eisendraht benutzt hatte ... Und Draht gibt nicht nach ... Draht schneidet in das Fleisch ein ... –

Halden kam. –


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