Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2. Kapitel.
Im Bestrahlungsraum

Es war nicht nötig. Es kam alles ganz anders. Es kam der Auftakt zum zweiten Teil dieser Gewitternacht.

Wir warteten also ...

Wir horchten ...

Urplötzlich flammte die Ampel in der Diele auf.

Urplötzlich ... Das Knacken des Drehhebels des elektrischen Schalters war durch den Lärm des Gewitters übertönt worden.

Haldens sanfte Stimme dann:

»Meine Herren, Sie haben es etwas unbequem dort hinter dem Wandschirm. Bitte, wollen wir lieber Auge in Auge uns aussprechen. Ich glaube, wir werden auf diese Weise am weitesten kommen, denn – wir sind wahrscheinlich gegenseitig in groben Irrtümern befangen. Ihre Anwesenheit hier verrieten mir die drei fehlenden Hocker und hier dieses Stückchen eines falschen Bartes auf dem Teppich. Bei solchem Regen lösen sich angeklebte Bärte leicht los und man verliert ebenso leicht Teile davon ...«

Harst erhob sich, rückte den Schirm beiseite.

Halden saß in der einen Ecke des großen Ledersofas mit übereinander geschlagenen Beinen – noch im tadellosen Frack, eine Gardenia im Aufschlag, zwischen den Fingern eine Zigarette.

Harst schaute rasch nach der Tür des Sprechzimmers. Die Vorhänge waren halb zurückgeschoben, und auch ich konnte in das leere Sprechzimmer hineinschauen.

Halden stand nun gleichfalls auf, verbeugte sich sehr korrekt und fragte höflich: »Wer ist der dritte Herr, Herr Harst?«

»Der Kollege Arno Matzka, beauftragt von Kamir Nussra, der den gegen ihn aufgetauchten Verdacht schleunigst völlig entkräften will.«

»Wie ich, Herr Harst ...,« nickte Ferdinand Halden mit jenem versonnenen Lächeln, das seine Züge noch durchgeistigter erscheinen ließ. »Vielleicht darf ich die Herren in den Bestrahlungsraum bitten, wo mein Freund Aristide Manquier sich vor dem Kasten der Höhensonne künstlich sonnt ... Hier ist's zu kühl ...«

Halden schritt voran – durch das Sprechzimmer, stieß hier eine Tapetentür auf und stieg eine kurze Treppe hinab, die in einen langgestreckten, weißen Kellerraum mündete, der voller Apparate aller Art stand.

Ein Herr im Frack erhob sich aus einem Korbsessel und nahm die Schutzbrille ab, die er hier im Bereich der Strahlen aufgesetzt gehabt hatte. Auch er war im Frack. Eine mittelgroße schlanke Erscheinung, schwarzes, gescheiteltes Haar, sehr frische Farben, volles Gesicht, kleines schwarzes Bärtchen.

»Mein Freund Aristide Manquier,« stellte Halden ihn uns vor. »Manquier ist Elsässer, meine Herren, aber Deutsch-Elsässer, Naturforscher und Physiker dem Beruf nach ...«

Herr Aristide verbeugte sich tadellos und musterte uns neugierig, besonders Harald.

Dann lachte er herzlich auf und streckte Harst die Hand hin. »Herr Harst, diese meine Hand lege ich für Halden ins Feuer, und diese meine Hand können Sie ruhig drücken, denn ich gehöre zu Ihren glühendsten Bewunderern.«

Harst ging auf den leichten Ton jedoch nicht ein. »In meiner Hand, Herr Manquier, sehen Sie eine Waffe, die leider schon so manches Menschenleben bedrohen mußte. Ich hoffe, daß dies heute hier nicht nötig sein wird ...«

Aristide schüttelte den Kopf. »Himmel, sind Sie ein ... Pedant, Herr Harst!!«

»Laß das!« rief Halden da, der noch vier weitere Rohrsessel herbeischob, nachdem er die Höhensonne ausgeschaltet hatte. »Bitte – nehmen wir Platz ...«

Dabei setzte er sich neben Manquier, der seinen Sessel umgedreht hatte.

Die fünf Sessel bildeten etwa einen Kreis, und zwar saßen wir drei Verbündeten, mit dem Rücken nach der Treppe hin, während Halden und Manquier wieder den großen Höhensonne-Apparat im Rücken hatten.

Halden begann dann sofort:

»Herr Harst, falls Sie hier an dieser Platzverteilung oder sonstwie etwas zu bemängeln haben, so sprechen Sie ganz offen ...«

»Ja, – ich habe daran etwas auszusetzen,« erklärte Harald kurz. »Sie beide werden sich mit dem Rücken nach der Treppe plazieren, und wir drei mit den Gesichtern dorthin. Das erscheint mir ratsamer.«

»Wie Sie wünschen ...,« – und Halden erhob sich.

Nun saßen wir so, wie Harst es gewünscht hatte ... Saßen immer noch mit den Taschenlampen und den Pistolen in den Händen da, um jeder Teufelei vorbeugen zu können. Ging etwa das Licht aus, so konnten wir sofort die Szene wieder beleuchten und blieben Herren der Situation. Ich meinerseits hielt es für ausgeschlossen, daß uns unter diesen Umständen etwas zustoßen könnte. Und dennoch wollte bei mir ein Gefühl, als ob wir über einem Abgrund an dünnen Fäden hingen, nicht weichen. Ich witterte eine Gefahr, ohne mir darüber klar werden zu können, woher sie zu erwarten sei. Vielleicht war an dieser Unruhe, an dieser Ueberreiztheit meiner Nerven nur die Umgebung schuld. Das, was ich in diesem Hause bisher gesehen und erlebt, war noch so frisch in meiner Erinnerung, daß die verzerrten Gesichtszüge und die entsetzlichen Augen der Gräfin und des noch lebenden Mendels stets von neuem wie Geisterfratzen vor mir auftauchten, ganz zu schweigen von Franz Mielke, dem dritten Opfer dieses aalglatten Schurken, der hier nun versuchen wollte, uns irgendwie zu täuschen und den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Aalglatter Schurke ... Ja – wie er so nachlässig dasaß mit seinem intelligenten Gesicht, das Kinn leicht in die Linke gestützt und in den Augen einen Ausdruck sinnenden Gleichmuts: man hätte ihm kaum etwas Schlechtes zugetraut!

Anders Herr Aristide Manquier. Der tat ganz so, als sei dies hier lediglich eine amüsante Posse, rauchte seine Zigarette mit allem Behagen und warf Harald ironische Blicke von unverfrorenster Unverschämtheit zu.

Halden richtete sich etwas auf. »Herr Harst, Sie sind Ihres tadellosen Gedächtnisses wegen berühmt. Sie werden den Wortlaut meiner Entgegnung noch gegenwärtig haben. Aus diesem Wortlaut kann man, wenn man voreingenommen ist, allerdings vielleicht uns einen Strick drehen. Ist man nicht voreingenommen, so bedeutet sowohl meines Freundes Ausdruck ›Sorge‹ sowie meine Entgegnung lediglich mein Interesse für einen interessanten Krankheitsfall und meine Befürchtung für Franz Mielke, der törichterweise sich von Ihnen hat beeinflussen lassen und nun unfehlbar in kurzem an ... Gehirnerweichung eingehen wird. Im übrigen ist mir Mielkes Person nicht so wichtig als die anderen Fragen, Herr Harst, die Sie mir wohl rückhaltlos beantworten werden. Weshalb sind Sie hinter mir her, um nicht viele Redensarten zu gebrauchen?«

In der Tat: dieser Halden war ein Mensch ohne Nerven, war ein Gegner von einem Ausmaß, wie wir's selten gefunden hatten.

Aber Harald hatte ihm gegenüber, mochten sie einander an Intelligenz, Energie und Schlauheit auch gleichwertig sein, etwas voraus: die größere Erfahrung! Wer wie Harst seit zwölf Jahren den Kampf gegen das Verbrechen in seiner mannigfachsten Form aufgenommen hat, sammelt notwendig einen Vorrat von Menschenkenntnis und Kenntnis der Verteidigungsmethoden sogenannter intellektueller Rechtsbrecher, der ihm jederzeit zustatten kommt.

So erwiderte Harst denn – immer in demselben ruhigen, unbeugsamen Tone: »Ich decke meine Karten nie vorzeitig auf, Herr Doktor Halden. Ich möchte Sie verschiedenes fragen. Wie kommt es, daß drei Ihrer Patienten nach Ihrer Behandlung an ganz ungewöhnlichen Sehstörungen litten: Mielke, die Gräfin und ein Angestellter Matzkas, den dieser absichtlich zu Ihnen geschickt hatte?«

Halden lehnte sich wieder zurück. »Also das ist's! – Wären Sie Mediziner, Herr Harst, so würde ich Ihnen die Ergebnisse meiner Forschungen über die Entzündung der Augennerven infolge totaler nervöser Erschöpfung, ferner über die Zusammenhänge zwischen beginnender Gehirnerweichung und Sehstörungen, schließlich über die Einwirkungen einer Gehirnerschütterung ...«

Harst verlor die Geduld. Diese schleimigen, öligen Phrasen Haldens empörten ihn. »Hören Sie auf!« schnitt er ihm grob das Wort ab. »Es wird sich jetzt ja herausstellen, ob Mielke wirklich ohne Ihre Behandlung ›eingehen‹ wird oder ob sich nicht vielmehr sein Zustand genau wie der der Gräfin wesentlich bessern wird ...«

Halden blieb unberührt – selbst hiervon. »In diesem Tone, Herr Harst, verkehrt man mit einem überführten Verbrecher, nicht mit mir. Tun Sie, was Sie für richtig halten. Ich betrachte diese Unterredung für beendet, und da ich müde bin, würden Sie mich zu Dank verpflichten, wenn Sie drei sich verabschieden wollten. Ich jedenfalls weiß, was ich tun werde. Ich werde gegen Sie drei Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs, Bedrohung und Nötigung stellen.«

Er stand langsam auf.

Seine unglaubliche Kaltblütigkeit und Frechheit wirkten direkt verwirrend.

Nicht auf Harst ...

»Wir werden gehen,« sagte er leicht ironisch. »Denn im Grunde haben wir hier nichts mehr zu suchen. Wir haben eben gefunden, was wir suchen. Und daß keine Maus dies Sanatorium ohne meinen Willen verläßt, dafür werde ich sorgen. Wir haben Mielke und die Gräfin ...« – Pause ...

Haldens Blick wurde unruhig ...

Zum ersten Male verriet Halden sich ...

»Die Gräfin?!« fragte er rasch ...

»Ja – auch die Gräfin in Sicherheit gebracht ... Sie ist entflohen, Herr Doktor Halden ... Und ...«

»Das ist nicht wahr!« stieß Halden hervor ...

»Ich lüge nur im Notfalle. Hier habe ich's nicht nötig. Wenn Sie in dem Zimmer der Krankenschwester Anna gewesen wären, hätten Sie diese und den Schäferhund Hasso betäubt vorgefunden ... Sie waren jedoch nicht dort. Und wenn Sie in das Zimmer der Gräfin hinaufgehen wollen – bitte –, es ist leer. Gehen Sie nur, überzeugen Sie sich ... Ich habe nichts dagegen ... Denn ... Flucht ist unmöglich, Doktor Halden. Draußen haben wir Hilfstruppen: Kriminalpolizei!«

Halden war blaß geworden.

Und Herr Aristide Manquier sogar aschfahl ...

Das Bild hatte sich gründlich geändert. Der Schlag hatte gesessen.

Halden vergaß sich, ließ für Sekunden die Maske fallen.

Ein Blick traf Harst – ein Blick aus den Augen eines rücksichtslosen, brutalen Verbrechers – ein Blick voller Hohn, Haß, Rachgier und ... Triumpf.

Doch diese Augen, bisher so mild und versonnen, änderten ebenso rasch wieder den Ausdruck ...

»Schade ... So wird also auch die Gräfin sterben,« sagte Halden mit leichtem Achselzucken. »Durch Ihre Schuld, meine Herren ... Und auch das werde ich gegen Sie vorbringen ...«

Halden nahm eine von Manquiers dicken, kurzen Zigaretten und schob sie zwischen die Lippen. Dasselbe tat Herr Aristide ...

Und als dies geschehen, geschah sofort ein weiteres ...

Ich fühlte, wie meine Augen urplötzlich wie in höllischem Feuer brannten, fühlte auf der Brust einen beklemmenden Druck, fühlte, wie mir Tränenbäche aus den Augen schossen. Ich sah nichts mehr als rote, zuckende Blitze ... Hörte ein paar Schüsse ... Hatte noch so viel Kraft, auch meine Waffe in Richtung auf Halden und Manquier abzudrücken ...

Zwecklos ...

Denn im nächsten Moment schon glitt ich mit schwindendem Bewußtsein vornüber vom Stuhl auf den Bastteppich, der hier den hellen Fliesenboden des Bestrahlungsraumes bedeckte.


 << zurück weiter >>