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3. Kapitel.
Der Uhu im falschen Kleide

Halden war auf Fußspitzen an das Bett geschlichen und hatte sich über den Kranken gebeugt. Mendels Augen bewegten sich dabei mit seltsam ruckartigen Zuckungen nach oben und stierten nun den Doktor an. Gleichzeitig begann sein Mund sich lebhafter zu bewegen, und das bisherige Murmeln ward zu lautem Sprechen, freilich nur zu einem heiseren Hervorstoßen völlig unsinniger Sätze, die, bald länger, bald kürzer, durch längere Pausen getrennt waren.

Das sinnlose Gestammel Mendels brach plötzlich ab. Eine endlose Pause folgte.

Halden rief eindringlich: »Ernst, erkennst du mich?«

Der halb offene Mund klappte da wie im Fieberfrost auf und zu. Dann ein einzelner schriller Ton – so schrill, daß ich zusammenzuckte und Halden zurückfuhr ... Diesem hellen, langgezogenen Ton folgte ein zusammenhangloser, längerer Satz, der durch ein Wort beendet wurde, das uns drei wie ein elektrischer Schlag traf:

Nussra!

Ganz klar und deutlich: Nussra!

Halden flüsterte uns erregt zu: »Zum ersten Male bringt mein armer Freund diesen Namen über die Lippen.«

Er zuckte traurig die Achseln ...

»Auf Wiedersehen, Ernst, ... Ich werde dich schon wieder gesund machen ... Heute nachmittag versuchen wir es mit starken galvanischen Strömen. Mut, Ernst ...! Es wird noch alles gut werden.«

Mir stand längst der kalte Schweiß auf der Stirn ...

Und jetzt biß ich mir vor Grauen auf die Lippen, als Mendel langsam die Augen dreimal schloß und dann wieder nach der Tür starrte, – dreimal schloß und öffnete er die Lider, – was konnte das anderes bedeuten, als daß er ... verstanden hatte!

Ich atmete erleichtert auf, als wir wieder im Flur waren. Halden versperrte die äußere Tür mit dem Schlüssel und wandte sich dann uns zu, die wir halb benommen vor uns hin schauten.

»Nun haben Sie ihn gesehen, meine Herren,« sagte er müde und mutlos. »Ist es nicht furchtbar: er ist voll bei Verstande, und ...«

Verstummte in tiefem Schmerze.

Hastig stiegen wir die Treppen hinab, und erst in des Doktors Sprechzimmer und nach dem dritten Glase Rotwein kamen meine vibrierenden Nerven wieder zur Ruhe.

Was wir noch mit Halden besprachen, drehte sich in der Hauptsache um die Frage, ob es möglich sein würde, den persischen Arzt zu überführen, denn auch Harald schien jetzt überzeugt zu sein, nur Nussra käme hier als Dämon eines ungeheuerlichen Racheaktes in Betracht. Halden meinte, wir sollten mit äußerster Vorsicht zu Werke gehen, denn er persönlich hielte Nussra für einen sehr klugen Kopf, der nicht so leicht zu überlisten sein würde.

Erst gegen halb drei verabschiedeten wir uns von Halden, der uns persönlich bis zur Gitterpforte geleitete, indem er erklärte, der alte Giesebrecht sei bereits zur Sanitätsrätin zu Tisch gegangen – wie immer um diese Zeit.

Dann schritten Harst und ich die stille Straße schweigend hinab, bis wir an die erste Haltestelle der Elektrischen kamen. »Warten wir ... Ein Auto ist hier schwer zu bekommen,« meinte Harald, indem er sein Zigarettenetui hervorholte.

»Doch – wir hatten Glück ... Eine leere Taxe nahte, wir stiegen ein. Harst hatte dem Chauffeur als Ziel Joachimstraße angegeben. Das Auto ruckte an.

»Willst du wirklich zur Sanitätsrätin?« fragte ich ehrlich erstaunt.

»Natürlich?!«

»Ja, natürlich ...«

»Gewiß ... du wirst schon sehen, mein Alter ... Jetzt aber störe mich nicht.«

Mit geschlossenen Augen lehnte er in seiner Ecke ...

Was sollten wir bei Frau Becker?! War dieser Besuch nicht übereilt?! Konnte unser Erscheinen dort nicht alles verderben?!

Das Auto glitt die Hubertusallee entlang. Harst reckte sich, faßte in die Brusttasche seines Sommerulsters und holte einen falschen Bart, eine Perücke und ein Kästchen mit Schminkstiften hervor. – »Halte mir bitte den Spiegel,« meinte er sehr bestimmt.

In wenigen Minuten saß ein älterer Herr neben mir, der mit Harald Harst wirklich nicht die allergeringste Aehnlichkeit hatte.

Das Auto stoppte auf mein Klopfen gegen die Vorderscheibe schon vor Nummer 30 in der Joachimstraße. Ich blieb sitzen. Harald schritt zu Fuß weiter. Der Chauffeur schaute ihm mißtrauisch nach, rief mir dann zu, ich möchte doch den bisherigen Fahrpreis sofort bezahlen. Ich mußte lachen, gab ihm fünf Mark und meinte, er solle sich über nichts wundern, er habe eben heute zwei besondere Herren als Auftraggeber. Da schien ihm ein Licht aufzugehen.

Im selben Moment kam vom Kurfürstendamm ein einzelner Mann sehr eilig daher.

Der Uhu – – wahrhaftig der Uhu!! Jetzt erst! Jetzt erst ging er zu Tisch?! Merkwürdig!

Er beachtete das Auto nicht. Er eilte mit schiefem Kopf und schlurfenden Schritten vorüber. Wenige Minuten später tauchte Harald wieder auf. Er öffnete die Tür des Kraftwagens. »Wo wohnt der Mann, mit dem du im Wartezimmer sprachst?« fragte er.

»Dahlem, Dorfstraße – Tischlergeselle Franz Mielke.«

»Chauffeur, Dahlem, Dorfstraße ...«

Er stieg ein, schlug die Tür zu, setzte sich.

»Ich habe Mendels bisheriges Zimmer von morgen ab gemietet, mein Alter ... Auf der Treppe begegnete mir Giesebrecht. Er hatte es verdammt eilig. Die Suppe wird trotzdem schon kalt geworden sein, fürchte ich. Ja – er hat sich da wirklich eine nette Suppe eingebrockt, der Uhu ...« Und er lachte ironisch auf ...

»Wie ... meinst du das?! Suppe eingebrockt?!«

Harst schaute mich an. »Wie denkst du über Halden?«

»Ich?! Hm – ich glaube, daß er ...«

»... daß er das stärkste Mißtrauen verdient, wenn er einen Menschen als Diener beschäftigt, an dem nicht mal die rotblaue Geiernase echt ist! Bei Gott, Max Schraut, ich habe selten eine so vorzügliche Maske wie die dieses Uhus gesehen!«

»Der Giesebrecht spielt also eine Doppelrolle,« sagte ich nur, um wenigstens etwas zu sagen.

»Wie man's nimmt,« nickte Harst. »Wohl mehr eine dreifache Rolle ... Einmal ist er wohlbestallter Spion bei der Sanitätsrätin. Dann zweitens Diener bei Doktor Halden. Dies beides in der Maske des Uhu. Wie er wirklich aussieht, wie alt er wirklich ist und was er in seiner normalen Gestalt treibt, worin also seine dritte Rolle besteht, das entzieht sich bisher unserer Kenntnis ...«

Das dahinrollende Auto wurde so für mich eine Stätte ungeahnter Offenbarungen. – Harald sprach weiter – genau so bedächtig, genau so grüblerisch, jedes Wort überlegend. »Halden und der Uhu sind eng verbündet. Vielleicht hat Halden sogar selbst ein Auge auf Tussi Becker geworfen. Vielleicht ist Halden ein falscher Freund dem Chemiker gegenüber, vielleicht war er damals gar nicht verreist, als Mendel am Sonntag vormittag verunglückte. Vielleicht rührt diese ungeheure Schurkerei von Halden selbst her, und er sucht nun den Verdacht in sehr vorsichtiger Weise auf den persischen Kollegen zu lenken, der ja auch von Tussi beargwöhnt wird, was ihm sicherlich sehr gelegen kam, diesem Herrn Ferdinand Halden, unter dessen Patienten sich zwei befinden, die sehr auffälligerweise an genau demselben Leiden kranken, das halb Sehstörung, halb Irrsinn zu sein scheint: der Tischlergeselle und die Gräfin! Beide sehen in jeder Person nur immer ihr eigenes Spiegelbild, – ein Krankheitssymptom, das mir vollkommen neu ist, das ich noch in keinem medizinischen Werk aufgeführt gefunden habe und das allem widerspricht, was ich bisher über nervöse – psychische Leiden wußte.«

»Gestatte einen Einwurf,« meinte ich lebhaft. Aber welches Interesse sollte Halden daran haben, die Gräfin und den armen Tischler Mielke ...«

»... und Ernst Mendel, mein Alter, – der kommt hier genau so in Frage! Ich behaupte, auch Mendel sieht nur immer sich selbst! Denke an die unheimliche Ähnlichkeit im Ausdruck der Augen der Gräfin Sildheim und Mielkes! Wenn Halden ein verruchtes Scheusal ist, der mit einem neuen Teufelszeug von Gift dunkle Zwecke verfolgt, dann hat er vielleicht eben seinem ›Freunde‹ Mendel eine größere Dosis verabreicht, worauf noch die Lähmung hinzutrat. Fiel dir nicht auf, wie scharf der Uhu im Wartezimmer achtgab, daß die Patienten nicht miteinander sprachen. Und merktest du nicht, daß all diese Patienten vor dem Uhu offenbar Angst hatten? – Nun, Mielke wird uns Rede und Antwort stehen. Halden ahnt nicht, daß du so schlau warst, einen Blick in sein Krankenjournal zu werfen. – Ich glaube, wir sind schon am Ziel. Da ist die alte Dahlemer Kirche, dort das Gutshaus ... – Steigen wir aus ... Ich bin in der Tat unglaublich gespannt darauf, was Mielke uns mitzuteilen hat ...«


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