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4. Kapitel.
Der Sturz vom Gerüst

Ein armseliges Fachwerkhäuschen mit grünbemoostem Ziegeldach, – uralt, scheinbar von der Zeit vergessen, fast ein Museumsstück ... Das Heim des Tischlers Mielke ... Innen der muffige Geruch der Armut, aber alles blitzsauber. – Eine verhärmte junge Frau empfängt uns mit dem unverhohlenen Mißtrauen der Glücklosen, der Enterbten des Schicksals. Aber Harst, der große Menschenkenner und Menschenfreund, versteht es, Mißtrauen in Freundschaft zu wandeln und Segen zu spenden. Als die Frau zögernd den Fünfzigmarkschein entgegennimmt, meint Harald nur: »Wahrscheinlich wird für Sie noch mehr abfallen, liebe Frau Mielke, nur müssen Sie unbedingt schweigen ...«

Und dann sitzen wir mit Mielke beieinander. »Ja, meine Herren,« meint er trostlos, »da haben Sie schon ganz recht, – der Diener paßt scharf auf, und der Herr Doktor hat mir streng verboten, mit jemandem über meine Krankheit zu sprechen ... Ich hab's bis dahin ja auch nicht getan ... Heute im Wartezimmer überkam mich aber plötzlich so der Wunsch, mit jemandem über ...«

»Schon gut, Herr Mielke ... Sehr verständlich ist dieser Wunsch ... – Wann traten bei Ihnen denn diese Sehstörungen ein? Gleich nach dem Unfall?«

»Ja – als ich wieder zu mir kam, Herr Harst. Der Herr Doktor wollte die Hinterfenster seines Hauses ausbessern und hatte ein Gerüst von mir aufstellen lassen. Vor etwa drei Wochen stürzte ich gleich morgens noch vor Beginn der Arbeit ab. Wie das gekommen ist, weiß kein Mensch. Die Bretter hatte ich doch alle gut befestigt. Und doch kippte eins über, und ich sauste in die Tiefe. Der Herr Doktor hat sich meiner sofort angenommen. Gehirnerschütterung, meinte er. Mag ja sein ... Aber mein Kopf ist völlig klar ... Nur eben – ich sehe immer, immer nur mich selbst, wen ich auch vor mir habe, und wie soll ich in diesem Zustand Arbeit finden, wo ich doch nie weiß, mit wem ich rede, wem ich begegne. Ach, Herr Harst, es ist entsetzlich ...! Bedenken Sie: gehe ich über die Straße: alle Menschen sind ... ich selbst! Alle! Man hält mich für total verrückt, und ich wage mich kaum mehr aus dem Hause. Der Herr Doktor gibt mir ja monatlich hundert Mark, aber wenn man vier Kinder hat, dann langt's nicht hin und her. Manchmal bin ich so verzweifelt, daß ich mich am liebsten aufhängen möchte ... wirklich!«

»Wie behandelt der Doktor Sie denn – mit Elektrizität?«

»Nein ... Ich bekomme alle drei Tage eine Spritze ... in den Unterarm. Bisher hat das nichts geholfen – gar nicht ...«

»Hatte der Doktor Ihnen denn auch gleich nach Ihrem Unfall etwas eingespritzt?«

»Ja, Herr Harst ... Ich sah's an der roten Stelle am Arm ...«

Harald blickte mich an. Die Verdachtsgründe gegen Halden wuchsen lawinenartig an.

»Hören Sie nun genau hin, lieber Mielke,« meinte Harst nach kurzer Pause. »Ich werde Ihnen fünfhundert Mark schenken. Mit diesem werden Sie verreisen – noch heute. Haben Sie Verwandte auf dem Lande?«

»Einen Bruder, Herr Harst. Er ist Fischer in Woltersdorfer Schleuse ...«

»Das trifft sich ja sehr gut ... Sie fahren also dorthin. Aber nur Ihre Frau darf davon wissen. Für die Oeffentlichkeit haben Sie angeblich auswärts Arbeit angenommen. Das schreiben Sie auch dem Doktor und entschuldigen sich bei ihm, wenn Sie vorläufig nicht zu ihm kämen. – Sie sind fraglos ein aufgeweckter Mensch, Mielke. Ich will ehrlich sein. Ich traue Halden nicht. Befolgen Sie meine Ratschläge, so werden Sie gesund werden. Ich bin überzeugt, daß Halden, sobald er Ihren Brief erhält, sogleich hier zu Ihrer Frau kommen wird und fragen, wo Sie auswärts arbeiten. Dann soll Ihre Frau erklären, sie habe den Zettel verlegt, wo Sie ihr Ihre Adresse aufgeschrieben hätten. Sie würde dem Doktor aber sofort Nachricht geben, sobald Sie ihr geschrieben haben. – Sie verstehen mich doch, Mielke ...?«

»Gewiß, Herr Harst ...« Sein trostloser Blick war aufgelebt. In seine zermarterte Seele war die Hoffnung eingezogen.«

Wir verabschiedeten uns, nachdem Harst mit unserem neuen Verbündeten noch mancherlei verabredet hatte.

Wir standen wieder draußen auf der Straße im strahlenden Sonnenschein. Aber Harsts Gesicht glich einer Gewitterwolke. Mit Augen, die förmlich funkelten, spähte er in die Runde. An diesem köstlichen Maitage strömten die Berliner in Scharen dem nahen Grunewald zu. Die Straßenbahnen spien immer neue Schlangen heiterer Menschen aus. Um uns her war stetiges Leben, Bewegung, Lachen, Zurufe ...

Als ein leeres Auto vorüberkam, stiegen wir ein, Harald noch immer in der Maske des alten Herrn. Als wir daheim anlangten, empfing unsere dicke Küchenfee Mathilde uns mit einem essigsauren Gesicht. Es hatte Lachs mit zerlassener Butter zu Mittag geben sollen, und ein solches Gericht läßt sich schlecht bis fünf Uhr nachmittags warm halten.

Mathilde wurde versöhnt. Wir fraßen wie die Scheunendrescher. Doch es war eine schweigsame Mahlzeit. Mein alter Harst hatte offenbar in Gedanken den Kampf gegen Doktor Halden mit allen Mitteln seines erfindungsreichen Kopfes aufgenommen, und arbeitete den Schlachtplan weiter aus.

Erst als Mathilde uns den Mokka dann auf der Veranda servierte, als nun auch Haralds Mutter mit am Tische saß und ihr großer, geliebter Junge ihr, seiner und unserer einzigen Vertrauten, die Ereignisse des Tages geschildert hatte, fügte er noch zum Schluß hinzu:

»Das, was ausschlaggebend war, ist das Baugerüst, ist Tischler Mielkes unvorhergesehener Sturz in die Tiefe und die Spritze in den Unterarm ... Halden ist ein Schurke. Hinter seinen stillen, versonnenen, intelligenten Zügen verbirgt sich in Wahrheit ein teuflischer Dämon. Drei seiner Opfer kennen wir: Mendel, Mielke und die Gräfin Sildheim. Wieviel andere er außerdem noch auf dem Gewissen hat, entzieht sich vorläufig unserer Kenntnis. – Nun die Hauptfrage: Weshalb begeht Halden diese empörenden Scheußlichkeiten, welches Motiv liegt seinem verbrecherischen Treiben zu Grunde? Nur bei Mendel haben wir hinsichtlich dieses Motivs einen Anhaltspunkt: Eifersucht, Nebenbuhlerschaft! Bei Mielke und der Gräfin fehlt jeder Hinweis, jeder. Gewiß, man könnte annehmen, Halden sei einer von krankhaftem Forscherdrang besessenen Medizinern, denen ein Menschenleben als ein Nichts gilt. Doch das glaube ich nicht. Diesen Eindruck macht er nicht auf mich. Nein, ich beurteile ihn ganz anders. Seine übertriebene Eleganz, seine tadellos gepflegten Hände mit den tadellos manikürten Nägeln, der leichte Parfümgeruch, – kurz: eine ganze Anzahl geringer Kennzeichen deuten darauf hin, daß Halden wahrscheinlich ein Lebemann ist, der Unsummen verschwendet, vielleicht auch spielt oder andere Passionen hat. Er soll reich sein. Soll ... Er soll aus seiner Praxis und seinem Sanatorium erhebliche Einnahmen haben. Daran zweifle ich nicht. Und doch: dieser Mensch ist geldgierig wie ein Geizhals, ist ein Verbrecher aus Eigennutz. Dabei bleibe ich. Und deshalb wollen wir auch, was Mendels Person angeht, das Motiv Eifersucht besser streichen und vorläufig die Vermutung aufstellen, daß Halden seinen ›Freund und Verbindungsbruder‹ aus dem Wege räumen will, weil der Chemiker vielleicht jenes Narkotikum, an dessen Erzeugung er arbeitete, wirklich bereits erfunden hat und weil Halden nach Mendels Tod damit ein glänzendes Geschäft machen will ...«

Jetzt konnte ich nicht länger schweigen ...

»Gestatte einen Einwurf, Harald. Wenn Halden aus Eigennutz diese entsetzlichen Veränderungen im menschlichen Organismus vornimmt, wie du glaubst: welchen Vorteil könnte er etwa durch den Tod Franz Mielkes und den der Gräfin haben?!«

Frau Auguste Harst nickte mir eifrig zu. »Bravo, lieber Schraut ... Sie sprechen das aus, was auch mir nicht recht in den Kopf will ... – Nun, mein Junge,« wandte sie sich an ihren Einzigen, »du wirst natürlich diese Frage prompt durch Gegenbeweise aus der Welt schaffen ... nicht wahr?«

»Nicht wahr!« wiederholte Harst mit anderer Betonung. »Nein, es ist nicht wahr, daß ich Gegenbeweise besitze. Aber ich werde sie herbeischaffen. In der kommenden Nacht werden Schraut und ich zunächst dem Herrn Doktor Ferdinand Halden den zweiten großen Schreck einjagen. Den ersten wird ihm Mielkes Brief bereiten, den er heute abend empfängt, und der zweite wird das Verschwinden Ernst Mendels aus dem Sanatorium sein.«

»Du ... willst ... ihn stehlen?« rief ich.

»Ja – stehlen ist der richtige Ausdruck, denn es handelt sich ja um einen halben Leichnam. Ich wette, daß, wenn Mendel einige Zeit Halden entzogen wird und ... keine Spritzen mehr bekommen kann, das Krankheitsbild sich rasch ändern wird. Ich habe mir das Zimmer genau gemerkt, in dem Mendel untergebracht ist. Es ist das dritte im obersten Stock nach Westen zu, auch das dritte Fenster, denn diese Zimmer dort oben sind sämtlich einfenstrig. Uns wird es nicht weiter schwer fallen, Mendel unbemerkt verschwinden zu lassen und hier zu uns zu schaffen. Bisher ist Halden bestimmt ohne jeden Argwohn gegen uns. Dafür habe ich eine sehr feine Nase, ob jemand uns mißtraut. Mithin wird die Bewachung des Sanatoriums nicht strenger und schärfer als sonst sein. Da ferner das Barometer rasch sinkt, ist nach diesem heißen Tage nachts mit Regen und Gewitter zu rechnen, – und schließlich: Schraut und Harst werden's doch wohl noch fertigbringen, einen Menschen ungesehen zu entführen! – Wenn dann Mendel hier bei uns in Sicherheit ist, käme Punkt 2 meines Festprogramms an die Reihe: morgen vormittag bezieht der Oberlehrer i. R. Alfred Burg das heute bei der Sanitätsrätin gemietete Zimmer. So, und nun wollen wir all dies vergessen und in unserem Gemüsegarten die Erdbeerbeete in Ordnung bringen, mein Alter. Das wird unseren ein wenig ramponierten Nerven fraglos guttun.«


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