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2. Kapitel.
Die kranke Gräfin

Diese Diele war lediglich durch eine altertümliche Ampel beleuchtet, die an einer Kette von der Decke herabhing. Da wir aus dem grellen Sonnenlicht dieses immerhin recht eigenartige halbdunkle Wartezimmer betreten hatten, mußten sich meine Augen erst an das grüne Zwielicht gewöhnen. Harst hatte mich in einen der tiefen, mit dunkel getöntem Gobelinstoff bezogenen Klubsessel gedrückt und dann für sich selbst einen Hocker herangezogen. Nach dem ersten flüchtigen Blick über die acht Patienten, vier Damen und vier Herren, wandte ich den Kopf nach links, wo eine Frau in Trauer in einer Sofaecke leise weinte und immer wieder ihr Taschentuch an die Augen führte – mit einer Regelmäßigkeit, die an einen Automat erinnerte.

Der Uhu (wenn er's wirklich war!) hatte sich uns gegenüber an eine durch schwere, schwarze Vorhänge bis auf einen schmalen Spalt verdeckte Tür gesetzt und putzte seine Brille.

Mein Blick glitt von der weinenden Frau weiter zu einem älteren dicken Herrn hin, der an schrecklichen Gesichtszuckungen litt und immerfort mit dem linken, übergeschlagenen Bein wippte. – Dann rechts aus der Ecke aus einem anderen Sessel ein hysterisches Kichern ... Auch eine Frau ... Sie hatte den Hut abgenommen, kämmte ihren strohblonden Bubikopf und ... kicherte ... kicherte ...

Mit einem Male sprang der Uhu auf und rief quäkend:

»Bitte – der nächste ...«

Schlug die Vorhänge auseinander und stieß die Flügeltür auf, so daß ich in ein großes, helles Gemach hineinsehen konnte, in dem an einem Diplomatenschreibtisch ein schlanker Herr in blauem Sackoanzug saß und schrieb ...

Doktor Halden ...

Der nächste war die kichernde Dame. Sie eilte hinein, und Tür und Vorhänge fielen wieder zu. Der Uhu setzte sich, und der Mann, der mir am nächsten saß, offenbar ein schlichter Arbeiter, begann flüsternd ein Gespräch mit mir.

»Wenn nur das lange Warten nicht wäre, Herr ...! – Na – hier sitzt sich's ja ganz gut, nicht wahr? – Sind Sie zum ersten Male hier?«

»Ja ...«

»Was fehlt Ihnen?«

»Ich leide an Wahnvorstellungen ...«

»So, so ... Das ist nicht schlimm. Mich hat's böser gepackt. Ich bin Tischlergeselle und vor drei Wochen vom Gerüst gestürzt. Seitdem sehe ich mich immer selbst – nur mich ... Komisch, nicht wahr?!«

»Wie meinen Sie das?« fragte ich bedrückt, denn diese Umgebung begann meine Nerven allgemach zu foltern.

»Wie ich das meine, Herr? – Nun, ich sehe eben auch jetzt, wo ich Sie anschaue, nur mich – mich selbst ... Vielleicht sind Sie auch eine Dame ... Ich weiß es nicht ... Ich kann nur in jeder Person mein eigenes Ich erkennen ... – Doktor Halden nennt das ...«

Da hüstelte der Uhu vernehmlich, und mein Nachbar duckte sich scheu zusammen, verstummte und ließ den Kopf hängen. –

Ich könnte über diese Wartezeit in Haldens Diele noch mehr Einzelheiten berichten, aber es genügt wohl, wenn ich hier erkläre, daß ich Höllenqualen inmitten diesen Halbverrückten ausstand und froh war, als nach einer Stunde etwa der Uhu zum letzten Male sein gekrächztes »Bitte – der nächste« ertönen ließ und wir nun an der Reihe waren.

Harst zog mich in Haldens Sprechzimmer hinein – wie ein Opferlamm. Die Tür schloß sich, Halden erhob sich vom Schreibtisch und musterte uns kühl, deutete auf zwei Lehnsessel neben dem Schreibtisch ... »Bitte, nehmen Sie Platz.«

Tussi hatte nicht zu viel gesagt: ein eleganter Herr, der Doktor. Blasses, schmales Gesicht und ein Paar milde, klare, blaugraue Augen, – eine Stimme wie ein Cello – fast zu weich.

Harst erwiderte leise, indem er näher an Halden herantrat: »Herr Doktor, wir sind Harst und Schraut ... Wir wollten uns bei Ihnen lediglich unauffällig einführen – Mendels wegen. Fräulein Tussi Becker hat mich gebeten, den Fall Mendel, der doch zweifellos einige dunkle Punkte aufweist, zu klären.«

Halden drückte uns sichtlich erfreut die Hände. »Meine Herren, Sie kommen mir wie gerufen, denn ich wäre noch heute bei Ihnen erschienen, um Ihnen genau dieselbe Bitte vorzutragen. – Setzen Sie sich doch ... So – wollen die heikle Sache in aller Ruhe durchsprechen ...«

Er drückte auf einen in die Schreibtischplatte eingelassenen Klingelknopf.

Der Uhu erschien.

»Herr Doktor befehlen?«

»Giesebrecht, bringen Sie Rotwein, Zigarren und Zigaretten. Vorher aber fragen Sie Schwester Anna, ob die Gräfin erwacht ist.«

»Sehr wohl, Herr Doktor ...« Er verschwand wieder.

Halden lächelte. »Hat Ihnen Fräulein Tussi auch von dem ... Uhu etwas erzählt, Herr Harst? – Nun, der alte Herr, der mal bessere Zeiten gekannt, spielt hier bei mir den Diener in aller Heimlichkeit, – will's eben die Welt nicht wissen lassen, daß er sich auf diese Weise durchschlägt. Mein armer Freund Mendel mußte Giesebrecht hoch und heilig versprechen, nichts zu verraten, und so ahnt selbst Tussi nicht, daß Giesebrechts ständiges Fernsein von Hause einen sehr harmlosen Grund hat: Geldverdienst!«

Das Telephon auf dem Schreibtisch schrillte ...

Halden nahm den Hörer ...

»Ja – – die Gräfin soll dann – –, wie, – aber das geht doch auch ohne mich, Schwester ... Gut, ich komme ...«

Und zu uns: »Sie müssen mich schon ein paar Minuten entschuldigen ... Eine etwas schwierige Patientin ... – Giesebrecht bringt sofort Zigarren und einen guten Schluck ... Bedienen Sie sich dann bitte ganz zwanglos ...«

Er verließ das Zimmer durch die zweite Tür.

War kaum hinaus, als von der Diele her eine Frau hereinstürzte ... eine Frau, die nur einen bunten Bademantel und ebenso elegante Badeschuhe anhatte. Daß sie soeben dem Wannenbade entstiegen und auch ohne Rücksicht auf ihr prächtiges kastanienbraunes Haar geduscht hatte, bewiesen die nassen Haarsträhnen, die ihr bleiches, verzerrtes und geradezu entstelltes Gesicht wie ein wirres dunkles Netz halb verhüllten. Sie warf mit der Linken die Tür ins Schloß. In der Rechten hielt sie einen eisernen großen Hammer, wie ihn die Zimmerleute benutzen.

Wir beide waren emporgefahren. Der ganze Eindruck dieser Unglücklichen, der der Wahnsinn aus den irrlichternden Augen leuchtete, war so schreckeinflößend, daß selbst Harst aus Vorsicht hinter den Schreibtisch trat.

Die Frau, die ich anfangs Dreißig schätzte und die in gesunden Tagen sicherlich sehr schön gewesen sein mußte, stand jetzt vornübergebeugt still, warf mit ruckartiger Kopfbewegung das feuchte Haar aus dem Gesicht und stierte erst Harst und dann mich mit einem merkwürdig verzweifelten Blick an. »Wer sind Sie?« rief sie mir kreischend zu. »Sind Sie der Satan Doktor Halden?«

Diese Frage, diese Ungewißheit darüber, wen sie vor sich hatte, erinnerte mich unwillkürlich an meinen Nachbar aus dem Wartezimmer, der behauptet hatte, er sehe nur immer sich selbst.

»Doktor Halden ist nicht hier,« erwiderte Harald statt meiner. »Wir sind zum ersten Male hier – als Patienten ... Ist denn Ihre Sehkraft getrübt?«

Die Frau im Bademantel stieß ein entsetzliches Lachen aus. »Getrübt – – Sehkraft?! Nein – ich sehe alles, alles ... Nur ... Personen sehe ich nicht ... Ich sehe Sie, aber immer nur ... mich, mich! – Wo ist Halden? Wo ist dieser Schurke? Oder nein – ich flehe Sie an: helfen Sie mir hinaus aus dieser Hölle ...« Sie sagte das alles mit jener krankhaften Hast und Zungengeläufigkeit, die so vielen Irren eigen ist. Sie schnabberte, verschluckte halbe Worte, gab sich aber offenbar die größte Mühe, sich zu beherrschen. »... aus dieser Hölle ... hinaus – haben Sie Erbarmen mit mir! Ich bin die Gräfin Sildheim aus Dresden – ich bin reich, ich bin ein Opfer der schamlosen Intrigen meiner Verwandten ... Helfen Sie mir ... ehe es zu spät ist ... Dies hier ist ein Haus des Grauens ... Mein Gott – so antworten Sie doch! Wer sind Sie? Mann und Frau? Ich ... ich sehe ja nur zweimal mich selbst im Bademantel wie in zwei großen Spiegeln – immer nur mich selbst, wen ich auch vor mir habe ... Ich flehe Sie an: reden Sie ... Barmherziger Gott ... – Sie ahnen nicht, was dieser entsetzliche gleißnerische Halden aus mir gemacht ...«

Die lautlose Tür nach dem Wartezimmer war aufgegangen ... Halden und eine Krankenschwester von wahrhaft walkürenhafter Gestalt hatten die Kranke blitzschnell gepackt, ihr eine Decke über den Kopf geworfen und zerrten sie hinaus. Dann schlug die Tür wieder zu.

Mir standen Eisperlen auf der Stirn, und als ich Harald anschaute, waren auch seine Wangen etwas bleich, und in seinen Augen ein Ausdruck schreckvollen Mitleids.

Aber trotz der beklemmenden, verwirrenden und die Gedanken aufscheuchenden Wirkungen dieser widerwärtigen Szene hatte ich doch noch genug Geistesgegenwart, rasch an den Schreibtisch heranzutreten und mich über das aufgeschlagen daliegende Krankenjournal Haldens zu beugen. Ich überflog die Rubrik des heutigen Tages. Alle Patienten dieses Vormittags waren verzeichnet. Der, auf den es mir ankam, konnte nur

Mielke, Franz, Tischlergeselle, Dahlem, Dorfstraße

sein. Dann trat ich ebenso rasch wieder hinter den Höhensonneapparat zurück.

»Gut so!« flüsterte Harald und nickte mir zu.

Da erschien auch schon Halden, setzte sich mit einem Seufzer in seinen Schreibsessel und trocknete sich mit seinem Seidentüchlein die feuchte Stirn. »Ein schwerer Beruf, meine Herren ... Es tut mir unendlich leid, daß Sie dies hier mit erleben mußten. Die Gräfin ist meine aussichtsloseste Patientin – eine Gräfin Sildheim ... Aber nehmen Sie doch wieder Platz, meine Herren ...«

Durch die zweite Tür kam der Uhu mit einem großen Teebrett herein und stellte schweigend Gläser, Flasche und alles andere auf einen runden, schweren Eichentisch.

Halden stand auf und füllte die Gläser. »Ja, es ist auch ein gefährlicher Beruf,« meinte er. »Das war nun der dritte Versuch der Gräfin, mich zu töten und zu entfliehen. Trinken wir ... Ihr Wohl, meine Herren ...« Seine Hand zitterte leicht. Aber seine Augen hatten unverändert denselben gütigen, etwas versonnenen Blick.

»Und nun zu Ernst Mendel, Herr Harst ... Fräulein Tussi beargwöhnt den Perser, meinen Kollegen, den ich flüchtig kenne. Eifersucht, glaubt Tussi. Ich selbst halte diesen Verdacht für verfehlt. Doktor Kamir Nussra müßte denn gerade ein Gift besitzen, das der deutschen Wissenschaft noch nicht bekannt ist, und solche Gifte gibt es nicht – nicht mehr. Wir Deutschen sind gründlich. Anderseits – um Ihnen beiden gegenüber jede Zurückhaltung aufzugeben – ist es aber auch ausgeschlossen, daß die Explosion der Retorte an diesen Lähmungserscheinungen schuld sein kann. Mendel und ich haben voreinander keine Geheimnisse gehabt. Ich wußte genau, in welcher Richtung seine chemischen Versuche sich bewegten. Er wollte ein völlig einwandfreies Narkotikum für Operationszwecke erfinden, und die Bestandteile, mit denen er experimentierte, mögen unter gewissen Bedingungen explosiv gewesen sein, konnte aber niemals den menschlichen Organismus in dieser selbst mir unerklärlichen Weise schädigen. Deshalb eben wollte ich auch Sie und Ihren Freund heute noch zu Rate ziehen, Herr Harst. Der Fall Mendel ist Sache eines Detektivs, nicht eines Arztes, denn – wir Aerzte sind hier machtlos. Wir können dem armen Kerl nicht helfen, das habe ich bereits eingesehen.« Er trank schnell sein Glas aus. »Ich fürchte fast, der Verstand ist noch klar, und die wirren Reden lediglich eine Störung im Sprachzentrum des Gehirns. Wenn wirklich hier ein kaltblütig berechneter Anschlag auf Mendel vorliegt, so wäre für den Täter selbst der Tod auf dem Scheiterhaufen noch zu mild.«

Ein harter Ausdruck trat in seine Augen. »Herr Harst, verfügen Sie bitte ganz unbeschränkt über mein Geld. Ich bin reich. Meine Freundschaft mit dem um zehn Jahre jüngeren Mendel datiert – um auch das zu erwähnen – von meiner Assistentenzeit in München her, wo ich derselben Verbindung als Alter Herr angehörte, in der Ernst Mendel sich als flotter Bursch damals betätigte.«

Harst, den die klare, kühle Art Haldens wohl ebenso angenehm berührte wie mich (mein ungewisser Verdacht gegen Halden war bereits wieder zerflattert), erklärte, die Geldfrage träte hier vollkommen in den Hintergrund. »Ich werde tun, was ich kann, Herr Doktor. Das habe ich auch bereits Tussi versprochen. Könnten wir Mendel einmal sehen?«

»Gewiß. Nur – Sie werden entsetzt sein, meine Herren! Nun – Ihre Nerven sind ja an Derartiges oder Aehnliches gewöhnt. Bitte – gehen wir ... Mendel ist oben im dritten Stockwerk untergebracht.«

Auch die Flure und Treppen, alles mit dicken, leicht zu säubernden Läufern belegt, zeigten die helle, nüchterne Sauberkeit, die mir bereits in Haldens Sprechzimmer aufgefallen war.

Während wir die Treppen schweigend hinanstiegen, begegneten wir nur der walkürenhaften Schwester Anna, die bescheiden beiseite trat und uns vorüberließ.

Vor Zimmer 18 im dritten Stock machte der Doktor halt, zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Außentür. Die innere war nur verriegelt, beide aber gepolstert. Auch dieser Raum, der nur ein Fenster hatte, war hell und überaus nüchtern, enthielt die übliche Einrichtung eines Krankenzimmers eines Sanatoriums, nur daß hier das weiße Bett frei mitten im Zimmer stand. In diesem Zimmer lag ein stoppelbärtiger, wachsbleicher Mann, dessen verwildertes Kopfhaar, halb offener Mund und starr nach der Tür gerichtete Augen in der Tat ungewöhnlich grauenvoll wirkten. Aus dem halb offenen Munde quollen jetzt dumpfe, unverständliche Laute hervor, die allmählich deutlicher wurden und sich zu Worten und Sätzen zusammenfügten ...


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