Jerome Klapka Jerome
Drei Mann in einem Boot
Jerome Klapka Jerome

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Ungefähr um elf Uhr bekamen wir Reading in Sicht. Der Fluß ist hier trübe und schmutzig. Um Reading herum hält man sich nicht gern lange auf. Die Stadt selbst ist ein berühmter alter Ort, der schon in den sagenhaften Zeiten des Königs Ethelred bestanden haben soll, als die Dänen mit ihren Kriegsschiffen in Kennet vor Anker lagen und von Reading aus die ganze Grafschaft Wessex verheerten; aber hier kämpften Ethelred und sein Bruder Alfred gegen sie und besiegten sie in gemeinschaftlicher, redlich geteilter Arbeit – Ethelred besorgte das Beten und Alfred das Fechten. In späteren Jahren scheint Reading als ein angenehmer Zufluchtsort betrachtet worden zu sein, wenn einem das Pflaster in London zu heiß geworden war.

Namentlich das Parlament ging gern dahin, wenn in WestminsterDas Parlamentsgebäude steht im Stadtteil Westminster. eine Seuche ausgebrochen war, und im Jahre 1625 zog sich der ganze Gerichtshof dahin, weshalb alle Gerichtssitzungen dort gehalten wurden. Damals muß es noch der Mühe wert gewesen sein, eine kleine Seuche in London zu haben, wenn man dadurch alle Advokaten und das ganze Parlament auf einmal los wurde.

Bei der Readingschleuse trafen wir mit einem Dampfboot zusammen, das ein paar Freunden von mir gehörte; sie nahmen uns bis Streatley hinauf ins Schlepptau.

Von einem Dampfboot gezogen zu werden, ist ein Göttervergnügen. Es ist mir sogar noch lieber als das Rudern.

Die Fahrt würde noch himmlischer gewesen sein, wenn nicht so eine verdammte Rotte von kleinen Booten beständig unserem Schiff in den Weg gekommen wäre, so daß wir, um sie nicht in den Grund zu bohren, unaufhörlich ausweichen oder anhalten mußten.

Es ist wirklich höchst ärgerlich, in welch widerwärtiger Weise diese kleinen Ruderboote den Dampfbooten das Leben sauer machen; es sollte sicherlich etwas geschehen, um diesem Unfug Einhalt zu tun. Und sie sind zu alledem noch so verdammt unverschämt. Man kann pfeifen, bis beinahe der Kessel platzt, ehe es ihnen beliebt, aus dem Wege zu gehen. Wenn es nach mir gegangen wäre, so hätten wir hier und da ein solches Satansboot in den Grund gebohrt, nur um sie ein bißchen Mores zu lehren.

Etwas oberhalb Reading wird der Fluß wieder sehr reizend.

Meiner Freunde Dampfboot überließ uns nun wieder unserm Schicksal.

Da wollte Harris herausgefunden haben, daß jetzt die Reihe zu rudern wieder an mir sei. Das schien mir eine völlig unbegründete Behauptung. Wir waren doch am Morgen dahin übereingekommen, daß ich das Boot etwa drei Meilen über Reading hinaufzubringen habe.

Und nun waren wir hier etwa zehn Meilen oberhalb Reading. Was konnte klarer sein, als daß nun wieder an ihnen die Reihe war.

Aber ich konnte weder Georg noch Harris dahin bringen, die Sache in ihrem wahren Lichte zu betrachten; um weitere Erörterungen abzuschneiden, ergriff ich daher die Ruder.

Kaum hatte ich eine Minute lang gerudert, als Georg etwas Schwarzes im Wasser dahertreiben sah. Wir steuerten darauf los, und Georg lehnte sich über, um es zu erfassen, aber mit einem Schrei und mit geisterbleichem Gesicht fuhr er zurück.

Es war die Leiche einer Frau, die vom Wasser getragen wurde; sie hatte ein zartes und ruhiges Antlitz.

Schön war das Gesicht nicht; dazu sah es zu früh gealtert, zu schmal und hager aus; aber es war ein sanftes, liebes Gesicht, trotz der deutlichen Spuren von Armut und Sorge; und ein Ausdruck von Ruhe und Frieden lag darauf, wie er mitunter bei Sterbenden wahrgenommen wird, wenn der letzte Schmerz überwunden ist.

Zum Glück für uns, denn wir hätten uns nicht gerne vor den Leichenschauer zitieren lassen, ein Zeugnis abzulegen – hatten einige Leute am Ufer den Körper auch gesehen und kamen nun, ihn in gerichtliche Verwahrung zu bringen.

Später wurde uns die Geschichte jener Frau erzählt. Es war das alte, alte, traurige Lied. Sie hatte geliebt und war dann getäuscht worden, oder hatte selbst getäuscht. Jedenfalls hatte sie gesündigt – zuweilen kommt das vor – da wurden ihr die Türen ihrer natürlich tief entrüsteten Familie und der Bekannten verschlossen.

Allein im Kampf mit der Welt, mit dem Schwergewicht ihrer Schande beladen, war sie immer tiefer gesunken. Eine Zeitlang hatte sie den Unterhalt für sich und das Kind mit dem kargen Lohn einer harten zwölfstündigen Arbeit verdient.

Aber sechs Schilling die Woche wollen nicht recht ausreichen, Seele und Leib zusammenzuhalten; sie wollen auseinander, wenn nur ein so schwaches Band sie verbindet; eines Tags muß wohl der Schmerz und das ganze Elend ihrer Lage lebhafter als gewöhnlich ihr vor Augen gestanden und das drohende Gespenst sie erschreckt haben.

Noch eine letzte verzweiflungsvolle Bitte hatte sie an die Ihrigen gerichtet; aber an der kalten Mauer ihrer Wohlanständigkeit prallte die Stimme der irrenden Ausgewiesenen ungehört ab; dann war sie zu ihrem Kinde gegangen, hatte es in einer absonderlich müden und dumpfen Stimmung in den Armen gehalten und geküßt; dann hatte sie es verlassen, nachdem sie ihm ein Zehnpfennigbüchschen mit Schokolade, das sie ihm gekauft, ins Händchen gesteckt; hierauf hatte sie mit ihrem letzten Gelde eine Fahrkarte nach Goring gekauft.

Es schien, daß die bittersten Erinnerungen ihres Lebens mit den waldigen Hängen und lichtgrünen Wiesen um Goring verknüpft gewesen sein müssen. Aber sonderbar! Die Frauen drücken das Messer, das sie durchbohrt, liebevoll an die Brust, und vielleicht mögen sich zu all den bitteren auch sonnige Erinnerungen von süßen Stunden, die in diesen schattigen Gründen unter den hohen Bäumen verlebt wurden, gedrängt haben. So war sie in dem Gehölze am Flußrand den ganzen Tag umhergewandert; und als nun der Abend kam und das graue Zwielicht sein dämmeriges Gewand über die Wasserfläche ausbreitete, da streckte sie ihre Arme aus nach dem stillen Flusse, der um ihren Kummer und ihre Freude gewußt hatte. Und der alte Fluß hat sie in seinen sanften Arm genommen, ihr müdes Haupt an seine Brust gelegt und allen Schmerz von ihr genommen.

So hatte sie gesündigt, im Leben und im Sterben gesündigt! Gott sei ihr gnädig, ihr und allen andern Sündern – sofern es deren noch andere gibt!

Goring auf dem linken und Streatley am rechten Ufer sind beides reizende Orte, in denen man sich gern ein paar Tage aufhält. Die Talgründe hinab nach Pangbourne laden einen förmlich ein zu einer Segelfahrt beim hellen Sonnenschein oder zu einer Ruderfahrt beim sanften Mondlicht, denn ringsumher ist die Landschaft wunderbar schön. Wir hatten beabsichtigt, an diesem Tage noch bis Wallingford zu rudern, aber das süße, lächelnde Antlitz des Flusses verlockte uns, noch eine Weile hier zu säumen; wir ließen unser Boot an der Brücke, gingen hinauf nach Streatley und frühstückten im »Ochsen«, worüber Montmorency sehr zufrieden war.

Goring ist bei weitem nicht so hübsch zum Verweilen wie Streatley, aber das Städtchen ist in seiner Art auch nicht übel und hat den Vorteil, näher bei der Eisenbahn zu liegen für den Fall, daß man sich aus dem Staube machen möchte, ohne seine Hotelrechnung bezahlt zu haben.

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