Jerome Klapka Jerome
Drei Mann in einem Boot
Jerome Klapka Jerome

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Wir breiteten unsere Karten aus, erörterten die Reisepläne und kamen schließlich überein, am folgenden Samstag von Kingston aus die Ruderfahrt anzutreten. Harris und ich wollten morgens mit der Bahn dahinfahren und uns bis nach Chertsey hinaufrudern, und Georg, der verhindert sein würde, vor nachmittag die City zu verlassenDie Altstadt Londons, die fast ausschließlich aus Geschäftshäusern besteht. (denn er pflegt nämlich in einem Bankgeschäft von 10 Uhr vormittags bis 4 Uhr nachmittags zu schlafen, ausgenommen an den Samstagen, wo man ihn um 2 Uhr aufweckt und hinauswirft,Samstags sind in England alle Geschäfte mindestens von 2 Uhr an geschlossen. wollte mit der Bahn bis Chertsey reisen und dort mit uns zusammentreffen.

Sollten wir im Freien übernachten oder ans Land steigen und ein Wirtshaus aufsuchen? Georg und ich waren beide fürs Übernachten im Freien. Wir meinten, das hieße dann so recht: »Ein freies Leben führen wir«, das habe so etwas Wildes und Romantisches, so etwas Patriarchalisches an sich. Langsam verblaßte der goldene Wolkensaum, die letzte Erinnerung an die entschwundene Sonne, und kalt und trübe starren die Wolken. Die Vögel sind wie trauernde Kinder still geworden; nur des Moorhuhns klagender Ruf und das heisere Gekrächze der Raben unterbricht die schaurige Stille, die ringsum auf den Wassern liegt, auf welche der sterbende Tag seinen letzten Schimmer hinhaucht.

Aus dem Dunkel der Uferbüsche kriecht die Geisterschar der Nacht, kriechen die grauen Schatten geräuschlos hervor und verscheuchen die letzten Nachzügler des Lichts, und leise, mit unsichtbaren Füßen, schleichen sie über das hohe Ufergras und durch das seufzende Röhricht, und die Nacht faltet von ihrem düstern Throne aus ihre schwarzen Schwingen über die im Dunkel versinkende Welt, und Schweigen regiert in ihrem von den Sternen spärlich beleuchteten Palaste.

Dann lenken wir unser kleines Boot in irgendein trauliches Plätzchen; das Zelt wird darüber aufgerichtet und das frugale Abendessen bereitet und genossen. Nun werden die großen Pfeifen gestopft und angezündet, und gemütliches Geplauder geht hin und wieder; während in den Pausen unserer Unterhaltung der Fluß leise an unser Boot plätschert und seltsame, alte, geheimnisvolle Geschichten erzählt und den alten Wiegengesang anstimmt, den er schon vor soviel tausend Jahren gesungen und noch so viele tausend Jahre singen wird, jenen Gesang, den wir zu verstehen glauben, da wir so oft an seinem liebevollen Busen geruht und seine flüsternden Töne vernommen haben, obschon wir in Worten die Geschichten, denen wir lauschen, nicht wiederzugeben vermöchten.

Und wir sitzen hier an seinem Rande, während sich der Mond, der ihn ebenfalls liebt, herunterneigt, ihn mit schwesterlichem Kuß zu küssen und ihn mit seinen Silberarmen zärtlich zu umschlingen; und wir schauen zu und lauschen, wie er ewig singend, ewig flüsternd, hinunterfließt, um sich mit seiner Herrin, der See, zu vereinigen, – bis unsere Stimmen dann ebenfalls ersterben, die Pfeifen ausgehen, und wir – sonst nicht viel mehr als junge Alltagsmenschen – von seltsamen, traurigsüßen Gedanken uns erfüllt fühlen, die wir nicht auszusprechen wissen, noch auszusprechen wünschen, – bis wir anfangen zu lachen und uns erheben, um die Asche aus den erloschenen Pfeifen auszuklopfen und uns gegenseitig gute Nacht zu wünschen, und eingelullt von dem leise an unser Boot leckenden Wasser und dem Rauschen der Uferbüsche, unter dem großen, weiten Sternenzelt einschlafen und träumen, die Welt sei wieder jung geworden, jung und süß und frisch, wie sie zu sein pflegte, ehe Jahrhunderte von Not und Sorgen ihr schönes Antlitz gefurcht, ehe ihrer Kinder Sünden und Torheiten ihr liebendes Herz versteinert hatten; träumen, sie sei wieder die hohe, junge Mutter, wie in jenen entschwundenen Zeiten, wo sie uns Kinder an ihrem vollen Busen nährte, ehe die Lockungen einer übertünchten Zivilisation uns aus ihren Liebesarmen weggelockt hatten, und das Gift und der Hohn einer überfeinerten Welt uns veranlaßte, uns des einfachen Lebens, das wir mit ihr geführt hatten, zu schämen, und des ländlichen, traulichen, heimischen Herdes, an dem die Menschheit so viele tausend Jahre zuvor geruht hatte. –

»Wie aber, wenn es regnet?« fragte Harris – Harris läßt sich niemals und durch nichts fortreißen. Er ist so ganz und gar nicht poetisch angehaucht, bei ihm ist keine Sehnsucht nach dem ewig Unerreichbaren; Harris weint niemals, »ohne zu wissen, warum!« – Wenn sich seine Augen mit Tränen füllen, so könnt ihr darauf schwören, daß er entweder rohe Zwiebeln gegessen oder zuviel WorcestersauceEine sehr scharfe Sauce, die man in Flaschen kauft. auf seine Hammelkeule gegossen hat.

Wenn ihr einmal während der Nacht mit Harris am Seeufer stündet und zu ihm sprächt: »Horch! Hörst du nichts? Ist das nicht der Gesang der Meerjungfrauen in der Tiefe? oder die Trauergeister, die die Totengesänge für die weißen Leichname singen, die im Seegras hängen?« – so nimmt euch Harris am Arm und sagt: »Ich weiß, was es ist, alter Junge! Du hast dich erkältet. Nun komm' nur mit mir; gleich da um die nächste Ecke weiß ich ein Plätzchen, wo du den feinsten schottischen Whisky bekommst, den du jemals geschluckt hast, der bringt dich stracks wieder zurecht!«

Harris weiß nämlich immer ein Plätzchen »gleich um die nächste Ecke«, wo man etwas Brillantes zu trinken bekommt. Ich glaube, wenn ihr Harris im Paradiese begegnen würdet, wenn er überhaupt jemals dahin gelangte, so würde er euch sofort begrüßen: »O, wie freue ich mich, daß du gekommen bist, altes Haus! Ich habe da gleich um die nächste Ecke ein gar nettes Plätzchen gefunden, wo man wirklich den feinsten Nektar schlürft.«

Im gegenwärtigen Fall indessen, wo es sich um das Logieren im Freien handelte, kam sein praktischer Einfall gar nicht zur Unzeit. Bei Regenwetter im Freien zu übernachten ist nicht angenehm. Man denke sich: es ist Abend; man ist durch und durch naß, und das Boot ist gut zwei Zoll hoch mit Wasser gefüllt, und alles ist weich von der Nässe. Man findet einen Platz am Ufer, der einem weniger morastig erscheint als das übrige Uferland; so landet man denn, holt das Zelt heraus und zwei von der Gesellschaft fangen an, es aufzuschlagen. Es ist ganz vom Wasser durchtränkt und unsinnig schwer, schlappt um einen herum, schlägt einem aufs Haupt, klebt an einem und ist nicht wieder wegzubringen, obgleich man schier verrückt darüber wird. Währenddessen regnet es unverdrossen fort. Ein Zelt aufzuschlagen ist schon bei gutem Wetter eine Mühe, bei Regenwetter wird es eine Herkulesarbeit. – Euer dritter Mann, anstatt euch zu helfen, scheint euch noch zum besten haben zu wollen. Eben wenn ihr euer Ende hübsch fest gemacht habt, läßt er seines fahren, und die ganze Mühe ist verloren. »Na, was machst du denn!?« ruft er ihm zu. »Ja, was machst du denn für Zeug?« erwidert er, »Mach's fest! Kannst du denn das nicht?«

»Zieh' doch nicht daran! Du machst ja alles verkehrt, du dummer Esel!« schreit ihr nun hinüber.

»Nein, ich habe es nicht verkehrt angegriffen,« ruft er dagegen, »laß du deine Seite fahren.«

»Und ich sage dir, du hast das Ding verkehrt angefaßt,« brüllt ihr ihm nun zu und wünscht im stillen, ihm eins verabreichen zu können; und ihr zieht an euren Tauen und reißt ihm alle seine Pflöcke wieder aus.

»O! Dieses Rindvieh!« hört ihr ihn noch vor sich hinbrummen; dann erfolgt ein wilder Zug und fort fliegt das Zelt auf eurer Seite. Ihr werft den Hammer weg und geht um das Ding herum zu ihm hinüber, um ihm zu sagen, was ihr von seiner Art zu arbeiten haltet; und er geht auf der anderen Seite in derselben Absicht zu euch hin. – Und so geht ihr dann umeinander herum und flucht und wettert, bis endlich das Zelt auf einen Haufen zusammenkracht und ihr über seinen sterblichen Überresten einander anstarren könnt und euch nun beide in einem Atem höchlichst entrüstet anschreit: »So! Da haben wir's! Hab' ich dir's nicht vorhergesagt?«

Mittlerweile hat euer dritter Mann das Boot ausgeschöpft, wobei ihm das Wasser durch die Ärmel am bloßen Leib hinabgelaufen ist, und hat dabei während der letzten zehn Minuten immer leise vor sich hin geflucht; er will jetzt wissen, was, bei allen Teufeln, ihr denn gemacht habt, und warum das verdammte Zelt noch immer nicht aufgeschlagen ist? Endlich aber kommt es auf die eine oder andere Weise zustande, und man landet die Sachen. Ein Holzfeuer anzufachen, ist ein vergebliches Bemühen, so wird denn die Weingeistflamme angezündet, um welche sich nun die Insassen gesellen.

Regenwasser ist der Hauptartikel bei dem Abendschmaus. Das Brot besteht zu zwei Dritteln aus Regenwasser, das Beefsteak enthält solches in reichster Menge, und die eingemachten Früchte, die Butter, das Salz und der Kaffee haben sich friedlich zu einer Suppe vereinigt! Nach dem Nachtessen stellt sich heraus, daß der Tabak naß geworden ist und ihr nicht rauchen könnt. Glücklicherweise habt ihr noch eine Flasche von dem Stoff der Erheiterung und des Vergessens – NB. in gehöriger Quantität zu genießen! – Der stellt euer Interesse am Leben so weit wieder her, daß ihr es über euch vermögt, euch hinterher ins Bett zu begeben. Da träumt euch denn, ein Elefant habe sich auf eure Brust niedergelassen, und ein Vulkan sei ausgebrochen und habe euch auf den Grund der See versenkt, während der Elefant noch immer mit unverrücktem Gleichmut auf eurem Busen schlafe. Jetzt wacht ihr auf mit dem Bewußtsein, daß irgend etwas Furchtbares passiert sein müsse. Eure erste Vermutung ist die, daß der Weltuntergang stattgefunden habe; dann fällt euch ein, daß dies doch nicht wohl möglich sei, und ihr denkt an Räuber und Mörder oder an eine Feuersbrunst und gebt dieser Vermutung in der gewöhnlichen Weise Ausdruck. Aber keine Hilfe kommt, und alles, was ihr mit Bestimmtheit anzugeben wißt, ist, daß eine ganze Horde Menschen euch Püffe versetzt und ihr obendrein erstickt werdet.

Jemand anders scheint auch in Nöten zu sein. Ihr hört seine schwachen Ausrufe unter eurem Lager hervorkommen. Entschlossen, auf jeden Fall euer Leben teuer zu verkaufen, kämpft ihr ganz krampfhaft, indem ihr rechts und links mit Armen und Beinen ausschlagt und währenddessen hell aufschreit; zuletzt gibt irgend etwas nach, und ihr fühlt euren Kopf von frischer Luft umweht. Zwei Schritt von euch entfernt erkennt ihr im Dunkel einen halb angezogenen Kerl, der euch offenbar abtun will, und mit dem ihr euch jetzt auf einen Kampf auf Leben und Tod einlassen wollt – bis es euch zu dämmern beginnt, daß es euer Freund Jim ist.

»So, du bist's, du?« sagt der, der euch nun auch erkennt.

»Ja!« sagt ihr, indem ihr euch die Augen reibt, »was ist passiert?«

»Das verdammte Zelt ist, glaube ich, auf uns heruntergefallen,« sagt er. »Aber wo steckt denn Wilhelm?«

Dann ruft ihr beide aus Leibeskräften nach Wilhelm; da hebt und bewegt sich der Grund unter euch, und die erstickte Stimme, die ihr vorhin hörtet, antwortet euch aus der Zeltruine heraus.

»Könnt ihr euch auf keinem andern Platz Rendezvous geben als auf meinem Kopf? Wie?« Und Wilhelm strampelt und müht sich ab und schält sich endlich aus dem Haufen heraus, ein schmutziges, zertretenes Etwas, das sich in ganz unnötig feindseliger Stimmung befindet; denn er hat die fixe Idee, daß man ihm absichtlich so mitgespielt habe.

Am andern Morgen seid ihr alle drei heiser, da ihr euch während des nächtlichen Manövers stark erkältet habt. Ihr seid an diesem Morgen sehr streitbarer Natur. Und ihr flucht mit heiserer Stimme während der ganzen Frühstückszeit.

Also bestimmten wir, bei schönem Wetter im Freien zu übernachten, aber bei Regenwetter, oder wenn wir das Bedürfnis nach einem Wechsel fühlten, in einem Hotel, Wirtshaus oder Schenke zu schlafen, wie andere respektable Leute.

Montmorency begrüßte diese Entscheidung mit großem Beifall. Er schwärmt nicht für die Romantik der Einsamkeit. Etwas lärmende Unterhaltung, auch wenn sie nicht von der feinsten Art ist, behagt ihm weit besser. Wenn man Montmorency anschaut, möchte man denken, es sei ein auf die Erde gesandter Engel, der aus irgendeinem Grunde nicht menschliche Gestalt annehmen durfte, sondern in die eines kleinen Foxterriers gebannt wurde. Er hat einen Ausdruck in seinem Hundegesicht, der deutlich sagt: »O, was für eine schlechte Welt ist doch dies! O! Wie wünschte ich, sie besser und edler zu machen!« – Ja, so sieht er drein; und ich erinnere mich, daß er mit diesem Ausdruck zartfühlenden älteren Damen und Herren schon Tränen entlockt hat.

Als er zuerst bei mir Kost und Wohnung empfing, da dachte ich nicht, daß ich ihn lange behalten dürfe. Wenn ich ihn so ansah, wie er auf dem Kaminteppich lag und zu mir aufschaute, so konnte ich nicht umhin, zu denken: »O, dieser Hund wird nicht alt! Er wird auf einem Wagen in den hehren Himmel fahren; ja, gewiß, das wird sein Los sein!«

Aber nachdem ich ungefähr ein Dutzend Hühner, die er zerrissen, hatte vergüten müssen, und ihn, knurrend und um sich beißend, am Halsband aus wohl 114 Straßengefechten herausgerissen hatte; und nachdem eine aufs höchste erboste Dame mir ihre von ihm getötete Katze vor die Füße geworfen und mich einen Mörder genannt hatte; und als ich von einem meiner Nachbarn vor Gericht zitiert wurde, weil mein wütender Hund ihn während einer Grimmkälte über zwei Stunden lang in seinem Werkschuppen belagert habe, und als ich hörte, daß der Gärtner ohne mein Wissen 30 Schilling damit verdient hatte, daß er ihm Ratten fing (nämlich der Hund dem Gärtner), so kam mir endlich doch ein anderer Gedanke betreffs seines friedlichen Lebenswandels, und ich glaubte nicht mehr so recht an seine demnächstige Himmelfahrt! –

Um einen Stall herumlungern und eine Bande der unreputabelsten Hunde, die in der Stadt zu finden sind, um sich zu versammeln, und sie dann gegen andere ebenso unreputabele Hunde ins Gefecht zu führen, das scheint Montmorency für seinen Lebenszweck zu halten, und deswegen gab er der Idee, im Wirtshaus und in Schenken zu übernachten, seinen lebhaften Beifall.

Nachdem wir vier dermaßen über unser Nachtquartier ins reine gekommen waren, blieb uns nur noch übrig, auszumachen, was wir an Gepäck mitnehmen sollten; aber als dieser Gegenstand aufs Tapet gebracht war, meinte Harris, er habe heute abend schon genug Leistungen zum besten gegeben und mit angehört und schlage deshalb vor, wir sollten alle miteinander ausgehen und »einen hinter die Binde gießen«, gleich beim nächsten Häuserviereck habe er ein Plätzchen ausfindig gemacht, wo man ein feines Tröpfchen irischen Whiskys zu schlürfen kriege.

Georg meinte, er verspüre etwas wie Durst (ich kann mich der Stunde nicht entsinnen, in welcher Georg keinen Durst verspürt), und da mir eine deutliche Ahnung sagte, daß etwas warmer Whisky, im Verein mit einer Zitronenscheibe, meinem Leiden Linderung bringen würde, so wurde unter allgemeiner Zustimmung die Debatte auf den folgenden Abend vertagt; die Versammlung griff nach Hut und Stock und hub sich von dannen.

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