Jerome Klapka Jerome
Drei Mann in einem Boot
Jerome Klapka Jerome

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Da wir nun Georg bei uns hatten, ließen wir ihn auch brav arbeiten. Er hatte natürlich gar kein besonderes Verlangen danach. Das versteht sich ja bei Georg von selbst. Er habe harte Arbeit in der City gehabt, erklärte er uns. Harris, der ziemlich hartherzig und mitleidlos ist, bemerkte:

»Ganz recht; jetzt bekommst du zur Abwechslung harte Arbeit auf dem Fluß; eine Abwechslung bekommt jedermann gut. Hinaus mit dir!«

Dagegen konnte Georg mit gutem Gewissen – wie weit sein Gewissen auch sein mochte – nichts einwenden, obwohl er vorbrachte, es möchte vielleicht besser sein, wenn er den Tee bereiten könnte, während Harris und ich das Boot zögen; denn die Teebereitung sei bekanntlich ein heillos schwieriges Geschäft und Harris und ich sähen doch recht ermattet aus.

Die einzige Antwort, die wir ihm darauf gaben, war, daß wir ihm die Leine hinreichten; die nahm er denn auch und stieg aus.

Es ist etwas Seltsames und Unberechenbares um eine solche Schleppleine. Da wickelt man sie mit so viel Sorgfalt auf, als gälte es, ein neues Paar Beinkleider zusammenzufalten, und fünf Minuten nachher, wenn man sie aufnehmen will, bildet sie ein spukhaftes, sinnverwirrendes Netz.

Ich will mich gewiß jeder Beleidigung enthalten, aber ich bin fest überzeugt, daß, wenn man eine nur mäßig große Leine nähme, sie der Länge nach auf einer Wiese auseinanderlegte und dann, wär's auch nur auf eine halbe Minute, den Rücken kehrte, man sie sicherlich in der Mitte des Wiesenplans auf einen Haufen gewickelt, zusammengeflochten und in einen Knoten geschürzt finden würde, während die beiden Enden verloren gegangen und nichts als Schlingen und Schleifen zu sehen wären; und im nassen Grase sitzend würde es einen nun eine gute halbe Stunde Zeit kosten, sie wieder zu entwirren, wenn man es auch an den obligaten Flüchen gewiß nicht fehlen ließe. Das ist meine Meinung über Schleppleinen im allgemeinen. Es mag natürlich auch ehrenhafte Ausnahmen geben, ich will nicht behaupten, daß es deren keine gäbe. Es mag Leinen geben, die ihrem Beruf wirklich Ehre machen – gewissenhafte, rechtschaffene Leinen, welche sich nicht einbilden, sie seien Häkelarbeit, Leinen, die nicht versuchen, sich zu Fauteuilschonern zusammenzustricken, sobald sie einen Augenblick sich selbst überlassen sind. Ich sage, es mag solche Schlepptaue geben; ich hoffe und wünsche es sogar aufrichtig; aber vorgekommen ist mir ein derartiges bis jetzt noch nicht.

Nun, ich hatte unsere Leine selbst eingezogen, gerade als wir vor der Schleuse angekommen waren. Ich wollte Harris nichts damit zu tun haben lassen, denn er ist so nachlässig. Ich hatte sie mit besonderer Sorgfalt aufgerollt, in der Mitte zusammengebunden, zwei Teile daraus gemacht und dann fein säuberlich auf den Boden des Boots niedergelegt. Dann hatte sie Harris mit mathematischer Pünktlichkeit aufgenommen und Georg in die Hand gegeben. Georg hatte sie mit festem Griff erfaßt und, während er sie etwas vom Leib hielt, begonnen, sie wieder abzuwickeln, und er tat dies so bedächtig, als ob er ein neugeborenes Kind aus den Windeln herauszuschälen hätte; aber noch ehe er auch nur ein Dutzend Meter abgewickelt hatte, sah das Ding eher einer schlecht gearbeiteten Strohmatte als irgend etwas anderem ähnlich. –

So ist's immer, und was drum und dran hängt, ist auch immer so. Der Mann am Ufer, der bemüht ist, das Tau zu entwirren, denkt, die ganze Schuld der Verwirrung liege an dem, der es aufgewickelt hat, und – beim Bootfahren befragt man nicht erst das »Lexikon der feinen Sitte« – was er denkt, das sagt er auch.

»Was hast du denn mit dem Ding da eigentlich machen wollen, he? Ein Fischnetz etwa? Da hast du eine schöne Suppe angerichtet, jawohl! Hättest du es denn nicht aufwickeln können, wie sich's gehört, du Schafskopf?« so grunzt er seinen Genossen von Zeit zu Zeit an, während er in wildem Kampfe mit dem Ding begriffen ist; dann legt er es auf dem Leinpfad weit auseinander und rennt darum herum, um eines der verlorenen Enden zu finden.

Andrerseits ist der, der aufgewickelt hat, fest überzeugt, daß die Schuld an dem ganzen Wirrwarr nur an dem liegt, der es abwickeln sollte.

»Es war ganz in der Ordnung, als du es in die Hand nahmst,« ruft er unwirsch. »Warum hast du den Kopf nicht bei der Arbeit? Wenn du etwas schaffst, so gibt's doch jedesmal eine Schlapperei! Du wärst imstande, einen Pfahl mit sich selbst zu verstricken.«

Und sie werden so böse aufeinander, daß sie sich am liebsten an der Leine gegenseitig aufhängen würden. So gehen zehn Minuten vorüber; jetzt stößt der am Ufer einen Schrei aus und geberdet sich wie toll. Er tanzt auf dem Tau herum, greift nach dem ersten besten Stück und zieht und zerrt daran, so stark er kann. Natürlich wird der Knoten dadurch nur noch fester. Da springt der zweite Mann aus dem Boot ans Ufer, um ihm zu helfen; hierbei geraten sie einander in den Weg und hindern sich gegenseitig. Sie ziehen beide an dem nämlichen Strang der Leine, aber in entgegengesetzter Richtung, und dabei wundern sie sich, wo es nun wieder festhält. Zuletzt bringen sie es doch noch auseinander, dann sehen sie sich nach dem Boot um und entdecken, daß es mittlerweile davon getrieben ist und geradenwegs auf das Wehr zusteuert. Dies ist kein erfundener Vorgang, sondern einer, von dem ich selbst einst Augenzeuge war.

Wir befanden uns bei Boveney. Es war ein etwas windiger Morgen; stromabwärts fahrend, bemerkten wir bei einer Krümmung des Flusses zwei Menschen am Ufer. Sie schauten einander mit solch bestürzten Blicken, mit solch unsäglich hilflosem Ausdruck an, wie ich ihn vorher und nachher nie wieder in einem menschlichen Antlitz gesehen habe. Sie hielten eine lange Schleppleine in Händen. Offenbar war ihnen etwas zugestoßen; daher steuerten wir nach dem Ufer und fragten, was geschehen sei.

»Ei, unser Boot ist auf und davon,« gaben sie ganz beleidigt zurück. »Wir sind nur eben ausgestiegen, um das Tau zu entwirren, und wie wir uns umschauen, ist das Boot futsch!« Und sie schienen entsetzlich beleidigt über dies gemeine und undankbare Benehmen ihres Bootes. Wir fanden den Deserteur eine halbe Meile weiter unten im Röhricht festsitzen und brachten ihn den Leuten zurück. Ich wette, was ihr wollt, eine Woche lang haben sie gewiß dieses Boot keines Blickes mehr gewürdigt.

Niemals werde ich das Bild wieder vergessen, das diese beiden Männer darboten, wie sie, das Tau in der Hand, am Ufer auf und ab gingen und nach ihrem Boot ausschauten.

Man erlebt doch manch lustiges Stückchen in bezug auf die Bootschlepperei, wenn man so den Fluß befährt. Eines der gewöhnlichsten ist der Anblick eines ziehenden Paares, das, in eine lebhafte Unterhaltung vertieft, machtvoll vorwärts strebt, während der Mann im Boot bei etwa einhundert Meter Abstand sich vergeblich heiser schreit, daß sie halten sollen, und als Notsignal wie wahnsinnig mit dem Ruder um sich schlägt. Etwas muß da passiert sein; entweder hat sich das Ruder aus den Angeln gelöst oder der Boothaken ist über Bord geglitten, oder der Hut ihm ins Wasser gefallen und schwimmt eilends davon. Er ruft ihnen zuerst ganz sanft und höflich zu, anzuhalten; dann immer noch ganz liebreich:

»He! Haltet einen Augenblick an, mein Hut ist ins Wasser gefallen!« Dann »He! Thomas, Richard! Hört ihr nicht?« Diesmal klingt's schon nicht mehr ganz so gemütlich wie vorhin. Darauf aber: »He! Hallo! Wenn euch doch der Teufel holte, ihr dickköpfigen Rindviehcher! He! Haltet doch! O, wäret ihr doch –!« Dann springt er auf und ärgert sich brandrot und flucht alle Flüche, die er jemals gehört hat.

Und die kleinen Buben am Ufer bleiben stehen und verhöhnen ihn und werfen Steine nach ihm, während er mit einer Geschwindigkeit von vier Meilen die Stunde an ihnen vorbeigezogen wird und das Ufer nicht gewinnen kann.

Viel solcher Mühsal und Ärger könnte verhindert werden, wenn die Leute an der Leine, eingedenk, daß sie ein Boot ziehen, fleißig zurückschauen wollten, um sich zu überzeugen, was der Insasse des Bootes macht. Am besten ist's, nur eine einzelne Person ziehen zu lassen. Ziehen ihrer zwei, so fangen sie sicher an zu schwatzen und vergessen alles um sich her, und das Boot selbst, das nur geringen Widerstand leistet, erinnert sie nicht leicht an sein Dasein.

Als ein Beispiel, wie solch einem ziehenden Paare die ganze Welt entrückt zu sein scheint, erzählte uns Georg später am Abend, als wir nach dem Nachtessen den Gegenstand noch einmal erörterten, einen ganz merkwürdigen Fall.

Er und drei andre junge Leute, so erzählte uns Georg, hätten einmal abends von Maidenhead aufwärts ein sehr schwer beladenes Boot gerudert, und ein wenig oberhalb der Cockham-Schleuse hätten sie einen jungen Mann und ein Mädchen bemerkt, die auf dem Leinpfad in eine augenscheinlich höchst interessante Unterhaltung vertieft dahinschritten. Sie hielten miteinander einen Boothaken in Händen; an demselben war eine Leine befestigt, die ein Stück im Wasser hinter ihnen herschleifte. Aber weit und breit war kein Boot zu selben. Es mußte doch wohl einmal ein Boot an dieser Leine befestigt gewesen sein; aber was daraus geworden, welch schreckliches Schicksal es mit seinen Insassen ereilt hatte, das war in unerklärliches Dunkel gehüllt. Was sich aber auch immer ereignet haben mochte, das Paar am Boothaken war davon unberührt geblieben. Sie hatten ja den Boothaken und die Leine, und alles weitere schien ihnen zu ihrem Geschäft überflüssig.

Georg wollte sie eben anrufen und aus ihren Träumereien aufwecken, da schoß ihm ein guter Gedanke durch den Kopf, und er unterließ das Schreien. Statt dessen nahm er seinen Haken zur Hand und fischte damit das Ende der Leine aus dem Wasser in sein Boot und befestigte sie mit Hilfe seiner Gamaschen am Mast. Dann zogen sie ihre Ruder ein, machten es sich am Hinterende des Bootes bequem und zündeten ihre Tabakspfeifen an.

Georg meinte, er habe nie zuvor eine solch gedankenschwere Traurigkeit durch einen einzigen Blick ausgedrückt gesehen, wie damals, als das junge Paar an der Schleuse Halt machte und zu der Wahrnehmung erwachte, daß es während der letzten zwei Meilen ein falsches Boot gezogen habe. Georg glaubte, daß nur der Einfluß des süßen Geschöpfes an seiner Seite den jungen Mann von einer derben Gefühlsäußerung zurückgehalten habe.

Das Mädchen erholte sich zuerst wieder von seinem Erstaunen; dann aber rang es die Hände und rief in wildem Schmerze aus:

»O, Heinrich, wo ist denn nun die Tante geblieben?«

»Haben sie die alte Dame jemals wieder aufgefunden?« fragte Harris.

Georg sagte, er habe es nicht erfahren.

Ein anderes Beispiel von einem gefährlichen Mangel an Sympathie zwischen Zieher und Gezogenem erfuhren Georg und ich selbst einmal auf der Fahrt nach Walton. Es war an der Stelle, wo sich der Pfad ganz sachte gegen das Wasser senkt; wir hatten uns am jenseitigen Ufer gelagert und ließen die Blicke unbestimmt in die Weite schweifen. Mit eins kam ein kleines Boot in Sicht, das mit ungeheurer Geschwindigkeit von einem kräftigen Leinpferd, auf dem ein kleiner Junge hockte, gezogen wurde.

Im Boote selbst lagen fünf Burschen, anscheinend süßen Träumen hingegeben, und der Mann am Ruder hatte ein besonders schläfriges Aussehen.

»Wenn doch der jetzt am falschen Ende des Steuerseils zöge,« murmelte Georg, als sie an uns vorüberfuhren. In demselben Augenblicke geschah das in der Tat: das Boot rannte am Ufer an mit einem Gekreisch, als ob man vierzigtausend Laken zerrissen hätte.

Zwei Männer, ein Korb und drei Ruder verließen in demselben Moment das Boot auf der Backbordseite und blieben am Ufer hängen, und einige Augenblicke nachher landeten zwei andere von den Gesellen und verschwanden unter Boothaken, Segeln, Reisesäcken und Flaschen. Der fünfte Mann kam zwanzig Schritte weiter oben kopfüber aus dem Boot heraus.

Das schien nun das Boot wesentlich zu erleichtern, daher schoß es jetzt viel rascher davon, und der Junge auf dem Leinrosse schrie aus vollem Halse und trieb sein Pferd zum Galopp an.

Die Burschen richteten sich auf und starrten einander an. Erst nach geraumer Weile begriffen sie, was passiert war, und dann fingen sie an, dem Jungen Halt! zuzurufen. Dieser aber war viel zu sehr mit seinem Gaul beschäftigt, um auf sie zu hören. Wir schauten ihnen nach, bis wir sie aus dem Gesicht verloren hatten. Ich könnte nicht sagen, daß ich Mitleid mit ihrem Unglück gehabt hätte. Im Gegenteil, ich wünschte, all die jungen Lümmel, die sich in solcher Weise ziehen lassen – und viele tun das – möchten ebensolches Mißgeschick erfahren.

Außer der Gefahr, der sie selbst ausgesetzt sind, werden sie auch eine Gefahr und ein Hindernis für jedes andere Boot, das in ihren Weg kommt. Bei dem raschen Lauf ihres Bootes ist es unmöglich für sie, andern Booten auszuweichen, oder den andern, ihnen aus dem Wege zu gehen. Ihre Leine wickelt sich plötzlich um euren Mast, wirft euer Boot um, oder erfaßt einen seiner Insassen und wirft ihn ins Wasser, oder reißt ihm die Haut des Gesichts auf.

Der beste Plan ist in einem solchen Fall der, euren Kurs festzuhalten, und sie mit einer Stoßzange von euch abzutreiben.

Am aufregendsten ist es jedenfalls, sich von Mädchen ziehen zu lassen. Das ist ein Vergnügen, das sich niemand entgehen lassen sollte. Es sind immer drei Fräulein dazu erforderlich. Zwei von ihnen ziehen an der Leine, und das dritte rennt vor und hinter ihnen her und treibt Possen.

Regelmäßig fängt die Geschichte damit an, daß sie sich in die Leine verwickeln. Zuerst wickelt sie sich um ihre Füße; da müssen sie sich auf den Weg niedersetzen, um einander davon zu befreien; aber jetzt schlingt sie sich um ihre Hälse, so daß sie nahezu erwürgt werden.

Endlich kommen sie damit wieder in Ordnung, dann setzen sie sich in Marsch und rennen, daß das Boot eine ganz unheimliche Geschwindigkeit erlangt. Nach einer Weile müssen sie natürlich atemlos anhalten; dann setzen sie sich wieder alle ins Gras und lachen, während euer Boot in die Mitte des Stroms hinausgeht und sich im Kreise dreht, ehe ihr nur wißt, was geschah, oder ein Ruder ergreifen könnt. Dann stehen sie auf und machen große Augen.

»Seht nur,« rufen sie, »da ist es schon mitten in der Strömung draußen!«

Dann ziehen sie wieder eine Weile ganz ordentlich, bis es plötzlich einer von ihnen einfällt, daß sie ihr Kleid aufstecken sollte.

So halten sie zu diesem Zweck wiederum an, und dabei bleibt das Boot auf einer Sandbank sitzen. Jetzt fahrt ihr in die Höhe, stoßt es weg und ruft den Damen zu, sie sollen nicht anhalten.

»Ja!« rufen sie zurück. »Was gibt's denn?«

»Ihr sollt nicht halten!« – brüllt ihr jetzt, so laut ihr könnt.

»Was sollen wir nicht?«

»Nicht anhalten! Fortziehen, vorwärts, vorwärts!«

»Geh' einmal zurück, Emilie, und frage, was sie eigentlich wollen,« sagt eine von ihnen; und Emilie kommt zu uns zurück und fragt, was es gebe.

»Was wollt ihr?« fragt sie. »Ist etwas passiert?«

»Nein!« gebt ihr zur Antwort, »'s ist alles in Ordnung! Nur vorwärts – nicht anhalten!«

»Warum denn nicht?«

»Nun, weil wir nicht steuern können, wenn ihr haltet. Ihr müßt das Boot im Zug halten!«

»In was halten?«

»Ja, im Zug halten müßt ihr das Boot!«

»O, jetzt versteh' ich; ich werde es den andern sagen. Machen wir's sonst recht?«

»O ja! Ganz nett macht ihr's, nur sollt ihr nicht anhalten!«

»O, die Arbeit scheint gar nicht so schwierig zu sein. Vorher dachte ich, es sei so schwer zu lernen.«

»Ach nein, es ist ganz einfach. Ihr braucht nur gleichmäßig fortzuziehn, das ist alles!«

Um wieder auf Georg zurückzukommen – nach einer guten Weile bekam auch er seine Leine wieder klar, und dann zog er uns ganz normal bis Penton-Hook. Da besprachen wir nun die wichtige Frage wegen des Nachtlagers. Wir hatten beschlossen, die Nacht an Bord zu schlafen; in diesem Fall mußten wir entweder bleiben, wo wir waren, oder noch bis Staines weiterfahren. Es schien uns noch zu früh, jetzt schon unter Dach zu gehen, da die Sonne noch am Himmel stand, so beschlossen wir denn, gerade noch bis Runnymead, drei und eine halbe Meile weiter stromaufwärts, zu schiffen, wo ein ruhiges, bewaldetes Plätzchen am Ufer einen guten Schutz für die Nacht versprach.

Nachmals wünschten wir indessen alle drei, daß wir lieber in Penton-Hook übernachtet hätten. Drei oder vier Meilen stromaufwärts zu rudern, ist am frühen Morgen eine Kleinigkeit, aber am Ende eines langen Tages eine schwere Arbeit. Während dieser letzten Meilen interessiert euch die schönste Landschaft nicht mehr, ihr mögt nicht mehr schwatzen und nicht mehr lachen. Jede halbe Meile erscheint euch so lang wie zwei ganze. Ihr könnt kaum begreifen, daß ihr erst da seid, und glaubt steif und fest, daß die Karte unrichtig sei; und wenn ihr euch mit Ach und Krach eine Strecke weiter gerudert habt, die euch zum wenigsten zehn Meilen weit dünkt, und die Schleuse dann noch immer nicht in Sicht ist, so fürchtet ihr im Ernst, irgend jemand müsse sie gestohlen oder fortgeschleppt haben. Ich erinnere mich, bei einer Fahrt den Fluß hinauf einmal schmählich aufgesessen zu sein – ich meine natürlich im figürlichen Sinne. Ich hatte eine junge Dame bei mir, eine Cousine mütterlicherseits. Wir waren auf dem Rückweg hinab nach Goring. Es war schon etwas spät, und es lag uns daher daran, zu rechter Zeit nach Hause zu kommen, d. h. meiner Base lag daran. Schon drohte die Dämmerung hereinzubrechen; da fing das Fräulein an, in Aufregung zu geraten. Sie meinte, zum Abendessen müsse sie zu Hause sein. Ich erwiderte ihr, auch ich verspürte so ein gewisses unbestimmtes Sehnen nach einem Abendbrote. Ich zog die mitgenommene Karte heraus und sah nach, wie weit wir jetzt noch hätten. Ich überzeugte mich, daß es gerade noch anderthalb Meilen bis zur nächsten Schleuse, bei Wallingford, seien, und von da noch fünf Meilen bis Cleeve.

»O, nur keine Angst!« sagte ich; »wir kommen noch vor sieben Uhr durch die nächste Schleuse, und dann gibt es nur noch eine weitere zu passieren.«

So legte ich mich denn wieder ins Zeug und ruderte in gleichmäßigem Tempo weiter. Wir fuhren unter der Brücke durch, und bald darauf fragte ich sie, ob sie die bewußte Schleuse sehe. Sie erwiderte mir aber: nein, sie sehe keine Schleuse; ich bemerkte hierauf: »O!« und ruderte weiter. Nach Verlauf von weiteren fünf Minuten bat ich sie, nun wieder auszuschauen. »Nein,« sagte sie, »ich sehe keine Spur von einer Schleuse.« »Aber bist du – bist du wirklich sicher, daß du weißt, was eine Schleuse ist, wenn du eine siehst?« fragte ich sie etwas zögernd, da ich sie nicht beleidigen wollte.

Aber es beleidigte sie doch, und sie meinte ärgerlich, ich sollte selbst ausschauen; so zog ich denn die Ruder ein und schaute aus. In gerader Richtung lag der Fluß vor uns da, ungefähr eine Meile weit sichtbar – aber weit und breit keine Spur von einer Schleuse.

»Du meinst doch nicht, daß wir den Weg verloren haben, wie?« fragte meine Gefährtin.

Wie dies hätte zugehen sollen, konnte ich zwar nicht einsehen; doch gab ich der Vermutung Ausdruck, wir seien vielleicht auf irgendeine Weise in den Wehrabfluß geraten und steuerten jetzt auf die Wasserfälle zu. Diesen guten Gedanken fand meine Base nicht im mindesten tröstlich; im Gegenteil, sie fing an zu weinen, und sagte, wir würden beide ertrinken, und dies wäre ein über sie verhängtes Strafgericht, weil sie mit mir ausgefahren sei. Das erschien mir nun doch eine ungebührlich harte Strafe zu sein; aber meiner Base kam es nicht so vor; sie äußerte die Hoffnung, es werde bald alles vorüber sein.

Ich versuchte ihr wieder etwas Lebensmut und Hoffnung einzuflößen und die Angelegenheit auf die leichte Achsel zu nehmen. Ich erklärte ihr, die ganze Geschichte rühre davon her, daß ich eben nicht so geschwind gerudert hätte, als ich geglaubt; aber wir würden nun bald die Schleuse erreichen. Dann ruderte ich noch eine Meile vorwärts.

Jetzt fing ich selbst an, unruhig zu werden. Ich schaute wieder auf die Karte. Da stand die Wallingfordschleuse ganz deutlich bezeichnet – anderthalb Meilen unter der Pensonsschleuse. Es war eine gute, verläßliche Karte, und überdies erinnerte ich mich der Schleuse noch ganz gut von früher her. Ich hatte sie schon zweimal passiert. Aber wo waren wir denn um des Himmels willen? Was war uns zugestoßen? Es kam mir zuletzt alles wie ein Traum vor; mir war's, als müsse ich schlafend im Bette liegen, um in der nächsten Minute mit dem Rufe, es sei zehn Uhr, aufgeweckt zu werden. Ich fragte meine Base, ob sie es für möglich hielte, daß dies alles nur ein Traum sei; sie meinte, sie habe diese Frage eben an mich richten wollen; dann fragten wir uns, ob wir beide wohl schliefen, und wenn dies der Fall wäre, wer von uns wirklich diesen Traum träume, und wer nur eine Traumgestalt für den andern sei. Es war dies eine ganz interessante Untersuchung.

Währenddessen ruderte ich immerzu, aber trotzdem kam noch immer keine Schleuse in Sicht. Der Fluß, von den dunkler werdenden Schatten der Nacht bedeckt, wurde immer düsterer und unheimlicher, überall schien es gespenstisch zu spuken. Ich dachte an Kobolde und Hexen, an Irrlichter und an jene bösen Mädels, die nächtlicherweile auf den Felsen sitzen und die Leute in die Wirbel der Fluten und in solches Zeug hineinlocken; und ich wünschte jetzt ein besserer Mensch gewesen zu sein und mehr fromme Lieder gelernt zu haben.

In solche Betrachtungen versunken, hörte ich auf einmal – wer beschreibt mein Entzücken – auf einer schlecht gespielten Ziehharmonika die Weise »Ach, ich hab' sie ja nur usw.« ertönen, und jetzt wußte ich, daß wir gerettet waren.

In der Regel schwärme ich nicht für die Töne der Ziehharmonika; aber wie herrlich erklangen sie uns beiden in diesem Augenblick! Weit, weit lieblicher als die Stimme des Orpheus oder Apollos Leier oder irgend etwas derartiges uns hätte erklingen können. Himmlische Musik hätte uns beide in unserem damaligen Gemütszustande nur noch tiefer beunruhigen können. Eine ergreifende, schön wiedergegebene Melodie würden wir ohne Zweifel für eine Geisterwarnung gehalten und alle Hoffnungen aufgegeben haben. Aber die Klänge des »Ach, ich hab' sie ja nur usw.«, das krampfhaft aus den Saiten gezerrt und mit unfreiwilligen Variationen vorgetragen wurde, waren unzweifelhaft von Menschenhänden hervorgebracht – ein unsagbar beruhigender Gedanke!

Die süßen Töne kamen näher, und bald lag das Boot, dem sie entströmten, an unserer Seite. Es enthielt eine Partie männlicher und weiblicher Insassen vom Lande, die eine Fahrt im Mondschein machen wollten. (Daß kein Mond scheinen wollte, war ja nicht ihre Schuld!) Ich habe in meinem ganzen Leben keine reizenderen, liebenswürdigeren Leute gesehen. Ich rief sie an und fragte, ob sie mir den Weg nach der Wallingfordschleuse weisen könnten, und teilte ihnen mit, daß ich schon seit zwei Stunden auf dem Lugaus nach dieser Schleuse sei. »Wallingfordschleuse?« riefen sie aus. »Na, Gott soll Ihnen helfen, Herr! Diese Schleuse ist schon seit über einem Jahr abgetragen worden, es gibt jetzt keine Wallingfordschleuse mehr, mein Herr. Sie sind jetzt ganz nahe bei Cleeve!«

»Hol' mich der Kuckuck! Da ist ein Herr, Willy, der nach der Wallingfordschleuse auslugt!«

Daran hatte ich niemals gedacht. Ich hätte allen um den Hals fallen und sie küssen mögen; aber der Fluß strömte zu stark, um das zu erlauben; so mußte ich mich begnügen, ihnen mit kalt klingenden Worten meine warme Dankbarkeit zu bezeigen.

Wieder und wieder dankten wir ihnen und sagten, es sei eine entzückende Nacht, und wir wünschten ihnen eine vergnügte Weiterfahrt; ja, ich glaubte gar, ich habe sie alle auf eine Woche zu mir eingeladen, und meine Base meinte, ihre Mutter würde sich so freuen, sie alle bei sich zu sehen. Dann sangen wir das Soldatenlied aus »Faust« und kamen noch rechtzeitig zum Abendessen nach Hause.

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