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Die Schwarzamsel

Langsam weicht der Schnee, obgleich das Jahr schon vorgeschritten ist und die Sonne Kraft hat; der Erdboden ist tief gefroren und der Wind kalt wie eine Dusche, denn er kommt von draußen, von all dem vielen Eis, das seit Monaten in den Fahrwassern um die dänischen Inseln herumtreibt.

Jetzt aber müßte es bald so weit sein. Die Zugvögel warten bereits an der Grenze darauf, daß Thule geöffnet werde; die wenigen, die hier sind, fangen bei kleinem an, etwas zu sagen, nicht viel, nur einen kleinen Pieps, sie haben sich lange nicht gemuckst, jetzt aber wagen sie es doch ihre Stimme zugunsten des Frühlings abzugeben.

Den Spatzen hat es während der letzten Jahre behagt, die Bäume in den Anlagen bei der Heiligen-Geist-Kirche zu besetzen; hier hocken sie in dichten Scharen, so daß es aussieht, als hingen die Zweige voll runder, dauniger Früchte. Und ein Gezwitscher veranstalten sie, besonders zur Abendzeit, wenn der kurze, schwindende Tag sich mit dem Licht der Bogenlampen vermischt; Leute, die unter den zwitschernden Bäumen spazieren, können nicht begreifen, weshalb ihnen so sinnlos sommerlich zumute wird. Der Sperling ist unruhig geworden, man kann ihn mitten auf dem Fahrweg sitzen sehen, wo er sein vertragenes Winterkleid putzt, Luft unter die Flügel hereinläßt und sich rastlos hin- und herwendet; es scheint, daß ihm andre Dinge eingefallen sind als das tägliche Brot. Hier und dort in den Bäumen des Boulevards kann man ein Männchen sehen, das Anläufe zu herrlichen Kunsttänzen vor dem Liebchen macht, es dreht sich im Kreise mit radschlagendem Schwanz und hängenden Flügeln, es trippelt wie auf Feuer und zittert, während es den kleinen Schnabel zum Himmel hebt und, ach, ganz furchtbar tririlliert; das Ganze soll offenbar eine betäubende Ausstellung von Pracht und Augenlust sein. Das kleine graue Spatzenweibchen aber beachtet den Freiertanz ganz und gar nicht, es fliegt von dem Wundermann fort auf die Straße hinab, um dort etwas zu suchen, das vielleicht eßbar ist, erst mit dem einen Auge, dann mit dem andern; der Mann ist seiner Zeit voraus. Eines Tages aber wird man die Spatzenmutter mit einem langen güldenen Strohhalm im Schnabel über die Straße fliegen sehen, dann ist das Mirakel geschehen, das ihren Sinn geöffnet hat. Ach, wenn es doch bald geschähe!

Die Schwarzamsel schweigt. Sie hat sich den ganzen langen Winter in Gärten aufgehalten in der Nähe von Vogelbeerbäumen, die bis tief in die kalten Tage hinein ihre roten Beeren behalten haben; sie hat ihr scheues Gespensterleben hinter Bretterzäunen und in kahlen, schwarzen Büschen geführt, selbst schwarz wie Kohle und mit einem schwefelgelben Schnabel, wie eine Seele, die keinen Frieden finden kann, immer auf der Flucht, wenn man sie sah, immer stumm; denn das eigenartige, metallische Geschnatter, das sie von sich gibt, wenn sie flüchtet, ist nicht ihr eigentliches Wesen, es ist nur ein Wahnsinnsschrei, der sie in Wirklichkeit nur noch stummer macht; das Wesen der Schwarzamsel ist Gesang. Aber ihre Zeit ist noch nicht da.

Die Schwarzamseln, die den Winter über hierbleiben, sind nur Männchen. Die Weibchen ziehen mit dem übrigen Drosselzug nach dem Süden und sind noch nicht zurückgekehrt.

Auf dem Friedrichsberger Kirchhof braut der Frühling gar seltsam. Die Erde ist noch kalt, und die Stille im Garten der Toten wird weder von Mücken noch von anderm Sommergetier unterbrochen, hier schläft alles. Die Bäume stehen eigentümlich dick, mit draller Rinde da, schwellend von Wachstum, aber ohne Blätter. Die Trauerweiden, die fürs Frühjahr beschnitten sind, sehen wie verwachsene Knöchel von mystischen, ausgestorbenen Tieren aus, und die dunklen, zurechtgestutzten Nadelbäume träumen hoffnungslos vom Süden. Auf den Grabdenkmälern, die von entschwundenem Stil und von entschwundenen Zeiten erzählen, liest man die bekannten, schweigenden Namen, während das Sausen der Großstadt wie eine Mauer am Horizont steht, eine ewige Fülle, die das Schweigen hier drinnen noch nährt. Die Straßenbahn draußen in der Allee steigert ihre Fahrt mit einer lauten, zunehmenden Note – schon gut. Ein Dampfer heult draußen im Sund vor Sehnsucht nach dem Hafen. Ob der Kapitän auf der Brücke, der Heizer beim Kessel, diesem Kirchhof wohl einen Gedanken schenken? Ein Mädchen mit feuerrotem Haar geht am Gitter vorbei, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Wozu auch? – Hier ist gut sein. Oehlenschlägers Grab liegt tauwetternaß da, es blitzt kristallisch in dem rotbraunen Granit. »Charlotte«, liest man zwischen dem Efeu auf der Mauer, »geboren 1811, gestorben 1835«. Stille! Und wenn man sich die Bürde von Süßigkeit und Schmerz, die in toten Namen liegt, auf den Rücken geladen hat, schüttelt man sie wieder ab und geht davon. Hier ist es kalt, die Sonne aber wärmt durch die rauhe Luft, und wieder schaudert einem vor diesem Frühlingsmysterium, vor der Winterluft, durch die die Strahlenwärme der Sonne dringt.

Vormittags, wenn die Sonne ein wenig von einem ziemlich klaren Himmel herabscheint, bevor die Wolken sich zusammenziehen, um das gewöhnliche Tag- und Nachtgleichewetter zu bilden, raschelt ein kleiner Vogel auf dem Kirchhof, ich weiß nicht, ob es ein Fink oder irgend ein andrer kleiner Sänger ist. Er sitzt in einem Baum und grüßt die Sonne mit einem langen, ganz gedämpften Silberton, wie eine Zikade; es klingt wie ein weißer Sonnenstrahl, und ich sehe, wie der Vogel sich auf dem Zweige reckt, wie er sich lang macht und oben im Licht badet, wie er sich weich, mit dünnem Hals, zu etwas empor schmiegt, was durch die Luft zu ihm herabkommt: die Liebkosung der Sonne. Zu andern Zeiten bricht er in einen hellen, zarten Triller aus, der so klingt, als ob ein Stein über frischgefrorenes Eis hüpft, dann ruft er wahrscheinlich sein Weibchen. Ich hab gesehen, wie die beiden sich schnäbelten: das Männchen saß auf einem Zweig, und das Weibchen kam unter ihm herangeflogen, und indem er seinen Schnabel hinabreichte, biß sie sich darin fest und ließ sich frei in der Luft hängen, während sie beide mit den Flügeln schlugen und zitterten, so daß sie fast unsichtbar wurden, eine Doppelglorie von noch nicht reifer Wonne, der Ausdruck zweier unbewußter Herzen, daß sie sich freuten, auf den Frühling freuten.

Die Schwarzamsel aber ist allein. Sie flüchtet wie ein Schatten durch die Büsche auf dem Kirchhof, indem sie den Widerhall dieses messingkreischenden, wilden Gelächters hinterläßt, das so klingt, als ob sie nie im Leben ein Sängerherz im Leibe gehabt hätte. Kommt man ihr zu nah, dann sieht sie einen unversöhnlich an, schwarz und mit einem Schnabel, der in die Hölle getaucht zu sein scheint, dann duckt sie sich und flattert lautlos hinter den Zypressen zu einem andern Grabe.

Und dennoch ist es derselbe Vogel, den wir in einigen Wochen, vielleicht in einigen Tagen, auf einem der höchsten Grabsteine sitzen sehen werden, wo er sich in seinen blanken Federn der Sonne entgegenbrüstet, wie eine Seele, die über ihre zerbrochene Form triumphiert, die Kehle voll tiefer, herrlicher Flötentöne, eins mit dem Sonnenschein, brausend, der Schnabel von Gold! Dann ist das Weibchen heimgekommen.


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