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Auf dem Eise

Einige Menschen können gleichsam riechen, wann Eisbahn ist; es ist wie eine Art Freimaurerei. Am ersten Morgen, wenn das Eis trägt, treffen sie sich auf irgend einem Teich draußen im Lande, tauchen von verschiedenen Seiten aus und kennen sich nicht, sprechen nicht miteinander, und doch sieht es aus, als wäre es eine Zusammenkunft von heimlich Verschworenen. Diese ersten Morgenschlittschuhläufer haben so einen weiten Blick, sie atmen die Frostluft ein, als ob ihnen dabei ferne und angenehme Erinnerungen kämen, während sie in rhythmischen Schwingungen über das Eis gleiten, das noch unberührt ist, wobei sie dem glasklaren, feinbereiften Boden, mit den Wasserpflanzen und dem Seegrund in der Tiefe, seine allerersten, jungfräulichen Laute entlocken.

Es war einst an einem solchen windstillen Morgen in der Weihnachtswoche, als es mich auf meinem Rad zu den Seen im Walde hinauszog, und ich genoß das erste Eis zusammen mit einigen wenigen anderen, die auch den richtigen Frost in der Luft gespürt hatten. Die Bäume standen blätterlos und still wie eine Krypte um den Waldsee, auf dem das Eis unter den Schlittschuhen seufzte und lang; es war ein wolkenloser Tag, die Sonne aber brachte es nur bis zu einem roten Kupferschein auf dem Waldboden. Es war kurz nach Sonnenwende. Noch ein paar Tage, und man würde schon merken können, wie das Licht zunahm: die Sonne hatte mehr Macht auf ihrer kurzen Bahn, gleichzeitig aber nahm der Frost zu. Das ist der echte Winter, wenn das Eis zu einem frischen Schlittschuhlauf einladet und gleichzeitig eine neue Hoffnung in den Sonnenschein kommt, der die Menschen unbewußt froh macht.

Die Seen in der Stadt kündigten noch unsicheres Eis an und verboten das Betreten. Nur die Möwen, die in der Stadt überwintern, saßen in großen Scharen darauf. Auf den künstlichen Eisbahnen aber wurden emsige Vorbereitungen getroffen. Die Öffentliche wurde freigegeben. Dann schien es, als ob es Tauwetter werden wollte, aber der Frost behielt die Oberhand, und während der folgenden Wochen gab es ein allgemeines Klirren von Schlittschuhen auf den Straßen.

Auf der öffentlichen Bahn, zwischen dem Gefängnis und dem Kirchhof, wimmelt es von Jugend. Von weitem steht die flache Bahn wie ein Feld in einem Mikroskop aus, so krabbelt es von Lebewesen. Es sind hauptsächlich Kinder, von aufgeschossenen Lümmeln mit rauhen Stimmen und Dämchen mit Zöpfen bis zu kleinen Knirpsen, die ihre Nase nicht allein ausschnupfen können, aber umherflitzen, indem sie gewaltig auf ihren Schlittschuhen ausholen, die mir allerhand merkwürdigen Bindemitteln befestigt sind. Aufs Eis muß man, und Schlittschuhe gehören dazu! Man steht hier noch Schlittschuhe von uralter Fasson, die mit Bindfaden an geflickte Stiefel festgeschnürt sind; indem sie über das Eis gleiten, machen sie eine eigenartige nasale Musik, deren ich mich noch aus meiner Knabenzeit auf dem Lande erinnere; ihr Besitzer aber, ein kleiner verkommener Junge aus dem Arbeiterviertel, mit blauen Handgelenken, die aus einem zu kurzen Jackett hervorgucken, findet sie über alle Maßen herrlich und rutscht eifrig drauflos, hinein und heraus aus dem Gewimmel. Es lebe das künstliche Eis!

Die Fertigkeit hier draußen zwischen dem Gefängnis und dem Kirchhof ist im großen ganzen nicht überwältigend, die meisten beschränken sich darauf, geradeaus zu laufen, als gälte es das Leben, und dann wieder zurück. Doch sieht man auch hin und wieder einen wuchtigen Kerl, der auf einem alten Paar Halifax Anlauf zu Meisterschaftsschwingungen macht und mit einem großen Aufwand von Körperkräften das Eis in ungewöhnlichen Bogen aufraspelt. Alle Achtung vor ihm. Übrigens gibt es keine Klasse, die hier draußen auf der öffentlichen Eisbahn nicht vertreten wäre, auch die Wohlsituierten haben Zutritt; auf Schlittschuhen sind alle gleich. Zur Vollständigkeit sei bemerkt, daß ich zwischen den Gästen der Öffentlichen auch Vertreterinnen jener von allen, außer von Gott und Goethe verstoßenen Wesen gesehen habe, die man sich sonst unter freiem Himmel nur ihrem Beruf nachgehend vorstellen kann. Seltsam ist es, dabei ein gieriges, verheertes Gesicht auftauen und einige seiner Kinderzüge zurückgewinnen zu sehen, wahrscheinlich in Erinnerung an andere Eisbahntage einst vor langer Zeit auf dem Lande.

Im Friedrichsberger Garten und auf dem Kastellgraben beschreibt das vornehme Kopenhagen das Eis mit Schnörkeln und überlegenen Figuren, hier können alle etwas, und das wissen wir. Gibt es aber auch ein schöneres Zusammenspiel von Natur und Verfeinerung, als eine junge Dame auf dem Eise, in weichen, starken Schwingungen, frei und sorglos wie ein Frühjahr mitten im Herzen des Winters? Erfreulich zu sehen, wie viele junge schlittschuhlaufende Damen es in Kopenhagen gibt, wie es von reinen Wundern von Sicherheit und Grazie auf dem Eise wimmelt!

Für den aber, der außer einem Salonlauf in städtischer Umgebung die langen, luftigen Strecken draußen auf dem Lande liebt, sind die großen Seen in der Umgebung Kopenhagens da, wo das Eis in den letzten Tagen in meilenweiten, singenden Bahnen dagelegen hat. Wir waren eine Gesellschaft auf dem Furesee und belustigten uns außer mit einfachem Schlittschuhlaufen mit ein Paar Eissegeln, mit denen es sich in der frischen Brise gut manövrieren ließ. Man konnte bei halbem Wind quer über den ganzen See jagen und in denselben Spuren wieder zurück. Es taute vielleicht einen Grad, und es war etwas naß auf dem Eise, aber die Bahn war vorzüglich. Einige Tage vorher war das Eis so blank und durchsichtig gewesen, daß es einem schien, als laufe man über der klaren Tiefe dahin. Das geringste Ding unten auf dem Grunde konnte man unterscheiden: wir sahen alles, was es im Furesee an Fischen gibt, große, graublaue Schleihen, Hechte, zebragestreifte Barsche und uralte, schimmelige Karpfen. In ganzen Scharen zogen sie unter unseren Füßen hin. Jetzt aber war das Eis trübe.

Der weiche Wind blies mit einem kalten, erdigen Wohlgeruch, aus dem Ahnungen von Lenzerwachen sprachen, das Licht wechselte in feinen Tönen und Spiegelungen zwischen dem See und den umliegenden Ufern, und in all dieser Weite und Frische eilte man wie beflügelt mit dem Segel über das Eis. Der Wind schob hinterdrein mit einer sanften, nachgebenden Gewalt, bisweilen mit Stoßwinden, die einen nicht gerade hart anfaßten, vor denen man sich aber doch beugen mußte. Es war, als ringe man mit einem großen, milden und baumstarken Bauernmädchen, und wenn man trotz der Übermacht des Windes ihn zu überlisten und ihm Geschwindigkeit zu stehlen verstand, so mußte man laut lachen, wahrend man so allein dahinsauste.

Es waren nur wenig Leute auf dem Eise. Einmal begegnete uns ein Mann auf einem Paar verrosteter Schlittschuhe, der uns erzählte, daß ein Unbekannter nicht weit von hier in eine Wake gefallen und ertrunken sei. Wir liefen dorthin und sahen einige Leute mit einem Boot auf dem Eise stehen. Die Wake lag etwas weiter fort, ein kaum sichtbarer Streifen im Eise, und die Leute zeigten eine Mütze; das war alles, was von dem Tode eines Menschen erzählte.

Später fügte sich die Geschichte Zug für Zug von selbst zusammen. Einige Kinder hatten einen Schlittschuhläufer verschwinden sehen; Kinder sehen immer alles. Eines hatte vom Lande aus drei Notrufe gehört, erst laut und ängstlich, kurz darauf noch einmal, dann ein letztes hoffnungsloses Rufen. Aber es war nichts zu sehen gewesen. Später kommt durchs Telephon die Nachricht zu uns, daß man einen bestimmten Mann vermißt, und es kann kein Zweifel sein, daß er es ist. Man weiß, daß er ein ungewöhnlich körpergewandter Mann war, einer der besten Sportsleute des Landes. Daß er seine Mütze verloren hat, beweist, daß er unter großer Fahrtgeschwindigkeit in die Wake gestürzt ist, wobei er sich überschlagen hat. Und dann sinkt er, nachdem er sich umgesehen und gefunden hat, daß er allein ist, – nichts als das weite Eis, das unter Schlittschuhläufern weit, weit fort singt.

Zur Nachtzeit wird die Kalte wieder strenger, und das Eis zieht sich zusammen und berstet unter dumpfem Gebrüll von Ufer zu Ufer.

Hast du einen bekommen? brüllt es vom Bagsvärdsee wie ein kurzes, ohrenzerreißendes Krachen aus der tiefsten Tiefe der Erde.

Pause.

Dann antwortet es vom Furesee, ein donnernder Schuß, der von einem Ende des Eises zum anderen läuft:

Ja. Ich hab einen bekommen.

Es verklingt zu einem seufzenden Dröhnen in der Dunkelheit:

Ja. Ja. Ja.


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