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September

Ja die Blätter fangen an zu fallen. Sie haben den ganzen Sommer artig auf den Bäumen gesessen, jetzt wollen sie selbst etwas sein, und Gott steh ihnen bei! Sie knistern in den Stengeln vor Unabhängigkeitsdrang und wissen nicht, daß das neue beißende Leben von der Nachtkälte herrührt; es ist nicht mehr modern, grün zu sein, jedes Blatt will so gelb wie möglich werden, und ahnt nicht, daß es das Ende ist. Auf eigene Hand verwelken, das ist die Losung. Hu, hei, sie stieben von den Bäumen, sie wandern aus, nein, sie sagen, daß sie emigrieren, denn das klingt wilder, und schließlich ist es nur der Wind, der mit ihnen spielt.

Heute morgen jagte solch ein törichter Zug von vielen Hunderten über Nörrevold. Gott, wie geschäftig sie sich vorkamen; der Wind ging hinterher und lachte sich ins Fäustchen. Sie sprangen wie unsinnig, sie rasselten wie ein Zug winzig kleiner Skelette, aber Magerkeit ist natürlich vornehm, sie machten hundert Meter in der Sekunde, denn sie wollten ja ganz ans andere Ende des Boulevards, Tju!

Auch ich war im Wind draußen, Gott steh mir bei, ich fuhr auf meinem Zweirad durch die Stadt, und indem ich die verflogene Blätterschar sah, mußte ich an eine Eskadron Kosaken denken, die über die Steppe sauft … aber das ist eine neue und seltsame Geschichte. Ein Traum?

Ich schüttelte mehrere Male den Kopf – ja, ich hatte geträumt und war weit fortgewesen, fühlte mich noch wie verzaubert. Die schone, wilde Septembersonne hatte wohl in mein Fenster hineingeguckt und mich im Schlaf behext, und darum war ich aufgestanden und stillschweigend meines Weges geradelt.

Und draußen war alle Welt auf Reisen begriffen. Aufbruch aller irdischen Dinge, während der bleiche Himmel zusah und in seiner kranken Allwissenheit lächelte. Es war ein Abschiedsrausch in der Natur, der sie stumm machte. Die Wolken waren leicht geworden und zogen hoch oben in einem güldenen Fieber dahin. Und statt des alten Wetters, das jetzt Abschied nehmen sollte, war eine feine Kälte in die Luft gekommen. Unter der Langenbrücke marschierte das klare Wasser wellenstark in Kolonnen zum Meere hinaus. Auf den neuen Boulevards flog eine Staubwolke auf, die ein Reisebillett ganz bis zur heißen Sahara hatte, ja, ja; irgend etwas aber fiel ihr auf den Magen, so daß sie im letzten Augenblicke Heimweh bekam und sich mit häßlichen Korkzieherwindungen wieder niederlegte. Eine seltsame Macht zog mich nach Amager hinaus, als solle ich dort meine Seele wiederfinden, die mir im Schlaf genommen ward. Alles sah mich so merkwürdig bekannt an, jedes Ding dort draußen erschien mir geradezu notwendig für ein septemberverzaubertes Gemüt. Ein Hauch von Schwefelwasserstoff aus einem Graben mit verrosteten Blechgefäßen und Abfall erinnerte just so viel an den Frühling, daß man ihn als entschwunden empfand. Auf einem Abladeplatz wuchs eine kräftige und schmutzige Vegetation von Glaskräutern, Sauerampfer und anderem pöbelhaften Unkraut, das mit den Wurzeln in Glasscherben, Rost und Kalk stand – welche Einigkeit im Verfall und Wachstum!

Ein solcher Abladeplatz ist der Kökkenmödding der Zukunft; durch seine Ausgrabung wird Kopenhagens Kultur einst rekonstruiert werden – die Stadt, die dort drinnen wie ein Wasserfall murmelt und grünspanüberzogene Türme in die Höhe reckt. Ach ja. Aus einem Fabrikschornstein rinnt ein giftiger Schwefelsäuregeruch in die dünne, ferne Luft, das ist gut, das kenne ich. Die Schiffe dort längs des Gaswerkhafens zeigen mit ihren Masten und Raen, ich weiß, was sie sagen wollen. Vom Schießplatz ertönen Gewehrsalven, vom Wind getrieben, auch das hab' ich mal mitgemacht und weiß, weshalb so und soviel Zwischenraum zwischen jedem Schuß ist. Und seht dort die morschen Gerüste, mit denen sie signalisieren und die sie als Schießscheiben benutzen, und das Feld ist hier und da von Granaten aufgewühlt, auch das habe ich schon früher mit Interesse konstatiert. Also ich weiß, daß dies alles Amager ist, ich bin hier bekannt und damit basta …

Und dennoch – was war's doch, was mir träumte, weshalb ist das Feld so flach und so unendlich? Wo habe ich die Steppensonne schon früher einmal so kühl und singend untergehen sehen … war es auf den kahlen Landstrecken außerhalb Hankows, wo die Särge wie kleine Wohnräume stehen … war es in Arkansas, in dem »indianischen Sommer«, der jeden Grashalm zu Gold machte? Ist alles früher einmal gewesen, oder war es nur ein Traum? Wo das flache Land mit dem Meer zusammenfließt, das man von hier aus nicht sehen kann, bildet es die schöne Kurve, die die Rundung der Welt ist, und wenn ich dort Hinblicke, seufze ich im Takt mit dem Gang der Welt auf ewigen Wegen …. Der Wind flüstert etwas.

Weit hinten auf dem Felde, hinter einer Schießwand sehe ich ein aufgezäumtes Pferd stehen, ein kleines, langhaariges, sehniges Tier mit einem dicken Kopf, sehr ähnlich den Urpferden, die man auf Renntiergeweihen von Vorzeitmenschen geritzt sieht. Hm, denke ich und komme näher heran – da richtet sich eine Person auf, die im Schutze des hohen Stuhlsattels gestanden hat. Aber! … Das ist ja ein süßes Mongolenmädchen!

Ich sehe mich um, mißtrauisch, ob nicht ein grüner Wagen in der Nähe ist – Zigeuner hier auf dem Schießplatz – Unsinn! Es wird schon seine Nichtigkeit haben. Und nun nickt sie und lacht.

Wir mustern einander, und ich sehe, indem ich sie mit einem Blick von der hohen Pelzmütze zu den kleinen, roten Schaftstiefeln herab umfasse, daß sie vor Leben knistert, daß sie glatt und geschmeidig ist, denn sie ist ja vom Winde erschaffen, ebenso wie der Fisch vom Wasser.

Es spielt über ihre gelben Zuge mit den enorm hervorstehenden Backenknochen, es spielt in ihren kleinen betauten Jettaugen … der Wind, die Steppe, die Unendlichkeit und die tausend Jahreszeiten, es weht, es lacht: Wolga – Wolga, Kirghisensteppe, Tibet, Sibirien, China; das Lächeln ihrer Zähne scherzt wie die frohen Sagen von Asiens reisenden Herrschaften: Tungusen, Eskimos, Hunnen, Tartaren, und dann weiter über die Beringstraße mit den reisenden Rothäuten über beide Amerikas, über die Prairien, die Pampas – ja, soweit die Rundung der Erde, die Steppe und der Wind und die eilenden Jahrtausende reichen!

Wir plaudern eine Weile zusammen, sehr gebildet alle beide, wir fragen einander, wo wir Herkommen und wo wir hinwollen … dann sage ich:

Bist du vielleicht meine Seele … bist du es, die mein Steppenherz sucht, bist du meine Steinzeitgeliebte?

Ja, singt sie, mit einem Blitz des Jubels in ihren kleinen, blanken Augen. Und im selben Augenblick wirft sie den Fuß in den wagschalförmigen Steigbügel, und das kleine Pferd kreischt unter ihr, indem es davongaloppiert …

Und flüchtig, flüchtig eilt der Wind über die weiße Erde.


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