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Eine Extranummer

Neulich abend war ich im Zirkus Varietee, ich saß oben in einer Loge, der Bühne ungefähr gegenüber. Es war ein ganz gewöhnlicher, bürgerlicher Abend, das Publikum aß in Ruhe seine Butterbrote und folgte der Musik und den Vorführungen. Der elektrische Scheinwerfer blätterte oben im Tabaksrauch, wie in einer riesengroßen Mappe unter der Zirkuskuppel. Der Eingang war gerade unter mir, es kamen noch immer Leute – vom Wetter draußen hereingeschneit. Der Saal war ganz besetzt.

Unten im Parkett, einige Meter von mir entfernt, saß ein großer und sehr dickhalsiger Herr mit einem anderen an einem Tisch. Sie tranken Whisky und waren so sehr in ein Gespräch vertieft, daß sie nur selten von den Vorstellungen Notiz nahmen. Dieser Herr war fast kahlköpfig, deshalb erregte er mein Interesse … und er hatte ein kleines Pflaster auf der blanken Gehirnschale, etwas oberhalb und hinter dem Ohr. Er zupfte unbewußt daran, wieder und immer wieder, wie man an so einem Pflaster zu zupfen pflegt. Und schließlich hatte er es dann auch glücklich abgezupft; ich sah, daß er dort eine kleine Schramme hatte, eine unbedeutende Stelle, übrigens beinah geheilt.

Im Laufe des Abends zog ich ein Instrument aus meiner Westentasche, eine Art Stahlrohr in Form eines großen Bleistifthalters, ich öffnete es und legte einen sechs Zoll langen Nagel hinein. Kurz darauf spielte die Musik einen Tusch, während ein Akrobat durch die Luft wirbelte – kein einziger Mensch blickte in eine andere Richtung als auf die Bühne – ich zielte sorgsam nach der kleinen offenen Wunde und schoß ohne den kleinsten Laut dem Mann den Nagel in den Kopf.

Und der nackte, runde Kopf fiel vornüber – als wenn der Mann nur eingenickt sei, sonst rührte er sich nicht. Es vergingen nun volle fünf Minuten, der Akrobat arbeitete und erntete reichlichen Applaus, die Leute saßen artig an ihren Tischen. Da gibt der Freund ihm einen Stoß, weil er so nachdenklich geworden ist – er will ihn auf etwas aufmerksam machen, der Akrobat übertrifft sich selbst in seinen Leistungen … und der kahle Kopf rollt zur Seite. Der Freund greift nach ihm, er sinkt wie ein Schlafender vom Stuhl, sein Stock poltert zur Erde.

In wenigen Augenblicken entstand eine Panik. Die Unruhe in der Menge wuchs, wie Wellenringe nach einem Steinwurf. Im ganzen Saal stand man auf und reckte die Hälse. Die, die nichts sehen konnten, setzten sich enttäuscht und stiefmütterlich behandelt wieder hin. Ein Herr lag mausetot in den Armen seines Freundes, ein korpulenter Herr. Er hatte Apoplexie bekommen, sein Hals war kupferrot. Ein Feuerwehrmann wurde von Amts wegen durch die allgemeine Panik hingerissen und sprang von der Rampe ins Orchester hinunter, wo er liegen blieb, ohne sich zu rühren.

Dann trugen sie die große, schlaffe Leiche durch den Mittelgang – vorsichtig – sie hatte einen braunen Wintermantel an und ganz neue Stiefel.

Die Unruhe legte sich langsam, und viele gingen fort. Viele aber blieben sitzen, die Musik spielte wieder, und eine Sängerin trat auf.


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