Jean Paul
Der Jubelsenior
Jean Paul

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Ich habe mich darüber aus meinem feurigen Perioden verlaufen. Der Hamstergräber, der seine Pillen nie anders als bloß verzinnte, konnte sie jetzt nur noch verblechen – der Buchdrucker bat mich, in meinem Manuskript vom Jubelsenior wenig zu korrigieren und auszustreichen, weil es angenehmer zu drucken sei, und die Kunstrichter begehren gerade das Widerspiel, weil es dann angenehmer zu lesen sei – Ingenuin sah seine Verlobte wärmer an und liebte sie mitten unter dem Essen, und ich tats ihm nach in beidem und hätte gern mehr getan, wäre nicht mein Sonntag im doppelten Sinn zu einem Fastensonntag geworden, der den ersten Christen das Küssen untersagte – und die kurzen Entfernungen vom Sessel und die längere vom Hause gossen Alitheen für mich und den Kandidaten zu einem Brennspiegel um, der (seine Chorda oder Sehne trug eine Elle aus) desto heißer auf uns schien, je länger der Weg seines Fokus war, so daß seine Strahlen in unserem Ich zu einem 28064mal kleinern Raum, als der Spiegel hatte, zusammengehen mußten – (Noch währet mein langer Periode fort) – Und wie wurden vollends, fast von einem Balthasar Denner, die beiden Jubelältesten auf meine Netzhaut gemalt, wie göttlich er, wie himmlisch sie! – Er, der Altvater, der glänzende Nestor, nicht nur aufgerichtet mit dem Leibe, auch mit dem Geist, er, der unter der Zahl jener wenigen Menschen stand, die der Sonnenfunke Gottes glühend aufriß vom Schmutz und Eise des Bodens, indes die andern seelenlos und wühlend auf der Erde umliegenSaturnin lehrte, die Engel hätten wie Gott Menschen schaffen wollen, hätten sie aber nicht emporzustellen vermocht, bis ein Funke von Gott die hingestreckten Gebilde erhob. – Sie, die fortliebende Altmutter, die von ihrem reinen Herzen nie mehr als eine Auflage von nicht mehr als einem Exemplar für nicht mehr als einen guten Freund gemacht hatte – diese beide, noch so unzerrüttet, unter so vielen Kindern, aber selber keine, da doch sonst Alter und Kindheit sich in einem Geiste berühren, wie man Vorrede und Ende des Buchs (und in diesem vielleicht) auf einem Bogen abdruckt – Sie beide, die nun, mit dem aufgewärmten Brautkuchen in der Hand und vor dem Abhub des vorigen Liebesmahls auf ihrem Teller, das weite, nie brach liegende Zuckerfeld ihrer alten Liebe um sich blühen und wallen sehen – sie, die noch einander die steifen, aber arbeitsamen Hände drücken und unter grauen Wimpern in Augen schauen können, in denen sonst die Flammen der ersten Liebe und vor denen sonst die Blüten-Reize der nun entlaubten Gestalt gewesen waren, sie, die jetzt, unter der nachsprossenden bunten Welt um sich, noch allein um ihre vorige Ähnlichkeit mit dieser und um ihre von der Zeit vermischten Schönheitslinien wußten, die aber ihre ausgelöschten Züge und Wünsche mit elterlichem Entzücken auf den Angesichtern ihrer lieben Kinder wiederfanden und die nun auf der einbrechenden Erde nichts mehr brauchten als jeder Gatte die treue Brust des andern, die so lange einerlei Banden und Freuden, eiserne und Blumenketten an die andere geschlungen hatten und die nun die Schlange der Ewigkeit vereint umwinden soll, gleichsam als der letzte, obwohl kühlste Ring der Erde....

Nein, ich vermag und verdien' es noch nicht, die Erinnerungen und Freuden und Herzen eines stummen Paars zu malen, das, gebückt unter der niedrigen Todespforte der andern Welt, an der kalten langen Katakombe die Hände nicht auseinander lässet – – aber irgendeinen Greis oder eine Matrone, der oder die mich lieset, will ich erfreuen mit der innigen Teilnahme an ihrem verkannten Gefühle, mit der Hochachtung für verstummende Menschen, die das junge laute Jahrhundert vergisset, und mit der herzlichen Liebe für jede Brust, die einmal warm gewesen, und für jedes Auge, das einmal geweint hat. – – –

Gerade diese Phantasien warfen mich an der Schwersschen Eßtafel, fast wie jetzt am Schreibtisch, aus meiner Fröhlichkeit in eine höhere.... Denn obgleich der Vexier-Wildziemer schon eingelaufen und dem Hamstergräber unter das Skalpell seiner Schneidemühle gestellet war: so kehrt' ich mich doch an nichts, sondern stand mit einem Ordensbecher auf, um die Tisch-Kommunikanten zu einem gratulierenden Toasten aufs Wohl der alten Leute zu befeuern, und sagte, weit vom Becher: »Auf Ihre künftigen schönen Tage, Sie guten Alten!« und hier standen alle Kinder auf – »und darauf, daß alle Ihre Stunden still und froh vergehen – und daß alle Ihre Kinder glücklich sind – und daß alle Ihre Enkel gut und glücklich werden –- und auf Ihr langes, langes Wohlergehn!« – Der Greis sah erhaben auf und fügte bei: »und auf unser sanftes Sterben.« Seiner Gattin gingen die Augen über, und sie sagte: »so schön, wie meine seligen Töchter gestorben sind.« Hier umfaßten sich die zwei Alten sanft in ergebener Rührung, und kein Mensch sprach, und jeder weinte.

Der Schulmeister suchte seine eigene Erweichung dadurch zu verkleiden und zu steigern, daß er anriet: »man sollte die alten Hochzeit-Carmina, die damals auf die Vermählung des Herrn Seniors gedruckt wurden, jetzt vorlesen, weil darin die schönsten Wünsche ständen.« Er hoffte, sie selber vorzulesen. Die Seniorin brachte sie erfreuet. Der Buchdrucker rief seinen kleinen Karl her und sagte zu ihm: »Dein Großvater will hören, ob du lesen kannst.« – »Ja wohl kann ichs schön«, sagte das herandringende frohe, aber ein wenig blasse Kind und nahm das Hochzeitgedicht und stellte sich zwischen die Großeltern und las es laut und langsam ab. Ich beschreib' es nicht, wie tief jedes Wort und jeder Tonfall des unschuldigen Enkels in lauter weiche Herzen ging, da er jetzt neben dem vollendeten Lustschloß der Alten den prophetischen und dichterischen Bauriß desselben aufschlug und aus der Vergangenheit die frühen Bilder und Wünsche der jetzigen Gegenwart heraufzog. Die Stimme des unbefangnen Kindes, das den poetischen Wunsch zahlreicher Enkel ohne die Beziehung auf sich ablas, klang rührend wie ein redendes Herz; und zu den zwei veralteten Menschen, die schon so tief drunten unter der dumpfigen Erde standen, wehten die Töne und Lüfte der freien hellen Jugend hinab, wie sich in die Bergwerke der Blütenduft des äußern obern Frühlings zieht. – Ein fliegender Sonnenglanz, den entweder eine aufgehende Fenstertafel des Schlosses oder ein blendender Spiegel eilig über das fromme stille Angesicht des Greises zog, ließ eine solche Verklärung darauf zurück, daß ich hingehen und mich näher an den verschönerten Alten und den kleinen Leser drängen mußte. – – Und hier trat Alithea, für die Nachmittagskirche aufgeschmückt, röter vom Putzen und Schämen herein; und als sie in Amandens, in meinen und in den alten Augen so viele Tropfen stehen sah: brachen ihre gern in die lang bezwungnen Tränen aus, und sie weinte mit, ohne zu wissen worüber, und das überladene Herz konnte nicht unterscheiden, zerrinn' es vor Freude oder vor Schmerz. Nein, sie konnt' es nicht eher unterscheiden, als bis die Mutter ihre Hand ergriff und sie mit einer neuen Liebe drückte.

O wenn es schon das Herz bewegt, nur zwei Menschen zu erblicken, die sich einander an den kindlichen – oder elterlichen – oder freundschaftlichen – oder verschwisterten Busen fallen, wenn der Akkord oder das Duodrama eines harmonischen Menschenpaares schon so himmlisch in uns widertönt: mit welcher gewaltsamen Wonne wird unser Innerstes erschüttert, wenn das ganze vollklingende Doppelchor eines Familienschauspiels der Liebe unser zitterndes Herz mit tausend Tönen fortzieht! Der Einsame mit dem vergeblichen Wunsche der Liebe erquicket mich schon, aber er erzürnt mich gegen die Menschen, unter denen er verarmt; allein dann kann ich schöner alle Menschen lieben, wenn ich statt eines glühenden Herzens ein Sonnensystem verwandter Herzen sich aneinander ziehen und zusammen brennen sehe. – –

Der Tropfen der Rührung verdunkelt das Auge, indem er die Gegenstände vergrößert und verdoppelt; und in dieser schönen mikroskopischen Verfinsterung wollt' ich den erweichten Vater bitten, seine tugendhafte leidende Tochter morgen nicht aus dieser heiligen Stätte auferstandner Freuden zu verweisen, da sich gewiß ein schöner Wechsel ihres Schicksals nahe; aber als ich meine Bitte anfing, unterbrach sie der seltsamste Zwischenfall...

Ein vergoldeter Wagen rasselte um die Fenster und hielt an. »Wahrhaftig der Fürst!« sagt' ich warm (denn künstlich-kalt hätt' ichs gesagt, wenn ich ihn noch vermutet hätte). Die Söhne blieben alle stehen und setzten nur die Gläser nieder, doch nehm' ich den Prosektor des Hammelziemers aus. Viele fuhren hinaus – Scheinfuß hinein (in die Kinderstube) – die zwei Alten und ich und das zuckende Fräulein gingen entgegen – nur der Hamstergräber allein verharrte am Tische und kredenzte im Sturme den Ziemer – Alithea weinte vor freudiger Angst und ängstlicher Freude und glaubte an wahre Propheten.... Endlich hob ein Bedienter und der Adjunktus den glasierten, getäfelten, appretierten Herrn heraus – ach Gott, es war der bloße echte Esenbeck. In wenig Epopöen von Bodmer und Blackmore steckt eine Hyperbel für meinen Todesschrecken über eine solche Konfrontation des Zufalls...

Das Jämmerlichste war allezeit die rote Stirn-Arabeske und Kosekante des Muttermals... denn unsere purpurne Magnetnadeln deklinierten verschieden, seine östlich, meine (wie im 16ten Jahrhundert) nach Abend – im Spiegel wich zwar auch meine östlich ab, aber (das hatt' ich am Morgen nicht erwogen) eben weil er von allem umgekehrte Gemälde gibt – – Der Original-Esenbeck wurd' ein wenig beschämt über den roten nachgemachten Elektrizitätszeiger am Pseudo-Esenbeck; aber er verbiß das Staunen und sagte aus Vergessenheit oder Bosheit, wer er sei, und gab mir, was er brachte: es war freilich ein fürstliches Handbillett und die Vokation. Aber o Himmel, wer schildert die unähnlichen Pulse staunender – erzürnter – erfreueter – verdutzter Menschen ab! Niemand als Doktor Gaubius, der einen wallenden Puls (undosum) – einen zweischlägigen (dicrotum) – einen aufhüpfenden (caprizantem) – einen krabbelnden (formicantem) – einen ausgezackten (serratum) – einen versinkenden (myurum) kennt und nennt. Am meisten mußte mich Amandens Erschrecken – erschrecken: ihr echter Amoroso stand mit seinem redenden Stirn-Wappen gegenüber dem Falschmünzer, der gestern ihre Vergangenheit vernommen hatte und in dessen Händen nun ihr erotisches Brieffelleisen war. Die Jubelleute hielten heimlich in ihren Köpfen den Lügen-Esenbeck mit dem Lügen-Lederer zusammen und zogen Schlüsse. –

Noch immer sagt' ich nichts von der Vokation. Der genuine maitre de plaisirs ging höflich, unter der gleichgültigen Erwartung des langweiligen Effekts, den die abgegebene Vokation unter allen mache, zum Fräulein von Sackenbach und freute sich höchstens, solches einmal zu sehen. Amanda, die ihn jetzt recht leicht von seinem Kopisten und Postiche-Namensvetter absonderte, konnte vor Grimm und Staunen die Zunge nicht heben. Der Hofmann fand in der Langweile des Erstaunens wenig Kurzweile. Niemand als ich und er wußte den Inhalt der Vokation voraus. Ich sagte jetzt zu dem Fräulein und der Jubel-Genossenschaft: »ich hätte keine bessere Charaktermaske gewußt, um meinen Prophezeiungen einer Beförderung des Herrn Kandidaten Glauben zu erwerben, als eben die des Herrn von Esenbecks, der für alle meine alttestamentlichen Weissagungen die neutestamentliche Erfüllung gütig mitgebracht habe.« Das neue unwissende Staunen amüsierte Esenbecken nicht sonderlich. In der Eile wußte das Jubelpersonale nicht recht, was es mit dem vornehmen gütigen einsilbigen Herrn vornehmen solle; aber er selber wußte noch weniger, was er mit dem Personale anzufangen habe – da er nun zu dem Verdruß, den ihm meine Stirn schon gemacht, sich von Amanden noch neuer Zuschüsse versah: so nahm er einen verbindlichen Abschied und setzte sich froh in seinen Wagen, besonders da er, wie er sagte, noch heute auf die Insel nachmüsse. Ich kann nicht behaupten, daß mir seine Auswanderung und Kotzebuische Flucht (nach Paris) äußerst zuwider war: denn außer dem, daß er in dem lymphatischen System unserer Empfindsamkeit nichts war als ein Extravasat, so wurde durch ihn, durch Gobertinen und mich ein erbärmliches dürres Zölibats-Kleeblatt formiert, das – denn Esenbecks kontrakte Kontrakte von Kebs-Ehen zähl' ich für nichts – so wenig Kinder vorzuweisen hatte als das kanonische Kleeblatt der drei geistlichen Kurfürsten.

Nun war es Zeit, geheimnisvoll zum Fräulein zu treten und solches zu beruhigen und zu verständigen: ich sagte ihm geradezu, ich sei nichts als ein Bücherschreiber und also insofern nur mein eigner maitre de plaisirs, hielt um Ablaß für meine bisherige Kühn- und Falschheit an, beteuerte aber zweierlei: »erstlich sie werde sogleich hören, daß durch den kurzen Gebrauch des Esenbeckschen Namens dem ganzen Pfarrhaus großes Heil widerfahren sei – zweitens sei ihr (Amanden) selber die Rückkehr ihrer Briefe assekuriert, da ich nun durch den Besitz der seinigen imstande wäre, ihn mit der Promulgation derselben zu bedräuen und zu ängstigen.« Denn in der Tat konnt' ich jetzt ihn – aber sie konnt' es vorher nicht –, wenn er nichts herausgab, zum Helden eines Lust- und Mokierspiels erheben, da keine Muskeln einem Weltmann größere Narben stoßen als Lachmuskeln und keine scharfe Spitze tiefere als die am Epigramm. Kurz er mußte. – Am Ende konnte die Sackenbach – so groß die Risse und Frakturen ihres Adelsdiploms und so klein mein papierner und gelehrter Adel war – doch mit dem gegenwärtigen Epopten in ihren eleusinischen Mysterien voll Göttergeschichten und mit dem Schutzheiligen und Messias des erretteten Pfarrhauses nichts weiter machen als – Friede.


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