Jean Paul
Der Jubelsenior
Jean Paul

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Es ist kindisch und pedantisch, aus Kindern freudige Irrtümer auszujäten, die nur Rosenabsenker und keinen Nesselnsamen tragen können. Jagt den Ruprecht fort, aber lasset das magische Christuskind mit grüngoldnem Gefieder zwischen den widerscheinenden Dezemberwolken ziehen; denn jener richtet sich einmal grimmig mit gezahnten Tatzen im Fieber auf, aber dieses fliegt einmal vergoldend und anlächelnd durch einen dunkeln Traum und durch die letzten Abendnebel auf dem Sterbebette und durchbricht mit hellen laufenden Goldpunkten den finstern Dunst. – –

Der hohe Glaube der Kinder an ein Menschenwort und also ihre Bereitwilligkeit, grobe Täuschungen gläubig aufzunehmen, ist so groß und so tätig als ihre – herumgreifende Aufmerksamkeit, die das gemalte blinde Tor der Täuschung trotz der Torsperre öffnen will; – und daher kömmt es, daß der Verfasser des Jubelseniors, als er noch Husar (ich meine, im Husarenpelz) war, nicht vermochte, aus allen gepackten Körben und aus allen Zubereitungen zum Christgeschenk und aus allen Gerüchen des angemalten Spielzeugs und des heißen Backwerks und aus dem Augenschein selber (da er wirkliche Menschen bescheren sah) herauszubringen, daß niemand weiter die Hand in diesem glücklichen Spiele habe als eben Menschen: ich nahm wenigstens gleich einem Theologen an, das Christuskind greife, da ich die unmittelbare Einwirkung aufgehoben sah, zur mittelbaren und schenke durch fleischerne Erdenhände. Und dann als auch dieser bunte Nebel zu Wasser wurde: so gab ich keinen Groschen fürs ganze Geschenk. Ich erinner' mich noch wohl meiner damaligen erschlaffenden öden – Entzauberung:... und so wird mein Geist und jeder Geist, auf den die unsichtbare Luftsäule des Lebens in unserer Erden-Tiefe herunterdrückt, ewig seine Arme und Flügel nach einem höhern Äther ausstrecken – ewig wird unser armes, in die Klausur der Brust, in den Block des schweren Erdenbluts, in die Laufbänder der Nerven gefesseltes dumpfes Herz sich sträubend und schwellend und oft brechend gegen das Element aufschließen, in dem es schlagen soll – denn die Unermeßlichkeit ist unser Ort, und die Ewigkeit ist unsere Zeit, und das Geschöpf ist nur der Vorläufer unsers geliebten Schöpfers. – –

O daher verlieret jene Jugendzeit, wo die Wirklichkeit größer und lichter war als der gedruckte enge Wunsch in der Kinderbrust, niemals ihren Schein: dort war es schön, da über den kleinen Kopf sich noch kein größerer Himmel wölken konnte, als der über ihm stand, und da wir noch aus der Morgenluft (unserer Lebensluft) unsere Luftschlösser, d. h. unsere Lustschlösser bauen durften... dort war es schön, wo uns noch der Schlafrock des Vaters so warm und dicht umhüllte wie der Mantel des Schlafes, wo die Erde noch die Phantasie, nicht diese jene bevölkerte und wo wir uns statt der Ewigkeit nichts wünschten als Jahre und nichts Höhers sein wollten als Eltern...

Daher grub ich mir gestern, als die Nacht meinen Lustgang und Himmelsweg der Gasse sperrte, auf den Stubenbrettern das verfahrne Gleis von neuem auf, das der Laufwagen meiner kindischen Jahre mit den Ezechielsrädern eines Himmelswagen gezogen hatte. Alles ruhte neben mir und in mir – überall setzte ich gewisser als sonst beglückte Sterbliche voraus – das Treiben der häuslichen Arbeit hatte aufgehört, die weiblichen Brandungen waren geglättet, die Fenster- und Bett-Vorhänge hingen und gleißten, der Meersboden der sandigen Stube blinkte, die Mehl-Barren oder gekneteten Back-Blöcher und Wellbäume tauchten aus und wurden kalt – alles Geliebte um mich saß und hoffte – ich lief und hoffte -ja ich sah den Paradiesvogel der Freude neben dem AdventsvogelDie Norweger glauben, er komme nur am vierten Advent. fliegen und uns mit dem regen schillernden Gefieder blenden. – –

In einem solchen Enthusiasmus war mirs unmöglich, ein geringeres Buch zu ergreifen als die – Fibel. Wenige Bücher, die ich kaufe oder mache, les' ich mit solchem Entzücken als dieses am häufigsten aufgelegte Werklein, dieser vergoldete Türgriff an allen Universitäts- und Lehr- und Lerngebäuden. Ich mache mir mein Entzücken dadurch begreiflich, daß ich es aus dem großen alten ableite, womit ich das erste Abcbuch mit seiner goldnen Metallschrift auf der hölzernen bunten Flügeldecke in meinen kindlichen Händen glänzen sah. Schon das Innere des Buchs, nämlich die 24 Buchstaben sind mir nicht gleichgültig, da ich von ihnen lebe, indem ich sie bloß gehörig wie Karten oder Lose mische; aber doch zieht mich das Werkchen stärker an, wenn es zu ist und ich das goldne Abc aus meinem goldnen Zeitalter auf dem Letterholz der Schale vor mir flimmern sehe wie einen durchbrochnen illuminierten Namenszug auf einem Ehrenbogen. – – Aber da ich gestern die mit Goldfarbe aufgefrischte Trümmer der Vergangenheit beschauete: so wurde mir plötzlich wie einem, der aus einem langen Schlaf erwacht, und mir kam vor, ich hätte nur eine Stunde geschlafen, nämlich gelebt – ich fragte mich: kann denn die Zeit so weit zurückgesunken sein, deren Grabschrift in erhobenen metallenen Lettern so hell vor und in dir steht – ist denn der Tag des Lebens nicht bloß, wie der Christabend, so dunkel und kalt, sondern auch ebenso kurz? – –

Aber ich gab mir selber ein Trauerreglement und ließ, um meine vier Gehirnkammern nicht schwarz auszuschlagen, über diese wie über eine dunkle Kammer die gefärbten lebendigen Morgenbilder aller der Freuden ziehen, die jetzt um andere Länder flattern. Ich versetzte mich statt in alle Gassen nun in alle Zonen. Ich konnte mit Gewißheit zu mir sagen: »In dieser Stunde rasten tausend Müde – tausend Säuglinge schlummern trunken an den sanft herübersinkenden Müttern ein – jetzt steigt die Sonne wie das Haupt des Meergottes aus dem entzündeten Meere und wirft Rosen auf Inseln, und diese beschauen ihre bekränzten Ufer im Zauber-Wasser- und in dieser Minute weicht sie von den breiten Ernten anderer Länder und versteckt sich hinter Orangengipfel, dann hinter Weizenähren und zuletzt hinter drei Rosen voll Laub und strahlet endlich verschleiert nur in der gerührten Seele eines nachblickenden Dichters fort – Wie viele Liebende fallen in dieser Stunde einander ans Herz! Wie viele Getrennte erblicken sich wieder! Wie viele Kinder schlagen jetzt unter unsern Wolken zum erstenmal die Augen auf, und ihre Eltern lächeln statt ihrer! – Welchen schönen Perlenbach von Freudentränen sieht jetzt der glückliche Genius der Erde unter Nachtigallentönen und Freudenfesten niederfallen! –Ach wie freudig seh' ich die bunte Wesen- und Blumenkette heller abgetrockneter Augen und wonnevoller Herzen um die Erde gehen! Und, o du guter Genius, gehör' ich denn, indem ichs sehe, nicht auch dazu?« –

Ach ich riß mich bald vom bekränzten Zuge ab, weil meine aufgerüttelte Phantasie mir auch einen zweiten parallelen trauernden zeigte, der, gesenkt und in Flor gehüllt, schweigend oder klagend durch das enge Theater geht. Aber ich will euch nicht in das dunkle Trauerbilder-Kabinett hineinführen, das ich mit den Nachtstücken des Trauergefolges dieser Stunde behing, und worin ich es malte, wie viele Wunden und Gräber in dieser Minute gemacht werden – wie viele Seufzer steigen – wie viele unserer Geschwister trostlos erbleichen – wie viele geschieden, verlassen, verachtet, zertreten und durchbohrt werden...... Nein, diese Trophonius-Höhle, diesen düstern Trauersaal schließe die Hoffnung zu. – Aber in dieser aus Schmerz und Wonne zusammengemischten Wehmut, die bald kraftlos gegen die tiefen Gewitterwolken der Leiden wie gegen die physischen kein Mittel auf dem Lebens-Wege kennt, als sich hinzulegen in die sicherste und letzte, aber kälteste und engste Höhle, bald aber sich lieber mit lächelnden Schmerzen aufrichtet und im Gewölke des Grams das Bild des Unendlichen und seines Himmels leichter erkennt, wie wir die kleinere Sonne nur im überflorten Spiegel betrachten, – – in diesem vermengten Zustande voll kämpfender Träume sucht' ich den Schlummer auf, der mit einem leichtern kürzern Traume den Zwist der andern schlichtet.

Aber ich fand ihn nicht. Die Winterstunden zogen träge mit ihren langen Schatten vorüber. Meine innern Bilder wurden von elektrischen Funken lichter und reger und bewegten sich endlich im schwarzen Raum der Nacht, anfangs vor den geschlossenen Augen, dann vor den geöffneten. Ich sah sehnlich der erleuchteten Morgenstunde des heutigen Tages wie einem betaueten Frühling entgegen. –

Ich ging ans Fenster, um den Nachtfrost als Alpenschnee in den heißen Zaubertrank meiner Phantasien zu werfen; auch wollt' ich die nahe gewöhnliche Christnachts-Musik, die vom umwehten eisernen Turmgeländer über taube Häuser geblasen wird, näher und voller auftrinken. Unten vor mir lag eine schlafende Gasse erloschener Beinhäuser – über die Bleiche aus Schnee zog die schwarze Trauerschleppe des geschmolzenen Stroms den langen Faltenwurf – nackte Bäume vergitterten die weiße Ebene mit ihren schwarzen Gerippen, und der breite Trauerrand düsterer Wälder endigte die bleichen Hügel – über den blauschwarzen Himmel wurde aufgelöstes Gewölke, gleichsam vergrößerte Schneeflocken, getrieben, und um die ewigen tiefen Sonnen gaukelte der flatternde Dunst der Erde. – –

Als der Nachtwind, der einzige lebendige Atem der Natur, meine erhitzte Stirn und meine geschlossenen Augen kühlend überspülte und sich wie Frühlingslaub um meine Träume aufblätterte: so kamen wahre Träume und der starre Schlaf.

Der Traum und das Alter spielen den Menschen in die Kindheit zurück, und in der kalten Nacht von beiden überkriecht das lichtscheue Erdgewürm des kindischen Wahns wieder das Herz. Mir träumte, ich stiege auf den höchsten Eisberg der Erde, um auf seinem Gipfel kniend mein Ohr an das verschlossene Kirchen- und Gottesackertor der Zukunft dieses Jahrs zu legen und sie zu belauschen. Unter dem Eisgebürge lagen die Städte und Kirchhöfe der Erde weit umher in dämmernder Tiefe – alles schlief, nichts leuchtete, nichts regte sich, und die ganze Erde war von einer Stadt zur andern wie vom Krater des Grabes mit stiller Asche hoch beschneiet.

Aber als ich gen Himmel sah, so zogen die zuckenden Sternbilder und verfolgten einander – jedes Bild malte mit zusammenschießenden Strahlen wie mit sprühenden Gewitterwolken seinen lichten Umriß ins Blaue – der Himmel bewegte sich unter dem Kampfe der funkelnden regen Gestalten – der Drache zog am Gipfel des Himmels herauf und verschlang die Sonnen seiner Bahn und den Polarstern – am erhabenen Orion lagen nagend der Skorpion und der Hund – der Krebs durchbohrte mit seinen zwei Scheren die Zwillinge – und auf der Jungfrau hackte der Rabe, und die Wasserschlange hielt sich aufgebäumt auf der Flucht zurück.

Die Geisterstunde rückte immer näher. Unaufhörlich sprachen die Glocken unter mir und schlugen jede Minute zur elften Stunde. Ich schauete furchtsam nur auf die entschlummerte eingeschattete Ebene nieder. Endlich schlugen alle ferne Uhren die sechzigste Minute aus, und die Geisterstunde ging an. Da fuhr ein Sturm unter der Erde am Horizonte herauf und erschütterte die aufgehenden Sternbilder und trieb sie auf die Erde herein, und die Totenasche drehte sich auf, und die wandelnden Bilder blitzten durch das Aschengestöber – und die lichten Gestalten waren Geister und bestanden aus Augen.

Die Lichtgeister zogen die Totenasche an und verhüllten sich in sie und formten Menschenkörper daraus und Gestalten, die ich kannte. Sie spielten das Getümmel des Lebens nach – die Geister im Staub weinten wie die schlafenden Menschen, und andere lachten mit den Aschenlippen – sie machten Gräber und legten Kindergestalten hinein, andere hielten Mutterarme auf und drückten kleine Wesen an die kalte Brust – Dann trieb eine neue Windsbraut die Totenstaub-Wolke aus den weißen dürren Schlachtfeldern der vorigen Jahre heran. Und die blinkenden Geister wickelten sich in den Heerrauch und spielten verkörpert mit altem ruhenden Staub grimmig die künftigen Schlachten vor, und die fallenden Krieger stöhnten nur im Fallen, aber aus der Asche flossen keine Tränen und kein Blut.

Und da ich voll Klage meine Augen auf zum Himmel hob und betete: »O Vater des Trostes, gib den armen wahnsinnigen Menschen Friede und Liebe!« so sah ich den gestirnten Drachen zwischen dem Arkturus und Kynosura die Flügel wie Wolken aufschlagen und herunterziehen – und wie er glühend tiefer sank, so fiel der Berg aus Eis geschmolzen ein, und die nahe Asche flatterte um mich, und eine spielende Gestalt wollte in meinen Körper dringen, um mein Vergehen nachzuspiegeln, und die nahe Erde, dieser Aschenzieher unsers warmen Staubs, ergriff mich, und dem hängenden Drachen entfiel auf mein Herz ein glühender Stern – – Da war mein Geist befreiet und loderte empor über sein zerbrochenes, auf die Erde gebauetes Gehäuse.... Ich schwebte fest und unbewegt über den Strudeln der rollenden Erde, und die umlaufende Welt führte ihre Länder und Völker unter mir vorbei. O wie viel Jammer und wie viel Wonne flohen vorüber! Bald wälzte die Kugel ein stürmendes schreiendes Meer und taumelnde Schiffe mit angeketteten nachfliegenden Särgen vorbei – bald ein persisches Tal, glühend von Nelken und Lilien und Narzissen und rauchend von hängenden Blumen-Gärten auf Pfirsichstämmen – Schfachtfelder voll umklammernder Würgengel verfolgten duftende Gärten mit umarmenden weichen Geliebten – bald kamen zwei Arme, die das staunende Entzücken, bald zwei andere, die der Jammer aufhob – und die Kugel zeigte mir auf ihren weichen Blumen den glücklichen Schläfer und unter ihm den liegenden, gleich einer lebendig beerdigten Leiche arbeitenden Bergmann und Minen-Neger – Regenbogen auf erkälteten Gewittern und auf erhabenen Wasserfällen, niederbrennende Städte unter Donnerwettern und schillernde Auen im Morgentau –, die Totenglocke summte in das Freudengeläute, das Morgenrot zerfloß ins Abendrot, und die reißende Kugel rückte das an ihr hängende Menschengeschlecht, alle seine verweinten, erhabenen, zerdrückten, verwesenden Gestalten und alle unsere Tränen und Kränze und Siechbetten und Spiele zusammen, und der Schmerz und die Seligkeit riefen nebeneinander fliehend: ich bin ewig – – Da stand in meinem Geiste der Stolz und die Kraft der Unsterblichkeit auf, und er sagte: eile hinab, schmutzige Kugel, mit deinen geflügelten Schmerzen, mit deinen geflügelten Freuden, du bist viel zu vergänglich für einen Unsterblichen!

Aber als der wegziehende Erdkreis seine Sonne entblößte und die Sonnen hinter ihr – und als mein gereiftes Auge um die andern Sonnen tausend Erden schwimmen und alle dunkle Klumpen mit der umgewälzten Nachbarschaft der Paradiese und der Gräber, des Jammers und des Jubels eilen sah, so brach meine Brust unter der Verzweiflung, und ich rief aus: »Unendlicher, sind denn deine Endlichen nirgends glücklich? O wenn wird denn die ermüdende Seele gesättigt?«

Ein sanftes Tönen antwortete: »Auf keiner Erde – aber nach dem Sterben – bei der unendlichen Liebe, bei der unendlichen Weisheit.« – Und hier kehrte die Erde von ihrem Jahre zurück und flog oben von der Sonne herab, und das Tönen sang schöner und leiser nach: »Geh auf deine Erde, du bist noch nicht gestorben.« Und hier wurde aus allen in der Tiefe fliegenden Welten ein zitterndes Glockenspiel, und meine getröstete Seele stieg der alten niederfallenden Erde sanft gezogen entgegen – und ein funkelnder Zirkel aus zwei verknüpften Regenbogen war um ihr rundes Ufer gelegt – und sie riß mich erschüttert zu sich, und ich wachte auf......

Um den Turm flogen die heiligen Töne des Christmorgens, und der Morgenwind brachte sie schweigend – unter mir ging der finstere Strom mit seinen alten Wellen und mit ewigen Tönen – die Sternbilder des Himmels standen fest und hell, und die Wolken lagen, vom Nachtwind getürmt und von der tiefen heraufziehenden Sonne gefärbt, bergig in Osten – und in einigen der nächsten Häuser waren schon die Frucht- und Zuckerbäume angezündet, und die von der Musik zu bald geweckten Kinder hüpften um die brennenden Zweige und um das versilberte Obst.....

Ende


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