Jean Paul
Der Jubelsenior
Jean Paul

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Nach dem Schlusse der Rede wandte jeder eine stärkere Aufmerksamkeit auf die abgelesenen alten Gebete etc., um damit die vorige Rührung zu ernähren und zu verknüpfen; aber der Abstand war zu grell. Bloß als der Greis eine bezahlte Vorbitte für einen siechen Greis – am Schlagfluß lag er darnieder – tat, so veredelte sich die einfache Bitte zu einer doppelten, und die ganze Kirche schickte innerlich, im zweifachen Gebet, eines für den Greis hinauf, dessen Fußboden schon das Minierkorps des Todes unterhöhlte und lud: nur der Senior selber verfiel in seinen Bitten für andere nicht auf sich, ob ihn gleich die täglich aufsteigende Erde in seinen Adern und Gefäßen noch besser an sein nahes Lager in derselben erinnern konnte, als alle Erde im Purpursäckchen sonst die Kaiser ermahnte.Acacia, ein rotes, mit Erde gefälltes Säckchen, trugen sonst die konstantinop. Kaiser, um sich an die Erdscholle des Ursprungs und an die, die sie deckt, zu erinnern. Du Fresne Gl. gr. p. 38.

Langsam, gleichsam wie das letztemal, ging er von der Kanzel. Dann fing ein Orgel-Adagio an, das graue Paar wie aus einer Familiengruft an den Altar zu rufen, damit vor ihnen Engel, wie Kinder, den vorigen Fest- und Frühlingstag der Liebe auf einem großen Morgenrot vorübertrügen. Und in die von den Jahren vollgeschriebenen Gesichter fiel ein roter Widerschein vom Frühling, der vorüberzog, wie in der ewigen Nacht des Pols ein tägliches Morgenrot über die Berge geht und ohne seine Sonne verlischt. Ihr Ingenuin trat auf den Altar, um seine Eltern einzusegnen. Und als diese das Dankgebet ihres Sohnes zum Himmel steigen sahen: so durchdrang eine unerwartete erhabene Erheiterung und Erhellung das Angesicht und das Herz des Greises und machte sein ganzes Herz zu Licht, in das ganze, vom Eise seines Alters überzogene Weltgebäude wurden wie in jenen Eispalast tausend große Fackeln getragen, und es schimmerte himmelan, und vom dunkeln Krater des Grabes wurde die Asche weggetrieben, und eine Demantgrube, die im eingesognen Schimmer untergesunkner Sonnen brannte, entblößte vor ihm ihre stille Farben-Glut – und er fassete fester die Hand seiner Geliebten an, um der nachglänzenden Jugend und Liebe nachzufliegen ins Land, wo die ewige wohnt. Aber seine Gattin war unaussprechlich erweicht – die Tage der Jugend waren Träume geworden und flohen mit einem Bildergewimmel vorüber – ach viele Hoffnungen flatterten voraus und überstreueten den Lebensweg mit Blüten, und wenige Freuden kamen nach und ließen nur einiges Fallobst zurück – aber was sie über den Flug der Zeit und über die langen, hinter die Flügeldecken der Nächte verborgnen Flügel der Tage tröstete und was ihre Tränen süßer machte, ohne sie zu stillen, das war jedes glückliche Kind, das sie erzogen hatte, und jeder Schmerz, den sie ertragen hatte und der durch die stille Geduld zu einer Tugend geworden war, wie die Perlenmuschel das in sie geworfne Sandkorn, das sie drückt, mit Glanz umzieht und zur Perle macht. – –

Auf einmal hemmte eine neue Rührung Ingenuins sanften Segen, und der Strom in der Brust sperrte sich selber den Weg: Ingenuin stritt mit den unwillkürlichen Tränen und schien sein Auge vor einem Gegenstand zu hüten, der sie zu fließen zwang. Ich fand ihn: es war die arme verlassene Alithea, die sich zwischen andere Zuschauerinnen an die Kirchentüre gedränget hatte, um gleichsam von dem Nachklang und Nachhall der Äols-Harfe der Liebe einige Töne in ihr offnes Herz zu fassen. Ach diese Töne zogen Wunden darin, und jede Freude hing voll Schmerzen, und der Palmbaum bedornte seinen Palmwein mit Stacheln. Alithea war mit allen Zuschauern ihres Kummers so vertraut und befreundet, daß sie nicht errötete, ihn zu zeigen und zu erleichtern durch alle ihre Tränen.

Endlich fiel der Vorhang vor diese Szenen der weichen Erinnerung – man zog wieder aus der Kirche, aber mit einem halb erleichterten, halb erschöpften Herzen – das Getümmel der Musik und der Menschen und der freie blaue wehende wärmende glänzende Himmel umfingen die Augen, aus denen die Nebel des Grams in Gestalt eines warmen Regens gesunken waren, mit Freiheit und mit hellen offnen Alleen der Zukunft und mit Leben und Kraft – der zweite Tempel der Liebe war aufgebauet, und die Sonne warf einen breiten Glanz in ihn, und niemand blieb betrübt, nicht einmal Alithea mehr, die wieder der Tumult des Gastmahls betäubte.

Das erste, was das eingesegnete Paar im verjüngten Pfarrhause, in der neuaufblühenden Laube gaben, war ein elterlicher heißer Kuß auf Alitheens verweinte Augen. Ach in dieser Minute hätt' ich die Vokation des Sohns mit allen Freuden dieses Jahrs gekauft, um das Land der Liebe zu arrondieren mit einem neuen Augarten. Unsere ganze Kirchenschiffs-Mannschaft ging ins Erdgeschoß; im zweiten Stockwerk standen die nötigen Teller und Gläser und diejenigen Sessel, worauf man das kirchliche Vorlegewerk, nämlich die erste Kleider-Rinde abwarf. Unten in unserer Stube waren beinahe über drei lange Stubenbretter die Goldblättchen des Sonnen-Barrens ausgebreitet, und an dem Plafond schwankte das Deckenstück mit dem Schattensilber des Widerscheins gemalt, der von einem vorbeiquellenden Bach aufflatterte. Ich warf in jede Ecke dieser Stube, die das Kadettenhaus und der Treibscherben dieser Kinder und das Winterhaus der funfzig Jahre war, aufmerksame antiquarische Blicke. An der Wand hingen zwei homannische Spezialkarten, eine vom Fürstentum Flachsenfingen und eine vom fränkischen Kreise. Wahrscheinlich hatten sonst die erwachsenen Söhne ihre Länderkunde auf dem klassischen Boden von beiden geholt. Die flachsenfingische Karte war durch Entdeckungsreisen der Zeigefinger so sehr geschleift und wie Manschetten durchbrochen, daß wirklich vom ganzen Flachsenfingen, das alle deutsche Kreise wie ein Einschiebessen durchschießet, nichts mehr zu sehen ist als die Kreise allein. Franken fuhr noch schlimmer: durch die ewigen forcierten Märsche und Remärsche der Finger und durch das Rochieren der lehrenden und der irrenden Hand war das schöne Bamberg und Würzburg zu einer solchen tabula rasa abgeleert – indes das Gedächtnis der Kinder eine zu sein aufhörte –, daß ich nichts mehr darauf erkennen konnte als einen neuen Fluß oder Kanal, der die Saale, die Rednitz und den Main unverhofft verband: die Fliegen hatten den Strom nach ihrer bekannten Interpunktion oder punktierten Arbeit, die eine stereographische Projektion der Flüsse auf den Karten ist, als Flußgötter mappieret. Konnt' es mir unerwartet sein, daß auch die Reichsstadt Nürnberg – die so wichtig für Kinder ist, nicht sowohl durch die Spielware als durch die geographische Lage, da sie von Deutschland, wie Jerusalem nach den Juden von der Erde, der Nabel ist – völlig durch den Knochen- und Salpeterfraß der Zeit oder durch die Erdbohrer der Schreibfinger dermaßen weggebohret war, daß ich vom Solitäre nichts mehr vorfand als die preußische Fassung (die Angrenzung)? –

Ich hob im Storchennest dieser Stube jeden Stecken auf und sah ihn an. In die eine Vertiefung war eine kurze Bank gemauert, auf der sonst die Kinder saßen, wie ich an den ausgehöhlten Nischen der Lambris ersah, in deren Stampftrögen der Fallbock ihres Stiefels gearbeitet hatte. Auf der Fensterbrüstung sucht' ich eingelegte Schnitzarbeit ihrer Hände auf. Auf dem Ofen stand eine aus einem Kartenblatt geschnittene Schneckentreppe, deren Zentrum auf dem Kopf einer Stecknadel ruhte und die die Wirbel der erwärmten Ofenluft umdrehten: es war die einzige tolerierte Spielkarte im Haus. Die alten Schreibbücher der Kinder lagen auf dem italienischen Dache eines Gitterbettes aufgebahret, als gingen diese morgen damit wieder zu Scheinfuß: bloß ihre Abcbücher waren als Fleißgeschenke in den Händen hausarmer Abcschützen. Die Weihnachts-Spielwarenlager der vier Herren Söhne wurden am heutigen Adjudikationstermin den zwölf Enkeln zugeschlagen und ausgehändigt, denen wie den Aposteln einer aus dem Dutzend fehlte.

Ich und der Jubelsenior gingen als die Magnaten unter den Mannspersonen miteinander vor dem Essen auf und ab und beurteilten die jetzigen Kriegs- und Friedensplane; die drei Handwerker saßen, und Scheinfuß stand, und dieser besetzte Gerichtsstand beurteilte wieder, und der höfliche Ingenuin sprang den Weibern bei und stellte nicht den elendesten grand maitre de garderobe vor: inzwischen horcht' er manches von uns weg. Ich reizte den Jubilar zu Erzählungen, um meine zu behalten, d. h. meine Esenbeckschen Mythen: ich achtete ihn jetzt viel zu hoch, um ihn noch mit dem kleinsten notwendigsten Hokuspokus zu blenden. In seiner Seele war der ganze Wolken-, Sternen- und Freudenhimmel wieder licht und blau: die Gewohnheit macht in einem Geistlichen den Weg von der Rührung zur Lust gebahnt, und er rutschet die Himmelsleiter wie Matrosen einen Mastbaum so leicht herab als hinauf. Schwers gehörte ohnehin zu den Menschen, die (nicht mit einer leichtsinnigen, sondern mit einer starken Hand) das nasse Auge bald trocknen, so wie ein echter Demant nach dem Behauchen leichter wieder glänzt als ein falscher. – Er legte mir freudig den Bauriß auseinander, den er zu einem bessern Pfarrhaus von der Bauinspektion mit 30 Suppliken endlich erbettelt hatte: »Ich erlebe den Bau nicht,« sagt' er ernsthaft und gutmeinend, »aber meinem Kinde, denk' ich, soll es zugute kommen.« Ich sagte: »Sie sehen wie David den Aufriß des Tempels im Traum, aber sein Sohn Salomo kann ihn aufführen und betreten.« Er nickte und hielt es für Ernst und führte mich mit dem Ohrfinger in alle abgezeichnete Gemächer und Holzkammern des Architekturstücks hinein und sagte, er hoffe, darin sei schon Platz genug, etwas Hübsches aufzustellen. Er klagte, wie Landgeistliche pflegen, überhaupt über die fürstliche Kammer und führte das abgedroschene Sprichwort an: In Camera non est JustitiaDas heißet: das Kammer- und das Regierungskollegium kommunizieren immer miteinander. , und über die Regierung, die mit jener aus einer Karte spiele, und über die Erbverbrüderung der Kollegien und Machthaber in Residenzstädten, wogegen kein armer Kandidat auf den Dörfern aufkomme. Dadurch frischte er ein elendes Kriegshistörchen in meinem Kopfe auf, das ich ihm gern erzählte wie jetzt dem Leser.

Im siebenjährigen Krieg ritten durch einen Marktfleck schwarze Husaren, die, wie sich alle unsere Autoren ausdrücken – denn ihre Einkleidung ist die eines wandernden Simultan-Wachtrocks –, gern alle Blümchen pflückten, die am Lebenswege dufteten. Die Freudenblümchen, worauf die pflückenden Husaren stießen, waren Semmel und Blutwürste. Das Detachement, das vor dem Bäckerladen vorbeiritt, nahm jene, das andere, das vor der Fleischbank vorüberging, nahm diese als Geiseln mit. Als die terminierenden Detachements wieder nebeneinander ritten und jedes etwas anderes in Händen hatte, alliierten und konföderierten sie die Viktualien so: ein Held mit einer Semmel trabte auf seinem Pferd zu einem mit einer Wurst – er reichte seinem Sattel-Nachbar (man ritt immer weiter) die Semmel zu einem Abbisse hinüber und sagte: »Beiß, Kamerad!« – dieser hielt seinen Nahrungszweig, die Wurst, über das zweite Pferd und sagte: »Beiß, Kamerad!« – und so ritt und aß dieser Wehr- und Nährstand im Straßen-Pickenick unter gleichen Schritten und von einerlei und auf zwei Sätteln wie auf zwei Tellern weiter, wert, im Verse einer Borussias länger zu essen und zu reiten. – – Daran denk' ich, sooft ich sehe, daß in einem Korrelationssaal zwei Dikasterien oder auch zwei Fürsten, wenn sie nebeneinander reiten, einander Wurst und Semmel alternierend über die Pferde geben und sagen: »Beiß, Kamerad!«

Endlich wurde zur Tafel weniger geläutet als gepfiffen (mit dem Munde), der Senior betete. Die Enkel hatten es bei den Müttern herausgebracht, daß sie an einer zweiten freiern Tafel, draußen am Bettische der Nebenstube, sich zusammensetzen und so viel Tunke und so wenig Brot, als sie wollten, nehmen durften, so wie bei der Krönung, aber aus schlechtern Gründen, der Kaiser mit seiner Krone an einen Tisch gesetzt wird, die Kaiserin an einen tiefern und an einen noch tiefern die Kurkonklavisten. Der Freudenmeister Esenbeck saß mit Vergnügen weit von seiner Kebs-Braut oder Speditions-Verlobten Gobertine ab, und sein rechter Tischnachbar war ein leerer Sessel oder Thron, worauf sich die schöne Adjunktussin selten setzte, weil sie tausend Dinge an der Herrentafel zu besorgen hatte und hundert an der Kinderbank.

Suppe wie Kaffee feuchten jede menschliche Sprachmaschine elend an, daß sie verquillt und stockt; und nur mit dem Rauche von beiden zieht die stumme Langweile davon: hingegen wenn die Extrakte kommen, die unsere Sprachwalzen einölen, die Bischof-, die Punschextrakte, die Trauben-Auszüge, dann laufen in den anscheinenden Koch- und Tee-Maschinen die lauten Räder einer Sprachmaschine um, und jeder will des andern Bruder und noch dazu der Bruder Redner werden, und die feurigen Zungen sind nicht mehr zweizüngig, und die welken dünnen Infusionstierchen und Kleisteraale von Ideen leben von wenigen auf sie gesprützten Tropfen wimmelnd auf und rudern sehr – und es kommt immer ein vernünftiger Diskurs zustande.


 << zurück weiter >>