Jean Paul
Der Jubelsenior
Jean Paul

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Erster offizieller Bericht

Der Konsistorialbote – Fräulein von Sackenbach – der Ring und Star – empfindsam Reiseroute- Beitrag zum Titel de contractibus bilateralibus

Auf der Erde hat man tausend feine unvergängliche reiche Freuden in der – Erinnerung: unsere Obstkammer ist ein pomologisches wächsernes Kabinett der Phantasie. Hingegen auf dem Fruchtteller des Glücks treff' ich selten weichere Obstarten an als Steinobst. Dem Philosophen – diesem edlern Nußknacker aller Schalen – kömmt dergleichen sichtbar zustatten: leere elende Freuden, die nicht zu genießen sind, kann er wenigstens erforschen und bis ins Innerste untersuchen, weil er mit dem Dickschnabel oder Kernbeißer wetteifert, der den süßen Überzug der Kirsche wegwirft und nur den Stein auskernt. Ein Mädchen aber wie Alithea bricht sich lieber die sogenannte kleine Pflaume ab, in der nichts Hartes ist, kein Stein.

Es war gerade vor 14 Tagen – den 3. September 1796 –, daß Alithea mit ihrem Obstpflücker eine solche Frucht erreichte, die an einem Konsistorialboten hing, namens Lederer. Das Mädchen stand eben im Vorholz und konnte noch nicht fünfmal mit dem Kamme durchgefahren sein – es war kein Stahl- oder Hornkamm, dieser architektonische Kälberzahn des weiblichen Säulenschafts, sondern einer von Holz, womit man in Thüringen dem Moose die Preiselbeere abkämmt –, als gedachter Lederer über den Anflug wegschritt und unter dem Abreiben seines blanken Konsistorialbotenschildes Alitheen fragte, wie weit er noch hinhabe nach Neulandpreis.

Dieses flachsenfingische Walddorf liegt bekanntlich mitten in einem großen Birken-Gehau. Sie flog wie ein Stern der Weisen oder wie ein Kiebitz vor dem Boten voraus, vielleicht ebensosehr aus Neugierde wie aus Gefälligkeit: denn eben der Senior Schwers, an den der geistliche Pedell etwas hatte, war ihr Pflegevater. Das Pfarrhaus hatte schon lange auf diesen Evangelisten aufgesehen: daher wollte die Pflegetochter, die noch röter vom Erwarten als vom Bücken war, den Boten unterwegs aus liebender Vorsorge für die Pfleg- und Pfarrfamilie ausfragen. Er hielt aber an sich. Er schien freilich ein kleines Kanaan und Eldorado in seinem Tornister zu tragen; aber er schnallte ihn nicht auf.

Ein Republikaner, der nach Neufranken reiset, sieht den ersten Frankreicher, der ihm vornen im Heidenvorhof des Freistaats aufstößet, für einen Republikaner an – ein Tory würd' ihn für einen Tory nehmen – in einem Trauerspiele oder in einem Roman, wovon ich noch nichts durch Rezensenten erfahren, setzt mir jeder junge Mensch, der darin heraustritt, in den Kopf, nun komme der Held; das präsumieret auch ein Mädchen, das zum Fenster hinaussieht und den ihrigen erwartet. Aus demselben Grunde halten nun Kandidaten, die um Pfarrdienste nachgesucht haben, jedes papierne Oblongum für eine Vokation. Alithea dachte, der Bote bringe eine. Denn der Senior Schwers hatte seinen jüngsten Sohn – namens Ingenuin – von der Glashütte der Akademie zu einem guten geistlichen Arzneiglas blasen lassen, dem nur der lange Gebrauchszettul der Vokation, die Tektur der Perücke, das bunte Papier der schwarzen Kleidung und der Bindfaden des Kragens fehlte. Der Vater hätte ebensogern einen Koadjutor und römischen König – d. h. einen Adjunktus – bei sich auf seiner Kanzel gehabt als ein geistlichen Kurfürst und römischer Kaiser. Vater und Sohn hatten aber noch einen besondern Grund, warum sie um die Neulandpreiser Adjunktur bei dem Konsistorium anhielten, ja sogar die Resolution schleunigst innerhalb 14 Tagen haben wollten; und der war, weil der Senior in 14 Tagen sein Amtsjubiläum beging und am Jubeltage gern sein Kind als Nachfahrer auf der Kanzeltreppe sehen wollte. Aber das Konsistorium schien ein Taubstummer zu sein. Der Senior hatte zwar seinen ältesten Sohn, einen Buchdrucker, in der Stadt, den er als Maschinengott und Maschinenmeister bei dem Konsistorio hätte brauchen können; er hielt es aber für gottlos.

Unter allen Treppen, die auf eine Kanzel heben, ist wohl keine wurmstichiger und ausgefaulter als der gradus ad Parnassum, oder auch diese Jakobsleiter im Traum; man lege dafür die Sturmleiter der Grobheit, die Galgenleiter der Simonie an die Kanzel und laufe hinauf – oder man spanne die Flughaut einer Schürze aus, oder setze sich in die ärostatische Maschine eines Verwandten –: kurz man steigt auf allen Treppen - heimlichen gar – schneller auf als auf der Schneckentreppe des Verdienstes. Dieselbe freie Gnadenwahl, die (nach den Kalvinisten) ohne Rücksicht auf Verdienste diejenigen ausersieht, die in den Himmel kommen, dieser voluntas antecedens erkieset auch die, die in ihn führen. – –

So standen die Sachen im Pfarrhaus, als der Konsistorial-Envoyé mit Alitheen hineinkam und an die Seniorin, die in der einsamen Stube für ihren alten Mann statt der Hemden kleine Schreibbücher zu Jubel- und andern Predigten nähte, die Frage tat, wo ihr Herr Sohn Ingenuin sei. Dea – das ist die mütterliche Abbreviatur vom Namen Alithea – holte ihn aus dem Museo her, wo er mit dem Vater an einer langen Tafel studierte.

Der Sohn hatte gerade einen elenden Sonnabend: er saß droben im Purgatorium und Reverberierfeuer und hatte auf dem Kopfe statt des Lorbeerkranzes einen heißen Pechkranz auf, den ihm die Jenaische Literaturzeitung geflochten hatte. Es ist aus dieser bekannt, daß Ingenuin eine »Kritik der kirchlichen Liturgik nach kantischen Prinzipien« ans Licht gestellt, an der Rezensent die wegwerfende Kühnheit ernstlich rügen mußte.Denn nach Ingenuins Prinzipien fielen offenbar die Perücke, das Chorhemd und Kommunikantentüchlein hinweg. Der Fortsatz der abgebrochenen Rezension, der noch einige Brandkugeln mit Haken verhieß, konnte erst in acht Tagen anlangen. Ich kenne nur zwei Ewigkeiten, die beinahe so lange dauern wie die der Höllenstrafen und die man ebenso elend verbringt wie diese: die erste besteht aus den drei oder acht Tagen, die ein Autor durchleben muß, bis die Rezension, die im letzten Stücke abgebrochen wurde, im nächsten fortgeschrieben wird. Der Himmel und der Redakteur wende es doch von jedem ab, der, wie ich, lieber ein Wund- und Kanonenfieber aussteht als das abscheuliche Gefängnisfieber des Wartens! – Die zweite Ewigkeit, die wenigstens nicht kurz ist, besteht in dem langen Johannistag, den ein blutarmes Mädchen hier in Hof, in Baireuth, Halle, Berlin versitzt, bis der Abend kömmt und den Geburtstags-Ball des Königs mitbringt, für den die Gute die herrliche Frisur aufspart, die ihr der Perückenmacher, weil diesem den ganzen Tag der Kamm nicht aus den Händen kam, schon vor tags um ½6 Uhr erbarmend zugeworfen hatte.

Zum Glück für Ingenuin blieb der Verfasser des getadelten Werks sowohl dem Publikum als dem Vater verborgen.

Die freie starke Seele des Seniors hatte sich in die anerzogene Kirchentaktik eingefügt wie ein kräftiger Krieger in das militärische Zeremonialgesetz. Gleich den Scholastikern hatt' er in der Philosophie Flügel und in der Theologie Fesseln. Das göttliche – Ebenbild, das nach den Sozinianern in der Herrschaft über die Tiere besteht, wurd' an ihm durch die höhere über die Menschentiere um ihn und über das platonische eiserne Vieh seiner eignen Triebe klar; aber ein zartes Gewissen und ein hohes Alter gaben oft der Subordination unter äußere Gebräuche den Schein und die Ängstlichkeit der Heuchelei.

Der Sohn ging hinunter zum Boten, an dem er nicht einmal etwas anders kannte als das blechene Wappenwerk (der Antezessor war erst gestorben), und überkam von ihm ein Oblongum, überschrieben: »An den Adjunktus Ingenuin Schwers in Neulandpreis.«

Ingenuin gehörte nicht zur Oktobergesellschaft der Genies, die jede Staatsbedienung ausschlagen: eine Vokation war ihm erfreulicher als eine Rezension. Gleichwohl trug er das Testament, das ihn zum Kanzel-Erben einsetzte, versiegelt aus Ehrfurcht seinem Vater zum Erbrechen hinauf. Schwers memorierte vorher den Perioden der Sonntagspredigt zu Ende – denn so lange der alte Mann noch zwei Beine heben konnte, um eine Kanzeltreppe zu ersteigen, und zwei Arme, um eine Kanzeluhr umzudrehen, so lange bracht' ihn kein Mensch aus der heiligen hölzernen Eremiten-KonchylieKahlschwänze oder Eremiten heißen die Krebse, die ihren nackten Schwanz in ein Schneckenhaus einmieten. heraus –, und dann erst las er gleich gemeinen Leuten die Bestallung laut ab, sogar bis auf jeden Namen der unterschriebenen Konsistorialräte. Ob es gleich der Sohn nun vernommen hatte, daß er adjunctus cum spe succedendi (mit der Hoffnung, Pfarrer zu werden) geworden, so sagte doch der Greis mit einer feierlichen Stimme: »Das hochpreisliche Konsistorium in Flachsenfingen beruft dich zum adjuncto cum spe succedendi bei deinem Vater. Aber, o junger Mensch, wenn denn der Herr so ungemein viel auf deine Schultern legt: so unterstütz' er dich auch und rüste dich aus zu einem nicht unwürdigen Sukzessor deines Vaters. Denn einst werd' ich schwere Rechenschaft von dir fordern. Und ich wünsche dir zu deiner Veränderung auch viel Heil und Segen. Amen.« Eine andächtige Umarmung verknüpfte den weichen Sohn und den festen Greis.

Langsam und mit glänzenden Augen und ernsten Zügen ging Ingenuin als Botschafter seines Avancements hinab zur Mutter, für welche diese Freude ein erwärmter aufgewachter Sommervogel in den Wintermonaten ihres Alters war. Ihr Herz schlug ihr darum in den kalten Tagen ihrer Jahrszeit so warm, weil gerade in das Jubiläum des Amts die Feier ihrer Silberhochzeit fiel, wenn man 16 Tage für nichts rechnete: Geistliche können leicht beide Jubelfeste an einem Tage begehen, weil sie immer die Kanzel und das Ehebette zu einer Zeit besteigen und weil ein Kirchenlicht, sobald das Konsistorium es angezündet hat, leicht die Brautfackel ansteckt. – Theodosia (so hieß die Mutter) mußte ihr von Freuden verengtes Herz hinauf zu ihrem Manne tragen, dem sie weniger an der starken Brust als am starken Herzen lag, bloß weil sie mit ihm drei Götter verachtete, Geld, Lüge und Putz. Nur sie und der Sohn durften seine Studierstube – ein verfinstertes, von Federwildpret schwarz ausgeschlagenes Allerheiligstes – betreten; Alithea durfte nur anklopfen. Es war nur der Nonnenschleier für den mütterlichen Seelen-Erguß, daß sie sich vom Senior das Gratial und die Provision für den vozierenden Boten wollte dekretieren lassen, obwohl nicht aushändigen: denn die alte Mutter war die Bankodirektrice und Säckelmeisterin des Schwersschen Gemeinsäckels.

Als der Sohn fort war: hatte der Senior den Elenchus seiner Predigt gar auswendig lernen wollen; aber da es gerade die auf den 15ten Trinitatis war, worin er die Mutteraugen und Mutterarme der ewigen Vorsicht schilderte, so mußt' er mitten im Memorieren die Mütze abziehen aus Rührung, und zuletzt verlas er den Schluß des Sermons gar als ein heutiges Abend- und Dankgebet. Dann stellt' er sich im frommen Staunen und Sinnen ans Fenster – und die silberne Vespersonne, gleichsam die erleuchtete Angelos-Kuppel, glänzte als ein zweiter höherer Tempel auf der Peterskirche der Natur, und ihr Leuchtregen schlug von den Birkengipfeln mit waagrechten Strömen an die offnen Augen des alten Mannes an, und eine zweite Sonne schwamm um seine betäubten befeuchteten Augen. – Als die erste schon die grüne Mosis-Decke aus Gipfeln vor sich zog, umflatterte ihn die Nebensonne noch – und als er die Augenlider zuschloß, so blieb der Glanz – aber da er sie wieder öffnete vor seiner Gattin, so schwebte die Erde und das enge Zimmer verklärt und durchbrochen vor ihm, und in seliger Blindheit zog er die von Jahren geknickte Geliebte an seine umgebogene Brust herauf – und sie vergossen die edelsten Freudentränen, die elterlichen. – –

Dann fragte sie ihn um den Konsistorialboten-Lohn. Er war in Trankgeldern genau, in Kaufschillingen gerecht und nur in milden Beisteuern verschwenderisch: bloß acht Gulden rh. resolvierte das Seniorat. Das wurde drunten in der Stube allgemein für wenig befunden, zumal als unscheinbares bleiches Silbergeld. Die nachgebende Mutter, die niemals log, mußte doch eine Tripelalliance von drei Ständen mit der schlauen, aber sanften Tochter und mit dem offnen, aber weichen Sohn formieren und es leiden, daß man den gemeinschaftlichen grauen Brot- und Großherrn ebensosehr betrog als liebte und achtete, bloß weil es ihnen wie dem Alter unmöglich war, diesen vom Medusenkopf der Vernunft, nämlich von seinem eignen hellen Kopf versteinerten Alten zu beugen; die Mutter mußte also gezwungen Alitheens Bille unterschreiben, daß man statt des Silbers einen Doppel-Dukaten geben könne. Es hing im ganzen Hause nur einer, und zwar an Deas Halse: sie trug ein goldnes Paternoster aus drei Dukaten, deren kleinsten einige Perlen betaueten. Es ging über Ingenuins Empfindungen ein schmelzender Tauwind, da er diese Konviktoristin seines Vaters für ihn zahlen sah – sie war eigentlich eine Hausarme aus der Schweiz und hieß Alithea Zwicki –, aber es war nicht zu ändern; und wer konnte ihm das Wiedervergeltungsrecht abstreiten, ihr ein größeres und wärmeres Halsgehenk zu geben? Diese Wohltäterin hatte nämlich außer ihrem schönen stillen Herzen nichts im Vermögen als ein – zweites, ebenso stilles, das adjungierte. Er war eine Feldtaube, sie eine Haustaube; er gehorchte seinem Vater wie einem Alten vom Berge, sie seiner Mutter wie einer Äbtissin und Päpstin Johanna. Der Stern der Liebe gleicht oft denen Fixsternen, die nach Euler schon lange am Himmel stehen können, ehe das Licht den weiten Weg zu uns heruntergefallen ist. In solchen Seelen besonders, worin ein gemäßigter Himmel ist, grünt die Aloepflanze der Liebe jahrelang ohne Blühen und Duften, bis vor irgendeinem warmen Zufalle die reife Knospe aufspringt. Die Konsistorial-Ordonnanz Lederer schnitt, wie es schien, mit ihrem Papier diese zwei festen Nelkenknöpfe auf; wenigstens ist das Folgende nicht wider diese Vermutung.

Der neue Adjunktus, der vielleicht der galanteste artigste Elegant in ganz Neulandpreis war, verfügte sich ins Schloß hinüber, das so groß war wie ein Invalidenhospital, aber selber invalid. Es saß darin ein alttestamentliches Fräulein von mehr Jahren als Ahnen, namens Amanda Gobertina von Sackenbach. Ich wollt' ihr jetzt ihr Alter vorwerfen; aber ist es billig, daß die Menschen an einander entgegengesetzte Qualitäten meistern, an dem einen die Jugend, an dem andern das Alter, am Fetten den Speck, an mir Haut und Bein? Amanda von Sackenbach hatte sonst meine Jahre gehabt, war Gesellschaftsdame oder fille d'honneur der vorigen Landesmutter gewesen, ist darauf ihre eigne Gesellschaftsdame und fille d'honneur geworden – und das ist sie eben jetzt, und eine Pension (wozu die Kammer bloß eine milde Armen-Stiftung verwandte) überwächset und putzet sie in ihrer Gruft mit Laubwerk aus Gold, wie etwan Goldadern einen verschütteten Bergknappen im Schacht durchwachsen. Ob sie gleich in ihrem Kontumazschloß so leicht mit der Liebe anzustecken ist wie Europäer mit der Pest, die schon wie die Liebe durch einen Degenknopf, durch einen Brief, durch einen wollenen Rock, durch ein Goldstück weiterkam, so sucht sie doch zarte und elegante Empfindungen wie Schulden und Wanzen nur in großen Häusern. Ein Neulandpreiser hatt' ihr wenig an. Übrigens war sie nicht nur der Stolz, sondern auch die Dienstfertigkeit und Heilkunde selber: sie sprang dem gemeinsten Patienten bei und verrichtete dieses Fußwaschen am grünen Donnerstage, diese Notzüge ohne Nachteil ihrer vorigen Ehrenzüge, so wie ohne Standeserniedrigung sowohl Madame Maintenon als Peter der Große von unten auf dienten, dieser bei der Soldateska, jene unter den Nonnen.


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