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Die nördlichen Stadtviertel

Mit der Boulevard-Ringbahn der Avenue des Arts gelangen wir, an langen Reihen reicher Privatpaläste vorüberfahrend, binnen wenigen Minuten zum Boulevard du Jardin Botanique, von dessen Scheitelhöhe aus wir nach Westen zu einen außerordentlich weiten Fernblick genießen bis hinüber zu dem am Ende des kerzengeraden Boulevardstraßenzuges wiederum höher ansteigenden Koekelberge, auf dessen Gipfelplateau König Leopold II. im Jahre 1905 den Grundstein legte zu der zurzeit noch im Bau begriffenen Nationalbasilika vom Heiligen Herzen Jesu (»Sacré-Coeur«).

Das den Südabhang des Boulevard du Jardin Botanique einnehmende, vom Straßenzuge durch ein schmiedeeisernes Gitter abgetrennte St. Johannes-Hospital wurde in den Jahren 1838-1843 nach den Plänen des Architekten Partoes erbaut. Besonders sehenswert ist die außerordentlich zweckmäßige Innenanlage dieses für die architektonische Stilrichtung seiner Entstehungszeit ungemein charakteristischen, einen ganz gewaltigen Flächenraum bedeckenden Bauwerkes, dessen weiträumiger, im Geviert nicht weniger als 40:52 m messender Haupthof von imposant wirkenden Rundbogenarkaden umgeben ist. In den Hauptsälen des Obergeschosses findet man eine beträchtliche Anzahl wertvoller, aus älteren Brüsseler Wohltätigkeits- und Versorgungsanstalten herstammender Kunstwerke zur Schau gestellt: ein schönes Altarwerk des 16. Jahrhunderts mit der Darstellung des Todes der Maria (dem Barend van Orley zugeschrieben), – ein hervorragend gutes Ecce Homo-Gemälde von der Hand des Marten van Heemskerck, – sowie Gruppenbildnisse der Hospitalvorsteher früherer Jahrhunderte.

Der gegenüberliegende Botanische Garten okkupiert mit seinen herrlichen Terrassenanlagen fast die ganze Nordseite des nach ihm benannten Boulevards. Den oberen Abschluß der Gartenterrassen bildet der grandiose Krystallpalast für Tropengewächse, errichtet im Jahre 1826 nach den Plänen des in Paris unter Percier und Fontaine ausgebildeten Architekten T. J. Suys. Mit Bewunderung schweift der Blick des vom Nordbahnhofe her zur Oberstadt hinaufwandernden Passanten hinüber zu diesen in reinen Linien vom Horizonte sich abhebenden Krystallhallen, deren Mittelrotunde mit ionischen Säulenstellungen geschmückt ist und von einer eleganten Flachkuppel bekrönt wird.

Während im allgemeinen die Boulevardpromenaden, Parksquares und sonstigen öffentlichen Plätze Brüssels einen verhältnismäßig sparsamen Skulpturenschmuck aufzuweisen haben, wurden die Parkterrassen und Promenadenrampen des Botanischen Gartens auf Veranlassung König Leopolds II. in den Jahren 1898-99 von den hervorragendsten belgischen Bildhauern mit einer ganzen Schar dekorativer Marmor- und Bronzebildwerke bevölkert. Aus der Gründungszeit des Gartens stammt einzig und allein der dem Sockelgemäuer der großen Gewächshallen vorgelagerte Zierbrunnen mit seiner von François Rude modellierten Brunnengruppe. Unter den neueren Bildwerken sind neben Julien Dillens' »Lorbeer« namentlich Const. Meuniers Prachtfiguren eines Sämanns und eines Schnitters als Kunstwerke vornehmsten Ranges hervorzuheben. Wenn die Mehrzahl dieser neueren Bildwerke trotz ihres hohen Kunstwertes gleichwohl nicht die von ihnen erhoffte Wirkung ausübt, so ist die Schuld hieran ihrer Patinierung zuzumessen, die ein genügendes Hervortreten der kostbaren Bronzen aus dem Laubgrün ihrer Parkumgebung verhindert.

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Abb. 124. Place des Martyrs (Photo Neurdein)

Leider müssen die vom Nordbahnhofe her auf eiligen Berufsgängen dem Stadtinneren zustrebenden Passanten sich in der Regel mit einigen flüchtigen Seitenblicken auf die herrlichen Parkterrassen des »Jardin Botanique« begnügen, und auch die Mehrzahl der auf dem Nordbahnhofe ankommenden Vergnügungsreisenden wird gewöhnlich allzu hastig an dieser köstlichen Kunst- und Naturszenerie vorübereilen, um durch die mit ihren luxuriösen Schauläden nur zu verlockend wirkende Rue Neuve oder über den breiten Boulevard du Nord und Boulevard Anspach möglichst rasch das Stadtzentrum Brüssels zu erreichen.

Seltsam kontrastiert mit der ungemein geräuschvollen, über dem unmittelbaren Daseinskulte alles Vergangene vergessen machenden Belebtheit der Rue Neuve ein feierlich ernstes Totendenkmal, das am Kreuzungspunkte der Rue St. Michel den Passanten zu ehrfürchtigem Verweilen veranlaßt und auf seine soeben noch vom frühesten Lebensrausche umfangenen Sinne mit der düsteren Wucht einer Trauerhymne eindringt, – das Totendenkmal für die Volksmärtyrer des Revolutionsjahres 1830! Von vornherein keineswegs ungünstig gewählt, mußte der Standort dieses majestätischen Erinnerungszeichens an die ruhmreichen Tage der nationalen Befreiungskämpfe alsbald nach Errichtung des Nordbahnhofes durch den Verkehrslärm der so nahe an ihm vorüberführenden Rue Neuve leider nur zu fühlbar in seiner ruhigen Abgelegenheit beeinträchtigt erscheinen. Immerhin hindert dies nicht, daß auch in unserer Zeit noch am Jahrestage der Revolutionskämpfe von 1830 die Brüsseler Schulkinder in feierlicher Prozession zu diesem Camposanto der Revolutionsopfer hinpilgern und zu Füßen des von trauernden Marmorgenien und dampfenden Räucherpfannen umgebenen Monumentes begeisterte Vaterlandslieder erschallen lassen.

Der diese Revolutionsnekropole beherbergende öffentliche Platz hieß ursprünglich »Place St. Michel« und wurde erst nach 1830 in »Place des Martyrs« umgetauft. Errichtet im Jahre 1775 nach den einheitlichen Plänen des Architekten und Ingenieurs Fisco, tragen die den 95 m langen rechteckigen Platz umgebenden uniformen Häuserfassaden (gleich denjenigen der von demselben Architekten erbauten Straßenfronten des Schloßparkviertels) die charakteristischen Stilmerkmale der österreichischen Architektur jener Zeit offensichtlich zur Schau. Die zweistöckigen Häuserfronten der beiden Langseiten des Platzes sind mit vorspringenden Pilastern verziert und mit Dachbalustraden bekrönt, auf deren Teilungssockel Schmuckvasen aufgesetzt sind; die einstöckigen Gebäude an den beiden Schmalseiten des Platzes sind dagegen mit Säulenrisaliten geschmückt, über denen flache Dreieckgiebel aufsteigen. Die ebenso elegante wie diskrete Gesamtarchitektur des Platzes erinnert an die Höfe gewisser Abteianlagen des 18. Jahrhunderts.

Hier also wurden nach den Revolutionstagen des Jahres 1830 die Leichname der im Kampfe um die Freiheit des Vaterlandes gefallenen Brüsseler Bürger zur Ruhe bestattet. Über ihrem gemeinsamen Grabmale ragt ein hohes, aus Marmor gemeißeltes Frauenstandbild zum Himmel empor, darstellend die »Belgica«, wie sie die Namen der Freiheitsmärtyrer auf ihre Erinnerungstafel einschreibt. An den vier Sockelfronten erblickt man Reliefdarstellungen der Hauptepisoden der Revolution, an den vier Postament-Ecken Statuen trauernder Genien. Der Schöpfer des gesamten, im Jahre 1838 enthüllten Monumentes war der Bildhauer Guillaume Geefs (1806-1883). Von dem im Quadrate das Denkmal umgebenden breiten Stufenperron aus blickt man hinab in die Katakomben jener Freiheitshelden, deren Namen in die Marmorbekleidung dieses monumentalen Ossariums eingemeißelt sind. In den Jahren 1897 und 1898 hat man auf den Rasenplätzen zu beiden Seiten dieses Hauptmonumentes noch zwei Gedenksteine für den Brabançonne-Dichter Jenneval und für den Grafen Frédéric de Mérode errichtet, die beide während der Revolutionskämpfe zu Tode verwundet wurden. Jenneval, von Geburt Franzose mit dem eigentlichen Namen Dechez und dem Berufe nach Schauspieler, war dem Freiwilligenkorps von Niellon beigetreten und vor Lierre gefallen; vom Grafen von Mérode war bereits bei Besprechung seines Grabmales in der St. Gudula-Kathedrale in Kürze die Rede. Das Denkmal des ersteren schuf der Architekt Anciaux im Vereine mit dem Bildhauer Crick, dasjenige des letzteren der Architekt Henri Van de Velde gemeinsam mit dem Bildhauer Paul Dubois.

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Abb. 125. Denkmal der Freiheitsmärtyrer (Photo Neurdein)

Dem Straßenzuge der Rue Neuve südwärts weiter folgend, gelangen wir zur Place de la Monnaie, die mit den einander gegenüberliegenden Gebäuden des Hauptpostamtes und des Théâtre Royal – einer Opernbühne von europäischer Berühmtheit – eines der belebtesten Verkehrszentren ganz Brüssels darstellt.

Das Königliche Monnaie-Theater wurde im Jahre 1817 vom französischen Architekten Louis Damesme († 1822) erbaut, der als Theaterkonstrukteur internationalen Ruf besaß und eben darum mit der Planung und Ausführung dieses Baues betraut wurde. Nach dem Theaterbrande vom Jahre 1855, bei dem nur die Außenmauern des Gebäudes Stand gehalten hatten, wurde es nach Damesmes Originalentwürfen in seiner ursprünglichen Gestalt von Poelaert neu ausgebaut. An der äußerst schlichten Außenarchitektur dieses Opernhauses ist nur das als Bekrönung des achtsäuligen ionischen Frontportikus dienende Giebelrelief von der Hand des Bildhauers Eug. Simonis bemerkenswert; vollendet im Jahre 1854 (also noch vor dem Brande), zeigt dieses Hochrelief um die Mittelfigur der Harmonie die allegorischen Gestalten der menschlichen Leidenschaften gruppiert.

Als vornehmste Opernbühne des Landes hat das in ganz Europa zu hohem Rufe gelangte, hauptsächlich das französische Opernrepertoire pflegende Monnaie-Theater auf seinen Brettern die berühmtesten Sänger, an seinem Dirigentenpulte einige der bedeutendsten modernen Opernkomponisten – an ihrer Spitze Charles Gounod und Richard Wagner – Triumphe feiern lassen. Von illustren Tragöden, die hier auftraten, sind namentlich Talma und Mademoiselle Mars zu erwähnen, von berühmten und besonders eifrigen Besuchern dieses Theaters die David, Cambacérès, Barrère und viele andere Proskribierte der französischen Restaurationsepoche. Der 1600 Personen fassende Zuschauerraum des Theaters hat eine meisterhaft berechnete, vollkommen ebenmäßige Akustik aufzuweisen und ist mit allen erdenklichen Sicherheitsvorrichtungen ausgestattet. An seiner prunkvollen, im Louis Quatorze-Stile gehaltenen künstlerischen Ausschmückung waren hervorragende Spezialisten der Pariser Dekorationskunst des zweiten Empire beteiligt.

Das prächtige Hauptpostpalais wurde im Jahre 1885 an Stelle des ehemaligen Münzgebäudes vom Architekten Louis De Curte im französischen Barockstile vom Ende des 17. Jahrhunderts vollendet. Wir wenden uns die Nordfront dieses Postgebäudes entlang durch die Rue Fossé-aux-Loups westwärts zu deren direkter Verlängerung, der Rue des Augustins, und gelangen dann durch die kurze Rue du Cyprès zur hochinteressanten Beguinenklosterkirche St. Jean-Baptiste, deren ruhig abgelegene Umgebung noch jetzt vom Geiste des übrigens schon längst nicht mehr existierenden Beguinenwesens durchweht erscheint.

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Abb. 126. Das Kgl. Monnaie-Theater (Photo Neurdein)

Die in einem hocheleganten Jesuitenstile erbaute Beguinenkirche galt früher als ein Werk Wenzel Coeberghers, des bekannten Architekten und Ingenieurs aus der Zeit Albrechts und Isabellas von Österreich, der jedoch im Jahre 1657, dem Zeitpunkte des Beginnes dieses Kirchenbaues, schon seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr am Leben war. Jedenfalls bietet die Kirche, deren reiche Barockfassade lebhaft an diejenigen der unter Pozzos Einfluß in Rom entstandenen Barockkirchen erinnert, in dekorativer Hinsicht ein recht reizvolles Gesamtbild dar. Weniger einfach in der Linienführung als die Karl-Borromaeus-Kirche zu Antwerpen und als St. Michael zu Loewen, gemahnt sie immerhin auch an diese Kirchen noch genugsam im phantastischen Reichtum ihrer dekorativen Details. Der Mittelbau der Fassade mit seinen übereinandergestellten Ordnungen gekuppelter jonischer und korinthischer Pilaster, seiner von Lünettenfenstern durchbrochenen, girlandenbehängten Attika und seiner von Pechpfannen und Feuerurnen überragten Volutenbekrönung ist mit allem möglichen dekorativen Schwulst recht überladen und fordert dabei in seiner ungemein pittoresken Gesamtwirkung doch gleichwohl unsere aufrichtige Bewunderung heraus. Von unleugbarer Eleganz ist übrigens auch der von der Oberstadt her weithin sichtbare helmlose Glockenturm, der hinter dem Altarchore der Kirche aufragt, und dessen achteckiger Oberbau mit graziösen Ecktürmchen in der Art derjenigen des Rathausturmes verziert ist. Der ganze Kirchenbau harmoniert vortrefflich mit der altvaterischen Physiognomie der umgebenden Häuserviertel, bei deren Erbauung man ja die spätere Großstadtentwickelung Brüssels noch nicht voraussehen konnte.

Im Inneren der 51,35 m langen und 36 m breiten Klosterkirche herrscht bei großem Skulpturenreichtum der imposanteste Barockdekor. Hinter dem durch zwölf mächtige dorische Säulen in drei Schiffe geteilten Langhause öffnet sich ein weiträumiges Querschiff, an das sich dann der hochgewölbte, mit korinthischen Pilastern bekleidete Altarchor anschließt. Die Deckenwölbungen sind aus abwechselnden Reihen von roten Backsteinen und weißen Natursteinen aufgemauert. An den Wänden der niedrigen Seitenschiffe sind reich in Holz geschnitzte Beichtstühle aufgestellt, während im Mittelschiffe eine ursprünglich für die Mechelner Dominikanerkirche ausgeführte, den Kampf des hl. Dominikus gegen das Ketzertum darstellende Schnitzkanzel Platz gefunden hat. Außerdem beherbergt die Kirche zur Überraschung des Kunstgeschichtsfreundes noch eine ganze Anzahl vortrefflicher alter Gemälde, darunter namentlich eine von der Hand des Otto van Veen herrührende Pietà-Darstellung, eines der bestgelungenen Werke dieses Lehrmeisters des Peter Paul Rubens, – ferner verschiedene Andachtsbilder von der Hand des im Auslande nur wenig bekannten Brüsseler Malers Theodor van Loon, eines hervorragenden Koloristen des 17. Jahrhunderts, der als kaum siebenjähriger Knabe in Rom den Unterricht Carlo Marattas genossen haben soll, – sowie auch ein Kreuzigungsgemälde vom unvermeidlichen Gaspard de Craeyer.

Die Rue du Grand-Hospice führt uns schließlich ostwärts hinüber zur Rue de Laeken, jener breiten Hauptstraße, die seither noch immer das Vorrecht genießt, den belgischen Souveränen als Via Triumphalis zu dienen bei ihrer Krönungsfahrt vom Laekener Schlosse zur Stadt – dem Kaiser Napoleon in seiner Eigenschaft als König der Niederlande und dem später vertriebenen König Wilhelm I., wie den Königen Leopold I. (1831 und auch beim Regierungsjubiläum 1856), Leopold II. (1866) und Albert (1909). Bis zur Erbauung der Nordbahn rollte durch die Laekener Straße übrigens auch der weitaus größte Teil der zwischen Brüssel und Antwerpen verkehrenden Post- und Lastwagen.

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Abb. 127. Vlaemisches Stadttheater (Photo Neurdein)

Am Nordende der Rue de Laeken wurde im Jahre 1885 das Vlaemische Stadttheater errichtet, ein Bühnengebäude von höchst eigenartigem Gepräge. Vor allem bedeutet dieser vom Brüsseler Architekten Jean Baes ausgeführte Theaterbau einen wesentlichen Fortschritt hinsichtlich der feuerschutztechnischen Sicherheitsanlagen, ohne daß jedoch darum die ästhetische Seite seiner baukünstlerischen Ausgestaltung vernachlässigt worden wäre. An der nur ganz flach gegliederten und hierin offenbar von der vlaemischen Renaissancearchitektur des 16. Jahrhunderts inspirierten Fassade dominiert ein dem ersten Obergeschosse breit vorgelagerter Balkon, dessen drei, von hohen Bogenfenstern überwölbte, dem ersten Logenrange als Schutzausgänge dienende Türöffnungen von mächtigen Bildnisbüsten der drei berühmtesten Vertreter der dramatischen Literatur der Niederländer bekrönt werden: Joos van Vondels, Pieter Langendycks und Guillaume Ogiers, von denen der letztere in seinen Bühnendichtungen persönlich als Schauspieler auftrat. Das oberste Geschoß der von einem hohen Giebeldache überragten Fassade öffnet sich ferner in einer die ganze Frontbreite einnehmenden, durch kurze Tragpfeiler abgeteilten Galerie, die für die Besucher des vierten Ranges als Schutzaustritt bestimmt ist. (Eine ähnliche offene Obergeschoßgalerie findet man übrigens am Antwerpener Rathause.) Die beiderseits zurückspringenden, von Treppengiebeln bekrönten Eckbildungen der Fassade boten in ihren organisch motivierten Nischenformationen passende Gelegenheit zur Aufstellung dekorativer Statuen. An den beiden Langseiten des Theaters sind schließlich weitere Reihen übereinander zurücktretender offener Galerien angebracht, die den Besuchern der verschiedenen Ränge bei Feuersgefahr sichere Zuflucht gewähren. Die Innenanlage des Theaters bzw. seines Foyers und seines Zuschauerraumes ist in architektonischer Hinsicht nicht minder interessant; bei letzterem ist der Erbauer insofern vom Herkömmlichen abgewichen, als er auch hier fast ausschließlich die geradlinige Kontur hat walten lassen.

Mit seiner Rückfront ist das inmitten des Kanalhafenviertels gelegene Vlaemische Stadttheater an einen im Jahre 1780 errichteten ehemaligen Hafenspeicher angebaut, der mit seiner keineswegs uneleganten Hauptfront dem Kopfende eines vom Heu-Ladequai und vom Bruchstein-Ladequai flankierten alten Kanalhafens zugekehrt ist und, obwohl er jetzt von der Brüsseler Garnisonverwaltung als Artilleriedepot benutzt wird, noch immer einen ungemein charakteristischen Abschluß für jenes typische Hafenmilieu abgiebt.

Ein Freund malerischer Szenerien wird diesem » Bruxelles Maritime« einen gewissen pittoresken Reiz wohl schwerlich absprechen können. Und dabei rufen uns diese Kanalhäfen außerdem noch jene nur erst wenige Jahrzehnte zurückliegende und doch schon beinahe legendarisch gewordene Vergangenheit in die Erinnerung zurück, wo Tag für Tag der Antwerpener »coche d'eau« (Markt- und Passagierkahn) an einem dieser Hafenquais anlegte, um zahlreiche Reisende ans Land zu setzen. Besondere Eile durften diese Reisenden freilich nicht nötig haben, wenn sie dieses so angenehme, in gewissen Teilen Flanderns und namentlich in Holland noch heute vielfach gebräuchliche Beförderungsmittel benutzen wollten. Die sogenannte »Maison des Barques«, das Brüsseler Endziel dieser primitiven Schiffsreisen, ist gegen Ausgang des 19. Jahrhunderts von ihrem einstigen Standorte verschwunden. Bis auf den heutigen Tag dagegen ist am gegenüberliegenden Hafenquai die »Maison du Chien Marin« (das »Seehundshaus«, auf seinen Ankeremblemen mit der Jahreszahl 1680 datiert) als ehrwürdiger Zeuge vergangener Jahrhunderte erhalten geblieben; auf Kosten der Stadtgemeinde ist dieses Schifferhaus neuerdings sogar einer gründlichen Restaurierung unterzogen worden.

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Abb. 128. Heuladequai und Bruchsteinladequai, im Hintergrunde der alte Hafenspeicher (Photo Neurdein)

Besonderen Genuß wird jedenfalls dem Künstler eine Quaiwanderung längs der inneren Hafenbecken des Brüsseler Kanalviertels bereiten. Vereinigen sich doch die langen Reihen hier festliegender mächtiger Binnenlandkähne (»bélandres«) und hochaufragender alter Giebelhäuser mit den eigenartigen Typen der Hafenbewohner und Kanalschiffer zu einem malerischen Gesamtbilde, das unauslöschlich in der Erinnerung festhaften wird. In der Tat hat denn auch schon so mancher moderne Farbenkünstler von Ruf aus dem Brüsseler Kanalhafenviertel die köstlichsten Bildmotive mit nach Hause nehmen können, angeregt durch den Vorgang gewisser holländischen Meister des 17. Jahrhunderts, die in der künstlerischen Wiedergabe der so eindrucksvollen Reize ihrer heimatlichen Stadtkanalszenerien für alle Zeiten vorbildlich gewirkt haben.

Freilich gilt es sich zu beeilen, will man von den alten Kanalstraßen Brüssels noch etwas zu sehen bekommen! Werden doch die an allen Ecken und Enden der Altstadt bereits in Angriff genommenen oder doch für die nächste Zukunft geplanten Abbrüche und Umgestaltungen nur zu bald nichts weiter übrig gelassen haben als wehmütige Erinnerungen an jenes Alt-Brüssel, das man schon jetzt das »verschwindende« zu nennen pflegt, – » Bruxelles qui s'en va«!


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