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Der Südwesten Brüssels – die Kirche Notre Dame de la Chapelle

Von der Porte de Hal aus, die in der Tat den südlichsten Grenzpunkt Alt-Brüssels darstellt, gelangt man in das südwestliche Straßenviertel der Altstadt, das mit seinem intensiven Arbeits- und Verkehrsleben gewissermaßen eine Stadt für sich bildet und seine charakteristische Physiognomie zahlreichen Industrien, Fabriken und Handelsfaktoreien verdankt. Durch die Straßen rollen schwere Lastwagen, deren kraftvolle Brabantergespanne lebhaft an die Rossetypen auf Rubens' monumentalen Gemäldekompositionen erinnern und somit bei aller Modernität der Erscheinung längst vergangene Zeiten vor uns wieder aufleben lassen. Die Verkehrssprache ist hier ein volkstümliches Gemisch aus vlaemischen Brocken und einem besonderen Französisch, dessen Name »marollisch« von dem früher in dieser Stadtgegend gelegenen Nonnenkloster »Les Marolles« herzuleiten ist. Ein Blick auf den Stadtplan belehrt uns, daß das von der Rue Haute und zahlreichen Nebenstraßen durchschnittene Stadtviertel in naher Verbindung steht mit den Kanalhäfen und den großen Markthallen und Marktplätzen der Stadt, und daß demgemäß seine Vorrangstellung als Industrieviertel noch für lange Zeit genügend gesichert erscheint. Das im Jahre 1858 nach Cluysenaars Bauplänen errichtete Blindenhospiz und die »Cité Fontainas«, eine Gruppe freundlicher Wohnstätten für die emeritierte Lehrerschaft Brüssels, sind die letzten monumentalen Bauanlagen am Südende des an der Südbahnstation vorüberführenden Boulevard du Midi.

Um sich einen Begriff zu verschaffen von den malerischen Reizen der vom Canale von Charleroi durchschnittenen südwestlichen Vorortgelände und von der außerordentlichen Schönheit der die Stadt nach dieser Seite zu umschließenden Hügelketten, wird der Besucher Brüssels am besten tun, einen der zahlreichen zwischen Süd- und Nordbahnhof verkehrenden Gürtelbahnzüge zu benutzen, der ihm binnen einer halben Stunde eine Reihe der herrlichsten Ausblicke über die Stadt und ihre Umgebung vor Augen führen wird. In raschem Wechsel folgen einander die pittoreskesten Architekturbilder, die dabei allerorten von den mächtigen Kirchtürmen von Ste. Gudule und von dem schlanken Helme des Rathausturmes überragt werden; an einer bestimmten Stelle der Halbrundfahrt erscheinen alle drei Riesentürme für kurze Zeit zu einer einzigen geschlossenen Gruppe vereinigt, und von einer noch höheren Stelle der Gürtelbahn aus genießt man sogar den unvergleichlichen Anblick der gleichfalls hoch über das weite Häusermeer emportauchenden Riesensilhouette des Justizpalastes. Schließlich sehen wir auf dieser westlichen Halbrundfahrt noch den nördlichen Vorort Laeken mit seiner monumentalen Basilika, die zur Erinnerung an die im Jahre 1850 verstorbene Königin Louise von Belgien aus den Mitteln einer Nationalsubskription errichtet wurde, – den grandiosen Laekener Königspark mit dem gotisierenden Nationaldenkmal für König Leopold I., – sowie endlich auch die gewaltige Gesamtanlage der Brüsseler Kanalhäfen, über denen bei sinkender Nacht Hunderte von Lichtern aufblitzen, – ein ebenso reizvolles wie für jedermann bequem zugängliches Großstadtschauspiel.

Nachdem wir zur Südbahnstation zurückgekehrt sind, besteigen wir nunmehr die von hier aus zur Place Royale führende Straßenbahn, die uns durch die enge und dicht bevölkerte Rue Blaes alsbald zur Place de la Chapelle befördert.

Seinen Namen verdankt dieser Platz der Kirche Notre Dame de la Chapelle, auch kurzweg »la Chapelle« genannt, einem der ältesten und interessantesten Gotteshäuser, die Brüssel aufzuweisen hat. Mit ihrer zwischen die Nachbarhäuser eingebauten Hauptschiffanlage bis in das 12. Jahrhundert zurückreichend, trägt die Kirche in ihrer Außenerscheinung nur zu deutliche Spuren späterer Erweiterungsbauten zur Schau. Der gegen Ende des 15. Jahrhunderts jäh unterbrochene Turmbau der Kirche hat späterhin eine jener bizarren, mehrfach ausgeschweiften und von einem birnförmigen Knaufe überragten Bekrönungen erhalten, wie sie sich in der flandrischen Baukunst des 17. Jahrhunderts so großer Beliebtheit erfreuten. Das seitlich an die Kirche angebaute Ostschiff zeigt über seinen sechs Spitzbogenfenstern ebensoviele Dachwimpergen, deren durchbrochene Maßwerkgiebel von Fialen flankiert werden; in den Nischen dieser Giebeltürmchen sind (moderne) Standbilder der brabantischen Herzöge von Gottfried I. bis zu Johann II. aufgestellt. Über dem Südportale erblickt man eine im Jahre 1890 von Const. Meunier ausgeführte Reliefdarstellung der hl. Dreieinigkeit, über dem Portale des östlichen Querschiffs eine Marienkrönung von G. De Groot.

Höchst pittoresk wirkt das Innere dieser schon im Jahre 1134 gegründeten Kirche durch den vom Querschiffe aus besonders auffälligen, völlig unvermittelten Höhenunterschied zwischen der Hauptschiffanlage und dem Altarchore; dabei ist die hierdurch bedingte hohe Oberwand über dem Triumphbogen des Chores merkwürdigerweise gänzlich unverkleidet und ungenutzt geblieben, und der niedrige Altarchor selbst ist trotz seiner neun Rundbogenfenster nur mangelhaft belichtet. Bei einer im Jahre 1871 durch den Architekten Jamaer besorgten Restaurierung der Kirche erhielt der Chor einen neuen Altar romanischen Stiles; der früher hier befindliche große Barockaltar (angeblich von Rubens entworfen) ist jetzt in der Vorstadtkirche St. Josse-ten-Noode aufgestellt.

Zu beiden Seiten des Chores öffnen sich zwei Kapellenanbauten, rechts die Kapelle des hl. Kreuzes, links die (ursprünglich zweigeteilte) Kapelle des hl. Sakramentes und der hl. Magdalena. Die letztere Doppelkapelle enthält besonders wertvollen malerischen und bildnerischen Schmuck. Am Trennungspfeiler zwischen den beiden Bogenöffnungen dieser Kapelle erblicken wir zunächst das schöne Epitaph Karl Alexanders von Croy, des bekannten Höflings aus der Umgebung des Statthalterpaares Albrecht und Isabella von Österreich und Gemahles der berüchtigten Geneviève d'Urfé; das Ganze wird bekrönt von der marmornen Bildnisbüste dieses im Jahre 1624 durch einen mysteriösen Büchsenschuß getöteten Edelmannes. Die Wände der Kapelle sind mit imposanten, durch neutestamentliche Figurenszenen belebten Landschaftsmalereien der Rubens-Zeitgenossen Jacques d'Artois und Lukas Achtschellinck geschmückt. Außerdem findet man hier noch das etwas schwülstige Familienkenotaph der Grafen Philipp Hippolyt, Philipp Karl und Hyazinth Spinola von der Hand des Bildhauers Pierre Denis Plumier († 1721 in London) sowie an der Rückseite des oben erwähnten Eingangspfeilers eine 1834 von den Grafen Mérode Westerloo und Amédée de Beauffort gestiftete Gedächtnistafel zur Erinnerung an den im Jahre 1719 enthaupteten Bürgervorsteher Frans Anneessens, dessen Leichnam auf dem ehemaligen Friedhofe von Notre Dame de la Chapelle zur Ruhe bestattet worden war.

siehe Bildunterschrift

Abb. 92. Das Blindenhospiz (Photo Neurdein)

Die sehr engräumige Kapelle zur Rechten des Chores, deren Altar zur Aufnahme der im Jahre 1205 von Heinrich III. von Brabant der Kirche gestifteten Kreuzesreliquien errichtet wurde, erhielt durch den 1853 verstorbenen Brüsseler Maler Jean-Baptiste Van Eycken ihren freilich schon jetzt kaum mehr erkennbaren Freskenschmuck, darstellend die im Gebet knienden Fürstinnen Johanna von Brabant, Isabella von Österreich und Louise Marie von Orléans. Wie ich schon bei Besprechung der Kirche St. Jacques-sur-Coudenberg erwähnte, hatte die Neubelebung der Freskomalerei durch die deutschen Klassizisten und Nazarener seinerzeit in Belgien einen so begeisterten Widerhall geweckt, daß analoge Bestrebungen auch hier von Seiten der Verwaltungsbehörden und der höheren Gesellschaftskreise die wärmste Unterstützung fanden. Van Eycken war einer der eifrigsten Vorkämpfer dieser auf eine moderne Monumentalmalerei abzielenden Freskoschwärmerei und behauptete, ein gegen alle schädlichen Einflüsse der Witterung und der Zeit gesichertes Freskoverfahren gefunden zu haben. Die Ironie des Schicksals hat jedoch nur die von Van Eycken in Ölmalerei ausgeführten vierzehn Kreuzwegstationen (in den Schiffsräumen der Kirche) ihre ursprüngliche Farbenfrische behalten lassen!

siehe Bildunterschrift

Abb. 93. Leopold-Monument in Laeken (Photo Neurdein)

Von monumentaler Raumwirkung ist das Hauptschiff der Kirche, über deren zwölf zylindrischen, von achteckigen Basen aufsteigenden und mit reichen Laubwerkkapitellen bekrönten Tragsäulen eine Triforiengalerie entlang läuft. Die an diesen Hauptschiffsäulen aufgestellten, aus dem 17. Jahrhundert stammenden Apostelstatuen zeigen maßvollere Proportionen als diejenigen von Ste. Gudule. Die Kanzel ist ein künstlerisch wenig bedeutendes Holzschnitzwerk P. D. Plumiers und zeigt die Speisung des Propheten Elias durch den Engel Gottes.

In der dritten Kapelle des südlichen Seitenschiffes findet man das Epitaph des hier beerdigten großen Bauernmalers Pieter Brueghel des Älteren, errichtet von dessen Sohn Jan (dem sogenannten »Sammet-Brueghel«). Der jetzige Bildschmuck dieses Epitaphs, darstellend den Apostel Petrus als Empfänger des Schlüsselamtes aus den Händen Christi, ist leider nur eine mittelmäßige Kopie der Rubensschen Originalkomposition, die im Jahre 1765 verkauft worden war, 1899 im Besitze des Pariser Kunsthändlers Sedelmayer auftauchte und später von neuem in Verschollenheit geriet. Im Jahre 1676 hatte David Teniers das Grabmal seines großen Kunst- und Blutsverwandten restaurieren lassen. Auch von mehreren anderen dereinst hier vorhandenen Rubensgemälden ist der Kirche nichts erhalten geblieben, und abgesehen von einigen Andachtsbildern aus der späteren Rubensschen Schulnachfolge (Theodor van Thulden, Gaspard de Crayer, H. Declerck) sowie von einer guten Kopie nach Tizians »Darstellung im Tempel« und von einer verkleinerten Wiederholung von Jan Jouvenet's »Fischzug Petri« hat sie kaum noch irgendwelchen Gemäldeschmuck von höher künstlerischem Interesse aufzuweisen.

Kulturgeschichtlich interessant ist die in der schwarzen spanischen Modetracht des 17. Jahrhunderts dargestellte Madonnenfigur »Nuestra Señora de la Soledad«; das gleiche Kostüm (mit der berühmten »faille bruxelloise«) ist lange Zeit auch von Vlaemländerinnen getragen worden. Nicht minder beachtenswert ist auch die Madonnenfigur »Notre Dame de la Miséricorde«, eine buntfarbig bemalte Holzstatue aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die im ganzen Kirchspiele die höchste Verehrung genießt, und zu deren Füßen beständig zahlreiche Opferkerzen brennen.

Von den Grabdenkmälern der Kirche seien schließlich noch erwähnt: das schwarzmarmorne Epitaph des 1621 in der St. Hubertus-Kapelle beigesetzten Louis François Verreycken, Sekretärs des Erzherzogspaares Albrecht und Isabella von Österreich, – das auffällige, aus weißem und schwarzem Marmor zusammengefügte Grabmal des 1671 verstorbenen Charles d'Hovyne, Präsidenten des Rates von Brabant, – die Grabplatte für den 1822 hochbetagt verstorbenen Maler André Lens mit der für jeden Nicht-Brüsseler gewiß überraschenden Inschrift »régénérateur de l'art en Belgique« (der liebenswürdig begabte Kolorist, Schüler Pompeo Batonis, hatte seinerzeit den ersten Anstoß gegeben zur Befreiung der belgischen Künstler vom Zunftzwange bzw. zu dem diesbezüglichen Dekrete der Kaiserin Maria Theresia vom Jahre 1775), – der Gedenkstein für den 1844 in Rom verstorbenen belgischen Maler Jean Sturm, – sowie das Grabmal des Pfarrers Willaert, ein anmutiges Werk des Bildhauers Joseph Tuerlinkx (mit der Jahreszahl 1870 datiert).

siehe Bildunterschrift

Abb. 94. Notre-Dame de la Chapelle (Photo Neurdein)

Die Glasmalereien der Kirche sind sämtlich modern und nur von untergeordnetem Kunstwert (Darstellungen aus dem Marienleben, 1867 von J. van der Poorten ausgeführt).

Der Kirche gegenüber erblickt man das 1899 eingeweihte »Volkshaus«, eine nach den Plänen des Architekten Horta hoch emporgeführte Konstruktion aus Eisen und Glas.

siehe Bildunterschrift

Abb. 95. Parkportal am Kgl. Palais (Photo Neurdein)


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