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Die Kathedrale St. Michel et Ste. Gudule

Ursprünglich an der äußersten Stadtperipherie gelegen und fast direkt angelehnt an Brüssels ehemalige Befestigungsmauern, von denen noch heute interessante Reste in den Gärten der hinter dem Chorbaue der Kathedrale gelegenen Häuser vorhanden sind, nimmt die altehrwürdige Stiftskirche einen der höchst gelegenen Punkte des ganzen Stadtgebietes ein, – die Colline de Saint-Michel. Von der unregelmäßigen Steilheit dieses Hügelgeländes geben uns einen deutlichen Begriff die fünfunddreißig Stufen, die zum westlichen Hauptportale –, und die siebzehn Stufen, die zum Nordportale der Kirche emporführen, während dagegen das Südportal ohne jeden Stufenaufgang zugänglich ist.

Begonnen um das Jahr 1260, währte der Bau der Kirche länger als drei Jahrhunderte; die ganze Anlage präsentiert sich daher in ihren verschiedenen Bauteilen als ein in seiner kunstgeschichtlichen Vollständigkeit mustergültiges Konglomerat all der verschiedenen Baustile, die in diesem langen Zeitraume in stetem Wechsel einander ablösten Vergl. Schayes »Histoire de l'Architecture en Belgique, Bd. II, S. 143..

In der Gesamtwirkung und besonders auch in den massigen Konturen seiner mächtigen, 68 m hoch emporsteigenden Turmanlagen von ergreifend majestätischer Wucht der architektonischen Erscheinung, hat das ehrwürdige Bauwerk zugleich auch die höchsten Reize nach der Seite des pittoresk-dekorativen Effektes aufzuweisen, um die man es namentlich durch die späteren Anbauten mit so trefflichem Erfolg zu bereichern suchte.

In unserer Zeit ist die Kirche nach allen Seiten hin vollständig freigelegt worden. Von einem terrassenartigen neuen Vorplatze aus, zu dem eine breite und geradlinige Zufahrtstraße hinaufführt, steigt man zu ihren Portalen über eine mächtige, mit plastischen Bildwerken geschmückte moderne Freitreppenanlage empor, während gleichzeitig bequeme, mit vielarmigen Kandelabern besetzte Auffahrtrampen das alte Gotteshaus flankieren. In dieser Weise durch geschickte Hände neu montiert und über seine gesamte Umgebung hinausgehoben, ist das herrliche mittelalterliche Baudenkmal, wenn es von hellem Sonnenglanz umflutet wird, geradezu einem kunstvoll gefaßten kostbaren Juwel vergleichbar. In seiner monumentalen Größenwirkung dagegen dürfte es durch die Weiträumigkeit seiner jetzigen Umgebung eher beeinträchtigt worden sein, – eine Tatsache, die man seither noch fast bei jeder »Freilegung« alter Kirchenbauten hat konstatieren müssen.

Die geschichtliche Zeitfolge, in der die einzelnen Bauteile der Kathedrale aufgeführt wurden, läßt sich aus deren besonderem Stilcharakter mit Sicherheit feststellen. Der Altarchor, das Querschiff, das südliche Seitenschiff und die Arkaden des Mittelschiffes datieren aus dem 13. Jahrhundert, das nördliche Seitenschiff sowie die Gewölbe und Fenster des Mittelschiffes aus dem 14. bis 15. Jahrhundert, die beiden Westtürme erst aus dem Ende des 15. Jahrhunderts. Von den beiden Seitenkapellen stammt die nördliche aus dem 16., die südliche sogar erst aus dem 17. Jahrhundert, und die gleich ihnen erst später noch angebaute Apsiskapelle war im Jahre 1673 vollendet. In den Jahren 1848-1856 vom älteren Suys sorgfältig restauriert und 1861 mit der großen Terrassen- und Freitreppenanlage vor der Westfront versehen, erhielt die Kirche schließlich im Jahre 1909 noch einen neuen Sakristeianbau.

Prächtige doppelte Strebebögen stützen die Mauern und Wölbungen des Mittelschiffes, dessen durchbrochen ornamentierte äußere Gesimsgalerie in ihrem an ein K erinnernden Ornamentmotiv nach Schayes' etwas gesuchter Hypothese auf Karl von Burgund oder Karl von Österreich als die Vollender des Mittelschiffbaues hindeuten soll. Die seitlichen Portalvorhallen sind moderne Anbauten.

Die Maßverhältnisse des ganzen Bauwerkes sind so ungeheuere, daß man kaum begreifen kann, wie zu Anfang des 13. Jahrhunderts eine Stadt von der geringen Ausdehnung des damaligen Brüssel mit einem derartig mächtigen Kirchenbaue bedacht werden konnte. Der Anblick des Kircheninneren ist geradezu überwältigend und von einer Tiefe des Erinnerungseindrucks, wie ihn nur wenige Kirchen in den Gemütern ihrer Besucher hinterlassen werden. Die nirgends durch Bemalung verdeckte natürliche Felsfarbe der gesamten riesigen Steinkonstruktion verleiht diesem Kircheninneren einen Ernst des Stimmungscharakters, der selbst durch die Überladung mit dekorativem Detailwerk in keiner Weise gestört wird.

Einen Architektureindruck von seltener Pracht bietet namentlich der Blick von dem weiträumigen, 108 m langen Mittelschiffe in den Hochaltarchor mit seinen zylindrischen Säulen, deren Laubwerkkapitelle die mächtigen Spitzbögen des frühgotischen Chorumganges tragen, – seinen gewaltigen Spitzbogenfenstern, deren herrliches Maßwerk die kunstreichsten Verflechtungen aufweist, – und seinen farbenprächtig bemalten Glasfenstern, die den ganzen Chorraum mit einer reichen und doch mystisch gedämpften Lichtflut erfüllen. Die alten Glasmalereien dieser fünf Spitzbogenfenster des Altarchores glaubte man früher dem Meister Rogier van der Weyden zuschreiben zu können, eine Annahme, deren Irrtümlichkeit schon aus den viel späteren Lebenszeiten der auf diesen Glasgemälden dargestellten Persönlichkeiten – Maximilians von Österreich und der Maria von Burgund, Philipps des Schönen und der Johanna von Kastilien, Kaiser Karls V. und seines Bruders Ferdinand, Philipps II. und der Maria von Portugal, Philiberts von Savoyen und der Margarethe von Österreich – ohne weiteres ersichtlich wird. Wohl aber scheint dem Meister Rogier das Hochchorinnere der Brüsseler Kathedrale selbst als direktes Vorbild gedient zu haben für den Architekturhintergrund seiner berühmten Triptychondarstellung der »Sieben Sakramente«, die er seinerzeit für die Kathedrale von Tournai gemalt hat, und die jetzt im Museum zu Antwerpen aufbewahrt wird. Das Chorgestühl von St. Gudule befand sich ursprünglich in der Abtei Forest.

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Abb. 26. Ste. Gudule. Vorderansicht (Photo Neurdein)

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Abb. 27. Ste. Gudule. Südliche Seitenansicht (Photo Neurdein)

An Fürstengräbern beherbergt der Chorraum diejenigen des Herzogs Johann II. von Brabant († 1312) und seiner Gemahlin Margarethe von York, – Antons von Burgund († 1431), Sohn Philipps des Guten, – des Generalstatthalters Ernst von Österreich († 1595) und anderer Fürsten und Fürstinnen; auch Prinz Ludwig, der im Jahre 1834 jung verstorbene älteste Sohn König Leopolds I., wurde hier zur Ruhe bestattet. Die zu beiden Seiten des Chores sichtbaren Grabmäler des Herzogs Johann II. und des Erzherzogs Ernst wurden auf Kosten des Erzherzogs Albrecht von Österreich errichtet. Die marmorne Grabfigur des Erzherzogs Ernst, der hier in voller Waffenrüstung ruhend, das gekrönte Haupt auf die eine Hand stützend dargestellt ist, schuf der berühmte Antwerpener Bildhauer Robert de Nole, und zwar wahrscheinlich nach einer Entwurfzeichnung des Malers Josse de Beckberge. Der Künstler, der für das Grabmal Herzog Johanns II. die 3000 kg schwere Löwenfigur aus vergoldetem Kupfer anfertigte, hieß nicht Jérôme de Montfort, wie die Reiseführer in der Regel angeben, sondern nach dem Wortlaute der mit der Jahreszahl 1610 datierten Signatur Jean de Montfort. Dieser auch sonst wohl bekannte Bildhauer war Kammerherr am Hofe der österreichischen Erzherzöge und befreundet mit Rubens und van Dyck; ein von letzterem gemaltes wundervolles Bildnis Jean de Montforts befindet sich im kunsthistorischen Hofmuseum zu Wien.

Die Sakramentskapelle auf der Evangelienseite (zur Linken des Chores) wurde im Jahre 1539 zur Glorifizierung eines Hostienwunders errichtet Nach dieser Wunderlegende sollte im Jahre 1370 geweihten Hostien, die aus der Brüsseler St. Katharinenkirche entwendet und von Juden durch Dolchstiche geschändet worden wären, Blut entquollen sein. Zahlreiche Juden wurden daraufhin zu jener Zeit getötet bezw. aus Brüssel verjagt.. Ihren Hauptschmuck bilden vier riesige Glasfenster, die 1546-1547 von Jean Haeck (nach Entwürfen Bernard van Orley's und Michel Coxcie's) mit Darstellungen verschiedener Episoden aus jener Wunderlegende bemalt wurden. Die Stifter dieser grandiosen Glasgemälde waren Kaiser Karl V., sein Bruder Ferdinand und seine Schwäger König Franz I. von Frankreich, König Ludwig von Ungarn und König Johann III. von Portugal; die Porträts der vier letzteren Fürsten und ihrer Gemahlinnen dienen den vier Glasfenstern paarweise als Sockelbilder. Das Mittelfenster der Kapelle, eine moderne Arbeit von der Hand des Glasmalers Jean-Baptiste Capronnier (1848), zeigt als Sockelbilder die Porträts Karls V. und seiner Gemahlin Isabella von Portugal und als Hauptdarstellung die den ganzen Bilderzyklus sinnvoll abschließende Anbetung des Gotteslammes und der geweihten Hostien.

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Abb. 28. Ste. Gudule. Hauptschiff (Photo Neurdein)

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Abb. 29. Ste. Gudule. Gemaltes Fenster mit Ludwig und Maria von Ungarn (Photo Neurdein)

Das unter diesem Mittelfenster aufgestellte, gleichfalls moderne Altarwerk der Sakramentskapelle ist eine tüchtige Schnitzarbeit der Gebrüder Goyer in Loewen. Im Chorraume der Kapelle ruhen die irdischen Reste des Erzherzogpaares Albrecht und Isabella und des Generalstatthalters Prinzen Karl Alexander von Lothringen, deren Grabstätten jedoch durch keinerlei Denkmalschmuck ausgezeichnet wurden. Um so pomphaftere Mausoleen bezeichnen dafür die Ruhestätten des im Jahre 1673 verstorbenen Conseilpräsidenten Roose und seines Enkels Pierre sowie verschiedener anderer hier beigesetzter Persönlichkeiten. Besondere Beachtung verdient neben dem Epitaph der berühmten Mathematikerin Lucrezia de Grobbendonck (1570-1617) dasjenige der Familie Schotte (oder Schotti) an einem der Stützpfeiler dieser Kapelle, von dem auch das eine Dame dieser Familie darstellende, jetzt in England befindliche van Dyck-Porträt herstammte, das im Jahre 1899 in der Antwerpener Van Dyck-Ausstellung zu sehen war. Die an den Wänden der Kapelle unter reichen Baldachinbekrönungen aufgestellten Heiligenstatuen gehören mit zu den reizvollsten Bildwerken dieser Art, die überhaupt noch in Belgien vorhanden sind.

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Abb. 30. Ste. Gudule. Gemaltes Fenster mit Karl V. und Isabella von Portugal (Photo Neurdein)

Die 1649-1653 erbaute, der »Notre-Dame de la Délivrance« geweihte südliche Seitenkapelle des Domchores, deren Altarstatue der Madonna von Lourdes eine so ingeniös kombinierte seitliche Belichtung erhalten hat, ist ebenfalls mit wunderbar farbenprächtigen Glasgemälden ausgestattet, die im Jahre 1656 vom Antwerpener Glasmaler Jean de la Barre ausgeführt wurden nach den vom glänzenden Rubensschüler Theodor van Thulden entworfenen Kartons (deren vier im Brüsseler Kunstgewerbemuseum noch jetzt vorhanden); geschmückt mit den Bildnisdarstellungen des Erzherzogspaares Albrecht und Isabella und des Erzherzogs Leopold Wilhelm sowie des Kaisers Ferdinand III. mit seiner Gemahlin Eleonora und des Kaisers Leopold I., dürften dies wohl die schönsten vlaemischen Glasmalereien sein, die in dieser Spätzeit noch entstanden sind. Schon so manchem Maler hat diese Kapelle als Studienraum für koloristisch reizvolle Interieurdarstellungen gedient. Besonders zu empfehlen ist eine Besichtigung der Kapelle in den Morgenstunden, da zu dieser Zeit die Glasgemälde ihren höchsten Farbenzauber entwickeln.

Auch diese Kapelle beherbergt mehrere künstlerisch wertvolle Grabmonumente, so namentlich diejenigen des in den belgischen Revolutionskämpfen gefallenen Grafen Frédéric de Mérode (von Guill. Geefs) und seines Bruders, des im Jahres 1857 verstorbenen Staatsmannes Félix de Mérode (von Ch. A. Fraikin). Außerdem sieht man hier auch ein bedeutendes Ölgemälde von F. J. Navez, einem Schüler des Franzosen J. L. David, der in diesem Künstler den eifrigsten Verfechter seiner klassizistischen Kunstweise in Belgien gefunden hat. Das Bild stellt die Himmelfahrt der Jungfrau Maria dar und ist zu den besten Werken jenes belgischen Klassizisten zu rechnen.

Die im 17. Jahrhundert an den Hochchor der Kathedrale angebaute barocke Apsidialkapelle der heiligen Maria Magdalena endlich birgt in ihren Mauern ein aus der Klosterkapelle der Abtei de la Cambre stammendes großartiges Altarwerk aus weißem Marmor.

Wenn keine andere Kirche Belgiens einen auch nur entfernt ähnlichen Reichtum an Glasmalereien aufzuweisen hat wie Ste. Gudule, so ist diese Brüsseler Hauptkirche dafür um so ärmer an Werken der höheren Malkunst.

Im Querschiff der Kirche haben zwei umfangreiche Triptychongemälde Aufstellung gefunden, deren Schöpfer Michel Coxcie sich großer Beliebtheit erfreute und vom König Philipp II. auch mit der Herstellung einer Kopie des die Anbetung des Gotteslammes darstellenden Mittelbildes aus dem berühmten Genter Altarwerke der Gebrüder van Eyck betraut wurde. Unsere beiden Querschifftriptychen, auf denen man die Kreuzigung Christi und die Legende der heiligen Gudula dargestellt sieht, hat der langlebige Künstler erst in seinem zweiundneunzigsten Lebensjahre vollendet.

Vor allem aber wird im Querschiff der Kathedrale die Aufmerksamkeit des Besuchers wiederum durch die beide Kreuzarme abschließenden riesigen Glasfenster gefesselt, auf denen in äußerst reichen Ornamentumrahmungen Kaiser Karl V. mit seiner Gemahlin Isabella von Portugal und des Kaisers Schwester Maria mit ihrem Gemahl, dem in der Schlacht von Mohács getöteten König Ludwig von Ungarn, dargestellt sind.

Das Glasgemälde über dem Sängerchore der westlichen Portalfront mit der Darstellung des Weltgerichts wurde im Jahre 1528 von dem Lütticher Bischof Eberhard von der Marck gestiftet, dessen Bildnis und Adelswappen der Glasmaler Jacques Floris, ein nur durch ganz wenige Arbeiten bekannt gewordener Bruder des berühmteren Frans Floris, dort gleichfalls mit angebracht hat.

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Abb. 31. Die Kanzel in Ste. Gudule (Photo Neurdein)

Betreten wir nunmehr vom Querschiffe aus die dreischiffige Haupthalle der Kathedrale, so begegnen wir unter dem ersten Fenster des südlichen Seitenschiffes, das König Leopold I. zum Andenken an seine im Jahre 1850 verstorbene Gemahlin Louise von Orleans mit Glasmalereien schmücken ließ, zunächst einem prächtigen Marmorgrabmale von der Hand des Bildhauers Eug. Simonis, das im Jahre 1846 zu Ehren des Abbé P.-J. Triest errichtet wurde, des Begründers und Wohltäters der Brüsseler Armenschulen.

Die berühmte Predigtkanzel der St. Gudulakirche, ein Werk des Bildschnitzers Henri Verbrugghen vom Jahre 1699, befand sich ursprünglich in der Jesuitenkirche zu Loewen und wurde erst 1776, nach Aufhebung des Jesuitenordens, auf Veranlassung der Kaiserin Maria Theresia in die Brüsseler Kathedrale übergeführt. Verbrugghen, ein geschickter, aber allen Stilverirrungen des Barockzeitalters huldigender Künstler, hat als bildnerisches Sockelmotiv für diese Kanzel die Darstellung der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradiese gewählt und hat damit ein seiner Berühmtheit vollauf würdiges Wunderwerk der realistischen Schnitzkunst geschaffen; über dem das Kanzeldach bildenden »Baum der Erkenntnis« schwebt die Mutter Maria mit dem Christkinde. Die gleichfalls vorzüglich gearbeiteten Treppenbalustraden der Kanzel mit ihren vielgestaltigen Tierfiguren sind erst im Jahre 1780 hinzugekommen, und zwar verdanken sie ihre Entstehung der Hand des Bildschnitzers van der Haeghen.

Wie in so vielen Kirchen Vlaemlands sind auch hier die Pfeiler des Mittelschiffes mit Kolossalstatuen der Apostel geschmückt, die als Stiftungen freigebiger Pfarrkinder bezeichnenderweise einander zu überbieten suchen an imponierender Wucht der äußeren Erscheinung. Als Schöpfungen einiger der berühmtesten Bildhauer des 17. Jahrhunderts – eines Jérôme Duquesnoy, Luc Fayd'herbe, Jean van Mildert – spiegeln sie in ihrem Stilcharakter unverkennbar den Einfluß des großen zeitgenössischen Malers Peter Paul Rubens wieder.

Merkwürdigerweise sind die beiden Seitenschiffe der Kathedrale in ihrem architektonischen Detail nicht vollkommen symmetrisch durchgebildet, da die Deckenwölbung des südlichen Seitenschiffes von quadratisch basierten Pfeilern, diejenige des nördlichen Seitenschiffes dagegen von prismatischen Pfeilerbündeln getragen wird. Von den zum Hochchore emporführenden Terrassenstufen aus gesehen, muß daher das von ungleichmäßigen Pfeilerreihen flankierte Mittelschiff auf das Auge des Beschauers eine etwas disharmonische Wirkung ausüben. Gleichwohl bleibt die St. Gudulakathedrale eines der majestätischsten kirchlichen Baudenkmäler Belgiens, das in jedem seiner in den verschiedenen Stilepochen nacheinander entstandenen Bauteile Schönheiten ersten Ranges aufzuweisen hat, in seinem frühgotischen Hochchore aber (mit dem noch romanisierenden Chorumgange) geradezu ein Meisterstück mittelalterlicher Kirchenbaukunst dem Kennerauge darbietet.

Das materiell wertvollste Stück des reichen Domschatzes von St. Gudule ist ein großartiges Ostensorium, das im Jahre 1837 von der Familie d'Arenberg gestiftet und von einem Prager Goldschmiede für die Summe von mehr als 25 000 Francs in Edelmetall ausgeführt wurde. Die kleine, mit Diamanten besetzte goldene Barke, die in die Bekrönung dieses Ostensoriums eingefügt ist, wurde im Jahre 1843 von der Herzogin von Arenberg gestiftet als Ersatz für ein durch Diebstahl verloren gegangenes Votivschiffchen, das der heiligen Gudula ehedem von Matrosen geweiht worden war. Verhältnismäßig arm ist der Domschatz an Edelmetallarbeiten von spezifisch künstlerischem oder kunstgeschichtlichem Interesse. Ein Ausnahmestück ist in dieser Hinsicht ein vom Erzherzogspaare Albrecht und Isabella gestiftetes Kreuzesholzreliquiar. Selbst in Kreuzform gebildet und vermutlich aus dem 10. oder 11. Jahrhundert stammend, zeigt es auf der Vorderseite eine in angelsächsischen Schriftzügen eingravierte Inschrift, wonach es zum Ruhme Christi von Aethlmer und Athelwold dem Seelenfrieden ihres Bruders Aelfric geweiht wurde; die Inschrift auf der Rückseite des Kreuzes besagt dagegen nach Logeman Le reliquaire etc. de SS. Michel et Gudule à Bruxelles (Mém. de l'Acad. Royale de Belgique 1891). soviel wie »Drahmalme hat mich gemacht«. Die vier Kreuzesarme dieses in jeder Hinsicht hochinteressanten Reliquiars tragen auf der Rückseite die eingravierten Embleme der vier Evangelisten zur Schau. Neben dem mit Diamanten besetzten Kreuzesreliquiare, das dereinst die Wunderhostien vom Jahre 1370 in seinem Inneren geborgen haben soll, und neben den silbervergoldeten Ampeln, mit denen an den hohen kirchlichen Festtagen der Sakramentsaltar der Kathedrale geschmückt wird, enthält der Domschatz schließlich noch eine Reihe prunkvoller, aber erst verhältnismäßig spät entstandener Priesterornate.

Treten wir nach dieser eingehenden Besichtigung der Brüsseler »Collégiale« durch das Nordportal der Kirche wieder ins Freie hinaus, so erblicken wir vor uns den Riesenpalast der Banque Nationale, einen der ersten, wenn nicht überhaupt den allerersten jener im Louis Seize-Stile gehaltenen Neubauten, wie sie seitdem in so großer Anzahl in Brüssel aus dem Boden gewachsen sind. Errichtet im Jahre 1865 nach den Bauplänen der Architekten H. Beyaert und Wynand Janssens, hat dieser ebenso pompöse wie geschmackvolle Bankpalast trotz seiner nur eingeschossigen Fassadenanlage ganz gewaltige Maßverhältnisse aufzuweisen. Die, wie gesagt, im Louis Seize-Stile durchgeführte plastische Ornamentierung des Baues war den vorzüglichen französischen Bildhauern Mongeon und Houtstont anvertraut, von denen der erstere noch vor der Vollendung des Baues der Kunst durch den Tod entrissen wurde, der letztere dagegen sich für immer in Brüssel niederließ, wo er seitdem eine Schar der trefflichsten belgischen Ornamentplastiker herangebildet hat. Übrigens war dieser Bau der erste in Brüssel, bei dem die Ornamentskulpturen – im Gegensatze zu der bis dahin in Belgien allgemein üblichen Praxis – aus der roh aufgeführten Steinfassade ausgehauen wurden. Die äußerst praktische Innenanlage dieses Bankpalastes inaugurierte in Brüssel fernerhin das System der großen Geschäftshallen mit ihren durch Glaswände vom Publikum abgetrennten Reihen von Zahlschaltern.

Gegenüber der erst neuerdings an die Chorrückseite der St. Gudulakirche angebauten Sakristei erblickt man einige alte Häuserfassaden, die schon auf den Stadtansichten des 17. Jahrhunderts an diesem Platze wahrzunehmen sind. Das zu dieser Häuserreihe gehörende alte Pfarramt war mit seiner Rückfront ehedem fast direkt an die älteste Stadtmauer Brüssels angelehnt, deren letzte Reste im alten Pfarrgarten pietätvoll konserviert werden. Wie bereits erwähnt wurde, bildete die St. Gudulakirche im Mittelalter einen der äußersten Marksteine des nördlichen Stadtgebietes.

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Abb. 32. Die Kongreß-Säule, Rückansicht

Durch die Rue de Ligne, die von der Rue de la Montagne de l'Oratoire – mit interessanter, wohl erhaltener Barockfassade aus dem 17. Jahrhundert – gekreuzt wird, gelangen wir zu der Place du Congrès, einem 90 m langen und 50 m breiten rechteckigen Platze, der mit der an ihm vorüberführenden Rue Royale durch zwei Auffahrtrampen und eine Treppenanlage verbunden ist. Eine mit Kandelabern geschmückte halbkreisförmige Balustrade umzieht das erhöhte Plateau dieses Platzes, der seinen Besuchern einen wundervollen Fernblick darbietet, und aus dessen Gartenanlagen eine hohe Denksäule aufragt, die zur Erinnerung an den Nationalkongreß von 1831 und die durch ihn geschaffene belgische Staatsverfassung errichtet wurde. Die Pläne zur Gesamtanlage des Platzes und zu ihren Rampen- und Treppenaufgängen entwarf der Architekt Cluysenaar (1811-1880), diejenigen zu den großen seitlichen Häuserfronten und zur Denksäule selbst der Architekt J. Poelaert (1816-1879), dessen Name auch mit einer der grandiosesten Bauschöpfungen des 19. Jahrhunderts überhaupt, dem Brüsseler Justizpalaste, zu dauerndem Ruhme verknüpft ist.

Der Grundstein zur »Colonne du Congrès«, die ihre künstlerische Gestaltung einem im Jahre 1850 eröffneten Wettbewerbe verdankt, wurde vom König Leopold I. am 14. September desselben Jahres gelegt, ihre Enthüllung erfolgte durch denselben Monarchen am 25. September 1859. Von den beiden preisgekrönten Entwürfen des Antwerpeners J. Dens und des Brüsselers J. Poelaert erhielt schließlich derjenige des letzteren den Vorzug. Bekrönt durch das von Guill. Geefs (1806-1883) modellierte Bronzestandbild des ersten Königs der Belgier, ist die 46 m hohe Denksäule an ihrer Basis von vier allegorischen Bronzestatuen umgeben, in denen die durch die Konstitution von 1831 garantierten Volksfreiheiten symbolisiert sind: die Freiheit der Religionskulte, die Freiheit des Assoziationsrechtes, die Freiheit des Unterrichts und die Freiheit der Presse. Die Modelle zu diesen vier Bronzestatuen lieferten die Bildhauer Fraikin, Jos. Geefs und E. Simonis. Der letztere schuf außerdem noch das Hochrelief mit der Darstellung der Vereinigung der belgischen Provinzen unter den Fittigen des Schutzgeistes Belgiens, ebenso auch die schönen, als Wächter dieses Freiheitsmonumentes gedachten Bronzelöwen. Am Sockel der Denksäule liest man die in den Marmor eingemeißelten Namen der Mitglieder der provisorischen Regierung und diejenigen der Schöpfer der Staatsverfassung, deren Wortlaut hier schließlich gleichfalls in unvergänglicher Marmorinschrift verewigt ist. Das ganze Monument ist ebenso durch Klarheit der geistigen Konzeption wie durch Vornehmheit der künstlerischen Gestaltung ausgezeichnet.

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Abb. 33. Die Kirche Sainte-Marie (Photo Neurdein)

Der Rundblick vom Kongreßplatze und noch mehr derjenige vom oberen Rundgange der Kongreßsäule umfaßt einen außerordentlich weiten Horizont: Von der grünenden Pracht des vom Denkmale König Leopolds I. überragten Laekener Schloßparkes an schweift das Auge nordwärts weit hinaus bis zum blinkenden Silberbande des Kanals von Willebroeck und hinweg über weitgedehnte, vom Nordbahngeleise und vom Sennelaufe durchschnittene Fluren hinüber bis zum massigen Mechelner Domturme von St. Romuald; ja bei besonders klarem Wetter kann man sogar die Spitze des Antwerpener Notre Dame-Turmes über den äußersten Horizont heraufragen sehen! – Westwärts gewahrt man einen in vollkommen sphärischer Rundung vom Himmel sich abhebenden Baumwipfel, den sogenannten »arbre ballon« des Volksmundes; die Gelehrten haben diesen Baum »l'arbre de Ferraris« getauft nach dem berühmten österreichischen Ingenieur Ferraris (1726-1814), dem der »Ballonbaum« als einer der Hauptorientierungspunkte bei seinen Triangulationsmessungen zur Aufstellung des Brüsseler Vermessungsplanes diente. – Ostwärts zieht direkt zu Füßen der Kongreßsäule in nord-südlicher Richtung die breite Rue Royale vorüber, an deren Nordende die grandiose Kuppel der Schaerbeeker Marienkirche über einem prächtigen Häuserhorizonte sich gen Himmel wölbt, während in kürzerer Entfernung die vornehmen Konturen des großen Gewächshauses des Botanischen Gartens sich abzeichnen. – Südwärts endlich erhebt sich in der Verlängerung des von langen Reihen üppiger Wohnpaläste flankierten Prachtstraßenzuges der Rue Royale der babylonische Steinkoloß des Justizpalastes. – Der gesamte Rundblick der Kongreßsäule bietet dem Auge jedenfalls ein wahrhaft imponierendes Großstadtbild, das von dem blühenden Reichtum der belgischen Kapitale wie von der erstaunlichen Tatkraft ihrer Bewohner in glänzendster Weise Zeugnis ablegt. Daß der Kongreßplatz selbst schon einen der höchst gelegenen Punkte des hügeligen Stadtgeländes repräsentiert, erhellt daraus, daß er noch um mehr als 12 m über das Niveau des angrenzenden Marché du Parc hinausragt, und daß man zu diesem unteren Platze über eine 82 Stufen hohe und im ganzen 40 m breite monumentale Treppen- und Terrassenanlage hinabzusteigen hat. Dieses prächtig dekorative Ensemble bildet einen integrierenden Bestandteil des im Jahre 1850 von Cluysenaar zur Regulierung dieses Hügelgeländes entworfenen Planes, entspricht jedoch seiner Bestimmung insofern nur in unvollkommener Weise, als die an der Place du Marché du Parc gelegenen schlichten Häuserquartiere, denen diese Freitreppenanlage den direkten Zugang zur Rue Royale eröffnen sollte, mit der Monumentalität dieses Terrassenaufbaues in der Tat nur wenig im Einklang stehen.

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Abb. 34. Die Rue de la Loi (Photo Neurdein)


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