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Brüsseler Spitzendecke (Teilstück)

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Abb. 1. Brüssel mit seiner Kathedrale (Photo Neurdein)

Obwohl die Hauptstadt Belgiens weder ihrer Bevölkerungsziffer noch ihrer Flächenausdehnung nach den Metropolen der europäischen Großstaaten an die Seite gestellt werden kann, ist sie doch eine der schönsten, frohest belebten und darum meist besuchten Kapitalen unseres Erdteils. Seiner bevorzugten Lage, seinen herrlichen Promenadenanlagen, seinen majestätischen Monumentalbauten, seinen kostbaren Kunstsammlungen und seinen weit berühmten wissenschaftlichen Instituten verdankt Brüssel eine Anziehungskraft, die ihm mit einem ununterbrochenen Fremdenzustrom auch die dauernde Gunst seiner Besucher sichern muß.

Nach allen Himmelsrichtungen umgeben von volkreichen Vororten, die ohne jede sichtbare Grenzlinie in das Häusermeer der Stadt selbst übergehen, beherbergt Brüssel – mit Einschluß jener Vororte – eine Bevölkerungsmasse von etwa 600 000 Seelen; dabei zählt jedoch die eigentliche Stadtgemeinde von Brüssel selbst noch nicht ganz 200 000 Seelen. Diese Anomalie der stadtrechtlichen Verhältnisse ist um so auffälliger, da ja die einstigen Festungswälle der Stadt schon vor mehr als hundert Jahren geschleift wurden und das einzige davon übrig gebliebene Stadttor seine Erhaltung lediglich dekorativen Rücksichten zu verdanken hat. Die » Porte de Hal«, der südliche Endpunkt des eigentlichen Stadtbezirkes, ist in Wirklichkeit der letzte Rest der Stadtummauerung vom Jahre 1379, deren einstiger Verlauf sich nach demjenigen des im Jahre 1810 auf ein Napoleonisches Dekret hin angelegten Boulevardringes noch heute ganz genau verfolgen läßt.

Von der ältesten Stadtbefestigung, die sogar schon im 11. Jahrhundert – nach genauerer Angabe im Jahre 1040 – entstanden war, werden noch jetzt von Zeit zu Zeit interessante Spuren aufgefunden; zwischen parasitären alten Häuseranbauten versteckt, kommen derartige früheste Mauerreste bei Gelegenheit von Abbruchsarbeiten hie und da noch immer neu zutage. Auf diese Weise wurde z. B. der sogen. » Schwarze Turm« in der Nähe der alten St. Katharinenkirche wieder aufgedeckt. Als typisches Beispiel mittelalterlicher Festungsarchitektur verdient dieses interessante und ehrwürdige Bauwerk, das im Jahre 1895 auf Stadtkosten restauriert wurde, in seiner zweistöckigen, von einem Zackengesimse und einem Kegeldache bekrönten Anlage die Beachtung jedes Altertumsforschers. Der beredteste Zeuge dieser ältesten Stadtbefestigung ist jedoch an der Rückfront eines Hofes in der Rue Steenpoort (No. 6) in hervorragend gutem Zustande erhalten geblieben, und zwar ist dies ein Turm oder richtiger gesagt ein Donjon, der bis um die Mitte des 18. Jahrhunderts als Gefangenenverließ gedient hat und noch bis vor wenigen Jahren zahlreiche Haushaltungen beherbergte. Die erstaunliche Dicke des Mauerwerkes bietet uns die natürliche Erklärung für die Dauerhaftigkeit seines Bestehens. In diesem Turme soll der Überlieferung zufolge der Zunftvorsteher Frans Anneesens im Jahre 1719 eingekerkert gewesen sein, jener wackere Volkstribun, der sein energisches Eintreten für die Privilegien der Handwerkerzünfte unter dem damaligen österreichischen Regime schließlich auf dem Schafott büßen mußte. Die dem altehrwürdigen Bauwerke als Lichtöffnungen dienenden Spitzbogenfenster sollen nach Ansicht der Kunstarchäologen die ältesten in Belgien vorhandenen Beispiele des gotischen Baustiles sein.

Die im 14. Jahrhundert eintretende Bevölkerungszunahme Brüssels hatte zur Folge, daß die Südgrenze der Stadt bis zur Porte de Hal hinausgeschoben werden mußte, sodaß also das Stadtgebiet damals um das ganze Siedelungsgebiet der heutigen Rue Haute, einen der volkreichsten Stadtteile Brüssels, erweitert wurde. Unter Kaiser Karl V. wurde aus strategischen Rücksichten eine Wiederverengung des Stadtgebietes in Erwägung gezogen. Die Flächenausdehnung Brüssels betrug im Mittelalter etwas über 877 Hektare; in neuester Zeit beläuft sie sich auf noch nicht ganz 1071 Hektare.

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Abb. 2. Der »Schwarze Turm«

Während andere Großstädte ihre Zunahme an monumentaler Bedeutung in der Regel mit einer erheblichen Einbuße an malerischem Reiz bezahlen mußten, hat dagegen Belgiens Hauptstadt unter weiser Berücksichtigung aller zu ihrer monumentalen Verschönerung beitragenden Umstände ihrem Stadtbilde den Originalstempel ihrer entstehungsgeschichtlichen Vergangenheit sehr wohl zu wahren gewußt. Dieser zielbewußten Erhaltung seiner charakteristischen historischen Eigenart aber hat Brüssel meiner Ansicht nach einen besonders wesentlichen Teil seiner Anziehungskraft auf das internationale Reisepublikum zu verdanken. In der Tat werden nur ganz wenige Städte eine gleich erfreuliche Abwechselung in der architektonischen Physiognomie ihrer Straßenzüge aufzuweisen haben, und kaum anderswo wird die Privatarchitektur in gleich erfolgreichem Geschmacksstreben von Banalitäten sich fern gehalten haben.

Die im allgemeinen nur mäßige Höhe der Privatbauten steht in einem normalen Verhältnis zur Breite der einzelnen Straßen, während durch die Gunst der Bodenverhältnisse dem Auge hie und da weit reichende Umblicke ermöglicht werden. Nimmt man dazu die Mannigfaltigkeit der Geschmacksrichtungen, die in den Fassadenanlagen der Privatbauten in freier Konkurrenz zur Geltung gelangten, so muß sich aus dem Zusammenwirken derartig gegensätzlicher Faktoren ein trotz des Fehlens imposanter Masseneffekte höchst wohltuender Reichtum des Stadtbildes ergeben, der weit entfernt ist von jener Kälte der ästhetischen Wirkung, wie sie in den Riesenmetropolen der europäischen Großstaaten als Folge einseitiger Baustilvorschriften sich so leicht unangenehm fühlbar macht. Durch die freie Initiative seiner Architekten ist Brüssel vor derartigen Mißgriffen bewahrt geblieben.

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Abb. 3. Turm von der ältesten Stadtbefestigung

Von der weit zurückreichenden historischen Vergangenheit Brüssels erhalten wir schon genügend überzeugende Kunde durch das prächtige Rathaus und durch die imposante dem Andenken der Heiligen Michael und Gudula geweihte Kathedrale. Im Mittelalter in häufiger Wiederkehr Residenz der Herzöge von Brabant und später der Herzöge von Burgund, wurde Brüssel bereits durch Kaiser Karl V. zur Landeshauptstadt erhoben, die sich dann der ganz besonderen Vorliebe dieses Weltherrschers – eines Belgiers von Geburt – erfreuen durfte und schließlich, im Jahre 1555, sogar den weltgeschichtlich bedeutsamen Akt der Thronentsagung des Kaisers in ihren Mauern sich abspielen sah. In der Folgezeit war Brüssel in nicht minder häufiger Wiederkehr der Regierungssitz der Fürsten aus dem Hause Österreich, Philipps II. von Spanien wie des Erzherzogs Albrecht und seiner Gemahlin Isabella, ebenso weiterhin die Residenz aller Generalstatthalter bis zum Zeitpunkte der Besetzung Belgiens durch die Franzosen.

Im 16. Jahrhundert belegte man die durch ihre vornehme Schönheit weithin bekannte belgische Kapitale gern mit dem ehrenden Beinamen » La Noble«, und in Guichardins 1567 im Druck erschienener » Descrittione di tutti i Paesi Bassi« findet sie sich als »ein zur Hofhaltung und Residenz eines grossen Monarchen geradezu prädestinierter Ort« aufgeführt. »Man sieht dort« – so schreibt Guichardin – »eine Menge großer Herren, hoher Potentaten und vornehmer Edelleute, die durch ihre Anwesenheit und ihre stolzen Karossen der Stadt zur Zierde gereichen.« Nach Ausweis der im 17. Jahrhundert angefertigten Stadtpläne besaß Brüssel schon damals weiträumige Straßen und brunnengeschmückte Plätze, – Großstadtcharakteristika, die auch in jenen früheren Zeiten nicht verfehlen konnten, alle Reiseliebhaber anzuziehen. » Fontium copia, coeli amoenitate et aedificiorum splendore nobilissima« – durch solche Vorzüge lockte nach Angabe der alten Lokalautoren das »noble« Brüssel die Fremden in seine Mauern. Auch wurde das Auge des Besuchers der Stadt besonders erfreut durch die Gartenanlagen, von denen die Wohnhäuser umgeben waren. Die Senne, ein Nebenfluß der Schelde, durchzog die Stadt in anmutigen Windungen, die heute allerdings überwölbt sind, älteren Bewohnern Brüssels jedoch gewiß noch wohl erinnerlich sein werden. Einen vollkommen deutlichen Begriff vom einstigen Stadtbilde Brüssels vermag uns neben einigen im Rathause aufbewahrten Gemälden eine im gegenüberliegenden Stadtmuseum befindliche Sammlung von gewissenhaft ausgeführten Handzeichnungen zu geben, die wir gleich den genannten Rathausgemälden dem talentvollen Brüsseler Maler J. B. van Moer (lebte 1819-1884) zu verdanken haben.

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Abb. 4. Die Senne-Kanäle vor 1867 (Photo Neurdein)

In der blassen Wirklichkeit besehen, war der das Stadtinnere durchziehende nicht schiffbare Flußlauf der Senne für Brüssel freilich weit eher schadenbringend als nützlich, da er zu Hochwasserzeiten häufig wahre Verwüstungen verursachte und in seinen die Insel Saint-Géry umfließenden Seitenkanälen nichts weiter als eine übelriechende Kloake darstellte. Für einen den Gesundheits- wie auch den Verkehrsinteressen der Bevölkerung in so offensichtlicher Weise zuwiderlaufenden Tatbestand mußte um jeden Preis Abhilfe geschaffen werden. Nachdem der Plan, die Senne in ihrem Laufe durch die Stadt zu überwölben, schon früher mehrfach in Erwägung gezogen worden war, gelangte er alsbald nach der Thronbesteigung König Leopolds II. – der in der Geschichte dereinst wohl den Beinamen »Der Baufreund« verdiente – endlich zur Realisierung: Durch den damals amtierenden Bürgermeister Anspach energisch gefördert und im Jahre 1867 definitiv in Angriff genommen, wurde das gewaltige Ingenieurwerk in der verhältnismäßig kurzen Zeitspanne von sieben Jahren glücklich zu Ende geführt.

Damit aber kam gleichzeitig ein die Stadt in ihrer Gesamtausdehnung von Norden nach Süden durchquerender grandioser Straßenzug zustande, der zwischen den beiden Hauptbahnhöfen Brüssels eine direkte Verbindungslinie herstellte und einen bis dahin höchst stiefmütterlich behandelten Stadtteil mit der nötigen Luft- und Lichtzufuhr versorgte. Als Treffpunkt für alle vornehmen Müßiggänger so gut wie für Scharen emsiger Geschäftsleute wurden diese Centralboulevards zu einem besonders imposanten Markzeichen des Brüsseler Großstadtlebens. Der Verkehr ist auf das intensivste belebt und trägt in den Physiognomien des Passantenpublikums einen völlig kosmopolitischen Charakter zur Schau. Man hat die angenehme Vorstellung, Leute aus den verschiedensten Weltgegenden hier friedlich aneinander vorüberziehen zu sehen; und sie alle sind eifrig bedacht, sich die Vorteile des Großstadtlebens nach allen Richtungen hin zunutze zu machen, ob sie nun mondainen Vergnügungen oder geschäftlichem Gewinne nachjagen.

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Abb. 5. Die Senne-Kanäle vor 1867 (Photo Neurdein)

Bei Anlage dieser Boulevards befolgte die Stadtverwaltung keineswegs nur Nützlichkeitsrücksichten. Vielmehr suchte sie den mächtigen Straßenzuge, den sie mit der Überwölbung der Senne geschaffen hatte, auch einen künstlerisch-monumentalen Charakter zu verleihen. Zu diesem Zwecke wurde in das Stadtbudget eine Gesamtsumme von 110 000 Franks eingestellt, die dazu bestimmt war, unter die Schöpfer der schönsten Fassadenentwürfe für die am neuen Straßenzuge zu errichtenden Privathäuser verteilt zu werden. Der höchste Preis fiel dem Erbauer des Hauses Nr. 1 am Boulevard du Nord zu, dem Architekten Henri Beyaert (lebte 1823-1894); den zweiten und den dritten Preis erhielt der Architekt Emile Janlet.

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Abb. 6. Boulevard Anspach (Photo Neurdein)

Um dieselbe Zeit (1876) entstand auch das von Léon Suys entworfene Börsenpalais, ein imposant gegliedertes Bauwerk, das seine Hauptfront dem Boulevard Anspach zuwendet, und zu dessen üppigem Skulpturenschmuck zahlreiche in- und ausländische Bildhauer wertvolle Beiträge lieferten, unter ihnen neben Carrier-Belleuse auch Auguste Rodin, der damals in Brüssel lebte und dort seine Ruhmeslaufbahn begann.

Seine endgültige Physiognomie gewann der Boulevard Central erst mit dem Verschwinden der ehemaligen Augustinerkirche. Den breiten Straßenzug in zwei Arme spaltend, hatte dieses seiner ursprünglichen Bestimmung längst entzogene Gebäude schließlich als Hauptpostamt gedient. Es wurde also nunmehr abgebrochen und in das an der Avenue Louise neu entstandene Stadtviertel verpflanzt. Zur Regierungszeit des Erzherzogspaares Albrecht und Isabella von Österreich im Jahre 1620 von Wenzel Coebergher, dem berühmtesten der damaligen Hofarchitekten, in den Bauformen des Barockstiles errichtet, bleibt diese Kirche an ihrem neuen Standorte ein charakteristisches Erinnerungszeichen an eine der höchsten Blüteperioden religiöser Baukunst, die Belgien je erlebt hat. Versichert uns doch der Geschichtsschreiber Miraeus, daß unter den Auspizien jenes frommen Statthalterpaares auf belgischem Boden nicht weniger als dreihundert neue Kirchen gebaut wurden. Daher also stammt die vielfältige Verbreitung jener hybriden Stilformen, die überall in den Brabanter Landen in der künstlerischen Ausschmückung der Kirchen eine so auffällige und charakteristische Rolle spielen. Seiner künstlerischen Überzeugung nach entschiedener Romanist, hat sich Coebergher besonderen Nachruhm gesichert als Erbauer der berühmten Notre Dame-Kirche von Montaigu, die durch das genannte Erzherzogspaar mit den reichsten Schenkungen bedacht wurde und als Wallfahrtsort eines mindestens ebenso reichlichen Zuspruchs sich zu erfreuen hat, wie die Notre Dame-Kirche von Hal.

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Abb. 7. Prämierte Fassade am Boulevard du Nord (Photo Neurdein)

Am ursprünglichen Standorte des » Temple des Augustins« aber errichtete man nunmehr ein zur Ehrung des Bürgermeisters Anspach (amtierte 1864-1879) bestimmtes Kolossaldenkmal. Den Vereinigungspunkt des Boulevard du Nord, des Boulevard Anspach und des Boulevard de la Senne in weitem Rundblick beherrschend, steigt das eine Sockelfläche von 500 qm einnehmende Brunnenmonument genau in der Achse der überwölbten Senne nicht weniger als 18 m hoch empor. Der prächtig dekorative Gesamtaufbau des Denkmals wurde vom Architekten Emile Janlet entworfen. Der von Kandelaberobelisken umgebene und gleich diesen aus rotem norwegischen Marmor hergestellte Hauptobelisk wird bekrönt von einer Statue des Brüsseler Stadtpatrons St. Michael, deren Schöpfer Paul de Vigne (lebte 1843 bis 1901) auch die Modelle zu den Sockelreliefs lieferte (Darstellungen der in Fesseln gelegten Senne usw.). Die als Personifizierungen des » Pouvoir communal« und der » Ville de Bruxelles reconnaissante« gedachten, schön bewegten weiblichen Sockelstatuen zeigen die Signatur des rühmlich bekannten Bildhauers Julien Dillens (lebte 1849-1904). Die das Brunnenbecken umgebenden Chimären wurden von den Bildhauern Braecke und De Vreese modelliert, die ornamentalen Bronzeteile dagegen von dem trefflichen, seit länger als fünfzig Jahren in Belgien ansässigen französischen Ornamentbildner Georges Houtstont.

Die so häufig empfundene und hervorgehobene nahe Verwandtschaft Brüssels mit Paris basiert nicht allein auf der Ähnlichkeit des ungemein lebhaften Boulevardverkehrs beider Städte, sondern auch auf ihrer Ebenbürtigkeit hinsichtlich der luxuriösen Pracht ihrer Geschäftsauslagen und ihrer zahlreichen Kaffeehäuser; und schließlich wird der Besucher Brüssels auch durch die Reichhaltigkeit des fast ausschließlich französischen Repertoires der dortigen Theater angenehm an analoge Pariser Theaterverhältnisse erinnert werden. Dabei darf man jedoch ja nicht etwa glauben, Brüssel habe seine eigene, sozusagen brabantische Lokalphysiognomie völlig eingebüßt. Jeder, der die Großstädte Mitteleuropas bereist hat, wird beim Besuche der belgischen Kapitale aufs freudigste überrascht werden durch das geradezu blendende Lokalkolorit, das den um das altehrwürdige Stadthaus gruppierten Häuservierteln – gewöhnlich zusammengefaßt unter der volkstümlichen Bezeichnung » Le bas de la ville« (Untere Stadt) im Gegensatze zu den hochgelegenen aristokratischen Wohnvierteln des Brüsseler Westens – auch heute noch unabgeschwächt erhalten geblieben ist.

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Abb. 8. Die Börse (Photo Neurdein)

Obwohl von Tag zu Tag mehr bedroht von einschneidenden Umgestaltungen, hat dieses Alt-Brüssel sich noch immer seine ureigene Physiognomie zu wahren gewußt. Seine winkelig gekrümmten engen Straßen mit ihren schmalen, selten mehr als dreistöckigen, giebelbekrönten Häuserfassaden erzählen uns noch immer beredt genug von längstvergangenen Zeiten, nicht zum wenigsten aber von jener Epoche, als Belgien noch zu den steuerpflichtigen Kronländern seiner Kaiserlichen und Königlichen Apostolischen Majestät gehörte. Hier herrscht noch eine frei bewegte Volkstümlichkeit und Eigenart des Straßenlebens und des Geschäftsgetriebes, die uns im Vereine mit dem Dominieren des vlaemischen Sprachgebrauches dieses Alt-Brüssel weit lebendiger und namentlich auch viel charakteristischer erscheinen lassen als das Neu-Brüssel der höher gelegenen Stadtteile, in denen die stattlichen Privatpaläste der Geburts- und Geldaristokratie in kalter Pracht und Neuheit geradlinig sich aneinanderreihen.

Aber neben jenen grundlegenden Umgestaltungen, die nach allgemeinen Entwickelungsnotwendigkeiten im Laufe des 19. Jahrhunderts die Hauptstadt Belgiens über sich ergehen lassen mußte, machen sich in Brüssel noch heute die Spuren eines ähnlich elementaren Schreckensereignisses wahrnehmbar, wie es London in der großen Feuersbrunst vom Jahre 1666 und Lissabon im Erdbeben vom Jahre 1755 erlebte.

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Abb. 9. Anspach – Denkmal (Photo Neurdein)

Im August des Jahres 1695, also noch nicht ganz dreißig Jahre nach dem Brande von London, wurde das gesamte Zentrum der Stadt Brüssel ein Raub der Flammen infolge des Bombardements, das der Marschall Villeroi damals über die Stadt verhängt hatte. Es handelte sich dabei nicht etwa um eine Belagerung – die Brüsseler Befestigungswerke befanden sich nicht einmal in genügendem Verteidigungszustande – sondern nur um einen Demonstrationsakt, durch den die Heerscharen König Ludwigs XIV. von der Belagerung der Festung Namur abgelenkt werden sollten. Dreitausendvierhundert Häuser wurden durch die Feuersbrunst völlig zerstört, vierhundertundsechzig weitere Häuser schwer beschädigt; das Stadthaus blieb mitsamt seinem herrlichen Turme wie durch ein Wunder vor dem Einsturze bewahrt; dagegen waren mit der » Maison du Roi« und dem Stadthospitale zahlreiche Kirchen, Kapellen und Klöster ganz oder teilweise in Asche gelegt: So lautete die Schlußabrechnung dieser Schreckenstage. Die Bevölkerung Brüssels stand dem in gewissem Sinne unsichtbaren Feinde in völliger Ohnmacht gegenüber und mußte es in qualvollem Entsetzen rat- und tatlos mit ansehen, wie zwar nicht der prächtigste, wohl aber der blühendste Teil der altehrwürdigen Residenzstadt der Vernichtung anheimfiel.

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Abb. 10. Der Käsemarkt (Photo Neurdein)

Der Brand des Stadthauses brachte unheilbaren Schaden mit sich. Zugrunde gingen dabei die von den älteren Reiseschriftstellern so viel bewunderten kostbaren Gemälde des Rogier van der Weyden, darstellend die Legende des Herckenbald von Bourbon und den Gerechtigkeitsakt des Trajan, – das als eines der großartigsten Werke des Van Dyck gerühmte Gruppenbildnis der Brüsseler Ratsherren, – Rubens' Historie van Kambyses und dem bestechlichen Richter, – kurz alles, was das Brüsseler Rathaus überhaupt an Kunstschätzen beherbergt hatte. Von dem jammervollen Zustande des Stadtzentrums nach dem Brande gibt eine interessante zeitgenössische Kupferstichfolge von der Hand des Ant. Coppens und des Rich. Van Orley beredte Kunde. Von den Häuserreihen der » Grand' Place« sind nur hie und da einige Mauerwände aufrecht stehen geblieben, und selbst die interessantesten Straßen und Straßenkreuzungen sind zu chaotischen Schuttplätzen geworden.

Der damalige Generalstatthalter Maximilian Emanuel von Bayern, (der dabei selbst ein so kriegslustiger Herr war, daß er ein Jahrzehnt später [1706], in seltsamem Widerspruch mit seiner früher bewiesenen Hilfsbereitschaft, als Truppenführer der gegen Österreich kämpfenden französisch-spanischen Armee die armen Brüsseler seinerseits mit einem neuen Bombardement bedrohte), spendete zur Linderung der durch die Feuersbrunst von 1695 hervorgerufenen allgemeinen Notlage reichliche Summen aus seiner Privatschatulle. Wie mit einem Zauberschlage erstanden dann aus den wüsten Trümmerstätten der abgebrannten Stadtteile neue Bauwerke, und noch vor Eintritt des Jahrhundertwechsels war bereits ein verjüngtes Brüssel aus den Ruinen des alten neu emporgeblüht.

Empfindlich fühlbar machte es sich, daß Brüssel damals keine Königsresidenz, sondern nur die Residenz eines Statthalters war. Die Initiative zu einer Vergrößerung oder Verschönerung der Stadt hätte nur vom Landessouverän ausgehen können, der jedoch in diesem Falle, wo es sich um eine Stadt handelte, die er nie gesehen und nie betreten hatte, nicht das geringste Interesse für die Neubauunternehmungen der abgebrannten Bürgerschaft kundgab. So kam damals weder ein neuer öffentlicher Monumentalbau noch eine neue öffentliche Platzanlage zustande. Nicht einmal neue Straßenzüge wurden geschaffen, mit einziger Ausnahme der sehr unbedeutenden und uninteressanten Rue de Bavière.

Gleichwohl hatte die Stadt bei ihrer Wiedergeburt aus der Brandasche sich sehr zu ihrem Vorteile verändert. Vor allem waren an Stelle der Holzhäuser, die ebenso wie vorher schon in London den Flammen einen so leicht zu verzehrenden Nährstoff dargeboten hatten, nunmehr solide Ziegel- und Steinbauten errichtet worden. Bei verschiedenen dieser steinernen Neubauten hatten die Architekten mit bedeutendem Kostenaufwand sich in auffälliger, wenn auch nicht immer glücklicher Weise als originalschaffende Künstler zur Geltung zu bringen gesucht; und zwar zeigten sie sich vor allem darauf bedacht, die älteren Stilformeln durch moderne architektonische Bizarrerien zu ersetzen, denen ein gewisser pittoresker Reiz sicherlich nicht abzusprechen ist, die jedoch nur zu leicht als imitatorische Amalgame aus den in den Nachbarländern um den Vorrang ringenden Stilrichtungen festzustellen sind. Die Rue de la Madeleine mit ihrer Verlängerung, dem Marché aux Herbes (Gemüsemarkt), dessen Abzweigung, die Rue de la Montagne, ebenso die Rue de la Violette und die Vieille Halle aux Blés (Getreidehallen -Platz), mit einem Worte – das ganze alte Stadtzentrum hat aus dieser Bauepoche noch so manche interessante Fassade aufzuweisen, die den bewundernden Blick des Passanten auf einen Moment abzulenken vermag von den reichen Schauauslagen der Kaufläden, denen die Erdgeschosse dieser altehrwürdigen, leider jedoch sämtlich einem nahen Untergange geweihten Zeugen der Vergangenheit eingeräumt sind.

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Abb. 11. Die Grand' Place. Ostseite (Photo Neurdein)

Die Zahl der Architekten, die der Stadt Brüssel zu ihrem Wiederaufbaue aus dem Brandschutt zur Verfügung standen, war ziemlich beschränkt. Die bedeutendsten, Cornelis van Nerven und Jean Cosyns, arbeiteten im Vereine mit Guillaume de Bruyn, dem damaligen Stadtbaumeister, emsig am Neuausbaue des Rathauses und an den Neubauten der Grand' Place. In anderen belgischen Städten sind Bauwerke dieser Stilperiode, die in Belgien hauptsächlich unter dem Einflusse Jean Marots und noch mehr unter demjenigen Daniel Marots stand, nur ziemlich selten anzutreffen; nur in Brüssel war eben durch das Brandunglück vom Jahre 1695 den Baukünstlern dieser Zeit Gelegenheit zu ausgedehnterer Betätigung geboten.

In der Regel sind die Fassaden der damaligen Brüsseler Neubauten durch überhohe, zwischen den Fensteröffnungen der verschiedenen Stockwerke emporsteigende Pilaster gegliedert. Diese tragen dann das Hauptgesims mitsamt dem in geschweiften Linien nach oben abgestuften Frontgiebel, der schließlich in einem winzigen Dreiecks- oder Rundbogengiebel seinen Abschluß findet, – etwa so wie eine allzumächtige Perrücke von einer zu kleinen Zierhaube bekrönt wird. Man vergleiche hierzu das im Jahre 1907 unter dem Patronate der Stadtgemeinde und der Société d'Archéologie veröffentlichte hochinteressante Bilderalbum » Vieux Bruxelles«. An allen hervorspringenden Punkten dieses Fassadensystems treibt eine phantastische Dekorationskunst freiestes Spiel. Vasen, Flammenurnen und Pechpfannen sind in reicher Fülle überall verteilt, die rundbogigen Dachfenster des obersten Fassadenstockwerkes und die kreisrunden oder ovalen Strebebögen in effektvollster Weise mit dem Hauptkörper der Turmfortsetzung verbunden wurden. Das Ganze verblüfft den Beschauer als ein wahres Wunderwerk gotischer Konstruktionskunst, zumal da die ganze Oktogonpartie des Turmes auf eine Scheingründung aufgesetzt ist!

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Abb. 19. Die Löwentreppe am Rathause (Photo Neurdein)

Sehr lohnend ist die Besteigung dieses »Beffroi«, dessen 408 Stufen zählender, mit einem Sicherheitsbelag von kannelierten kupfernen Trittblechen versehener Treppenaufgang elektrisch beleuchtet ist. Ist es doch nicht nur der weite Rundblick, der uns für die Mühe des Aufstiegs reichlich entschädigen wird, sondern namentlich auch der Aufblick in die lediglich durch ihr Schwergewicht zusammengehaltenen schlanken Pfeilerbündel, aus denen die uns zu Häupten gen Himmel ragende Helmpyramide des Turmes zusammengefügt ist. Ein Schauder überläuft uns, wenn wir daran denken, daß durch das Bombardement von 1695 sowohl wie durch Blitzschläge dieses Zauberwerk der Architektur und der Statik mehrmals der Vernichtungsgefahr ausgesetzt gewesen ist.

Der Name des Architekten, der das Hôtel de Ville erbaute, ist uns nicht bekannt. Der Grundplan des Baues wird dem Architekten Jacques Laureys, genannt »van Thienen« oder »von Tirlemont«, zugeschrieben, der im Jahre 1405 als Leiter der städtischen Bauarbeiten fungierte. Der Schöpfer des Turmbaues war Jan van Ruysbroeck († 1485), der einer volkstümlichen Überlieferung zufolge sich erhängt haben soll »aus Verzweiflung darüber, daß er bei der Konstruktion des Turmes die Mittelachse des Rathausbaues verfehlt hatte«.

Betreten wir nunmehr das Innere des Rathauses, so können wir uns des heftigsten Bedauerns nicht erwehren, daß dort kein einziges Erinnerungszeichen mehr vorhanden ist an jene ferne Vergangenheit, die doch in der Außenerscheinung des majestätischen Bauwerkes für uns fortlebt. Der Hof zeigt die korrekte und kalte Physiognomie jedes beliebigen Präfekturgebäudes. Das Durchgangsportal nach der Rue de l'Amigo wird von den aus dem Jahre 1717 stammenden Brunnenfiguren zweier Flußgötter flankiert, Werken der Bildhauer D. Plumier (Figur zur Rechten) und Dekinder (Figur zur Linken).

Im Erdgeschoßvestibül, zu dem eine Freitreppe emporführt, ein schöner Teppichkarton, dem Barent van Orley (genannt Bernard von Brüssel) zugeschrieben und die Enthauptung des Apostels Paulus darstellend, ein Geschenk des Herrn C. L. Cardon. Im Hauptflur des ersten Stockwerkes eine interessante Sammlung von Porträts der ehemaligen Landesherrscher und Generalstatthalter: König Karls II. von Spanien, der Kaiser Karl VI., Maria Theresia, Joseph II., Franz II., des Herzogs Karl von Lothringen und Bar, der Marie Christine und ihres Gemahls Albert von Sachsen-Teschen, Napoleon Bonapartes (gemalt von C. Meynier, 1768-1832) und Wilhelms I., Königs der Niederlande, im Krönungsmantel (gemalt von J. Paelinck). In dem zum Amtszimmer des Bürgermeisters führenden Korridore die sehr mittelmäßigen Ganzfigurbildnisse sämtlicher Fürsten aus dem Hause Österreich, von Philipp dem Schönen an bis herab auf Karl II. (gemalt 1718 von Grangé, in der reichen Ornamentumrahmung jener Zeit).

Die Säle, die man hierauf durchschreitet, bildeten ursprünglich die Versammlungsräume der Mitglieder des Rates von Brabant. Ihre bemalten und vergoldeten Decken, ihre hohen Pfeilerspiegel, ihre Brüsseler Bildteppiche mit Darstellungen der Thronbesteigung des Brabanter Herzogs Philipp von Burgund, der Abdankung Kaiser Karls V. und der Thronbesteigung Karls VI. (1718) vereinigen sich zu prunkvoller Gesamtwirkung. In ihrem Stilcharakter freilich repräsentieren jene Bildteppiche als Werke der letzten flandrischen Teppichfabrikanten, Urban Leyniers' und Henri Reydams', leider eine Epoche tiefen Verfalles der vlaemischen Kunstweise; auch Victor-Honoré Janssens, der Schöpfer der Kartons zu diesen Bildteppichen, hat dieser Verfallsepoche als charakteristischer Vertreter mit angehört.

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Abb. 20. Die Ehrentreppe im Rathause (Photo Neurdein)

In der sogenannten » Salle Maximilienne« ein Kamin mit den aufgelegten Profilbildnissen Maximilians von Österreich und der Maria von Burgund (Arbeit von A. Cluysenaar, 1837 bis 1902), – Bildteppiche mit Darstellungen aus dem Leben Chlodwigs (Brüsseler Arbeiten nach Kartons von Le Brun), – sowie vor allem ein kunstgeschichtlich höchst bedeutsames Altarwerk, das durch Ankauf in den Besitz der Stadt Brüssel gelangt ist und nach Ausweis eines in mehrfachen Wiederholungen daran angebrachten Familienwappens augenscheinlich für die italienische Familie Pensa di Mondari ausgeführt wurde. Die Außenseite dieses Altarwerkes stellt sich in ihren polychromierten und vergoldeten Holzskulpturen als ein mit wunderbarer Delikatesse durchgebildetes vlaemisches Holzschnitzwerk des 16. Jahrhunderts dar und trägt an verschiedenen Stellen die deutlich lesbare Signaturinschrift » Bruesel« zur Schau. Unter den hier plastisch dargestellten Szenen aus dem Marienleben ist die »Darstellung im Tempel« in höchst merkwürdiger Weise dadurch ausgezeichnet, daß über ihr eine kleine Gemäldedarstellung des »Opfers Abrahams« über den Altarschrein hinausragt, eine bei derartigen Werken nur höchst selten vorkommende Besonderheit. Die in Ölmalerei ausgeführten Teile des Altarwerkes zeigen neben weiteren Szenen aus dem Marienleben und neben solchen aus der Legende des heiligen Antonius die in viel größeren Proportionen gehaltenen Gestalten des heiligen Hieronymus und des heiligen Jacobus sowie der heiligen Sippe der Maria. Wenn diese Malereien, wie man der oben angegebenen Signatur nach wohl annehmen muß, von der Hand eines Brüsseler Künstlers herrühren, dürfte man am ehesten an den unter dem Namen van Coninxloo allgemein bekannten Maler Jan Scherniers zu denken haben, an dessen Kunststil auch die Architekturteile dieses Altarschreines gemahnen.

Im Maximilianssaale ist außerdem noch der prunkvolle moderne Silberschatz der Stadt Brüssel öffentlich zur Schau gestellt. Dieses kostbare, nach Modellen des Bildhauers Ch. van der Stappen und in seinen ornamentalen Teilen nach Entwürfen des Architekten Jan Baes in Silber ausgeführte Tafelservice schmückt bei festlichen Gelegenheiten die Bankettafel des Brüsseler Gemeinderates.

Im Vorzimmer des Bürgermeisters findet man die schon im ersten Kapitel erwähnten Gemälde von der Hand J.-B. van Moer's (1819-1884) als Wandschmuck verwendet, Darstellungen des ehemaligen Zustandes der durch die Sanierung und Überwölbung der Senne modern umgewandelten Stadtteile Brüssels, ebenso wertvoll durch die künstlerischen Qualitäten der ganzen Serie wie durch die historische Treue der Einzeldarstellungen.

Die » Salle Gothique« ist erst im Jahre 1868 eingebaut worden in einen Raum, der seiner vorherigen Ausstattung nach dereinst einmal einer völlig exzentrischen Architektenphantasie als Tummelplatz gedient haben mußte. Die ungemein reiche Deckendekoration bildet mit der Teppichbespannung der Wände ein harmonisches Ganzes von ebenso ernster wie vornehmer Stimmungswirkung. Die Wandteppiche führen in gesonderten Einzelfiguren hervorragende Vertreter der im Brüssel des 19. Jahrhunderts gepflegten Gewerbe, Künste und Wissenschaften vor Augen. Ausgeführt in der bekannten Mechelner Teppichwirkerei der Gebrüder Braquenié (1875-1881) nach den Kartons des Mechelner Malers W. Geets, wirken sie vorläufig noch etwas zu laut in ihrem überreichen Farbenzusammenklange, der jedoch unter dem Einflusse der Lichtbestrahlung mit der Zeit sicherlich gemildert werden wird. Zur Erhöhung der malerischen Wirkung hat der Künstler die modernen Bildnisfiguren in der Tracht des 16. Jahrhunderts dargestellt. Als Vertreter der Malkunst figuriert hier Louis Gallait (1810-1887), als Vertreter der Wissenschaft der berühmte, aus Mecheln stammende Paläontologe Pierre-Joseph van Beneden, ein imposanter Greis in majestätischem Bartschmuck.

Gleich dem »gotischen Zimmer« ist auch die anstoßende » Salle des Mariages« in einem archaisierenden Stile neu dekoriert. Die Rückwand des Raumes ist in ihrer ganzen Ausdehnung mit einem mächtigen allegorischen Gemälde von Ch. Cardon bedeckt, das in seinen lichten und harmonischen Farbenakkorden seinem dekorativen Zweck vortrefflich entspricht. Graziös erfunden sind die Wandleuchter dieses Raumes mit der immer wiederkehrenden St. Michaelstatuette.

Die in den Sitzungssälen und Amtszimmern des Bürgermeisters und der Stadtschöffen verteilten Kunstwerke dienen hauptsächlich der Verherrlichung der großen Vergangenheit der Stadt Brüssel. Zwar vermögen sie nur einen schwachen Ersatz zu bieten für die beklagenswerten Verluste, die das Hôtel de Ville durch die Feuersbrunst beim Bombardement von 1695 erlitten hat. Immerhin aber können wir heutigen Brüsseler die Besucher unserer Stadt wieder mit berechtigtem Stolz in unser verjüngtes Rathaus hineinführen, da unsere Ädilen schon seit mehreren Generationen alles getan haben, um dieses monumentale Bauwerk in einer der Größe und der historischen Bedeutung Brüssels würdigen Weise aufs neue glänzend auszuschmücken.

Im Amtszimmer des Bürgermeisters finden wir zunächst ein schönes Porträt Napoleon Bonapartes, der hier in ganzer Figur als »premier consul« dargestellt ist; ferner im Amtszimmer des Stadtschöffen für die öffentlichen Arbeiten ein Gemälde von der Hand Martin de Vos' mit den vor der Madonna im Gebet knienden Bildnisgestalten der Vorsteher der St. Georgsbruderschaft, – im Amtszimmer des Stadtschöffen für den öffentlichen Unterricht ein von Jan van Orley im Jahre 1699 gemaltes Gruppenbildnis der Mitglieder der Tuchmachergilde, – in einem weiteren Amtszimmer ein Gruppenbildnis der Mitglieder der provisorischen Regierung von 1830, gemalt von Ch. Picqué (1799-1869).

Unter den die verschiedenen Stockwerke des Stadthauses verbindenden Treppenhäusern sind namentlich zwei mit beachtenswerten Werken hervorragender Brüsseler Künstler dekoriert. Im mittleren Treppenflur des zur »Salle des Mariages« emporführenden » Escalier des Lions« hängen zwei mit den Jahreszahlen 1876 und 1877 datierte Historienbilder von Emile Wauters, darstellend den »Herzog Johann IV., wie er am 11. Februar des Jahres 1421 den versammelten Bürgern Brüssels die Ernennung zweier Bürgermeister bewilligt«, und die am 4. Juni des Jahres 1477 erfolgte »Eidesleistung der Maria von Burgund«. Beide Gemälde zeichnen sich aus durch die Vorzüge einer breit- und leichtflüssigen Malweise und eines blendenden Kolorismus und fesseln den Beschauer außerdem noch durch die lebendige Darstellungskraft, mit der der Künstler die gegebenen Bildstoffe malerisch zu interpretieren wußte. Namentlich das an zweiter Stelle angeführte Bild gehört zu den besten Pinselschöpfungen des brillanten Brüsseler Koloristen.

Die längs desselben Treppenaufganges postierten Alabasterstatuetten von der Hand G. de Groots (1884) sind dazu bestimmt, das Andenken einer Reihe hervorragender Brüsseler Persönlichkeiten des Mittelalters künstlerisch zu verewigen. Dabei gab der Bildhauer den einzelnen Gestalten gleichzeitig die Bildniszüge der Brüsseler Stadtschöffen und Ratsherren seiner eigenen Zeit, wodurch diese Statuetten ein doppeltes stadtgeschichtliches Interesse gewonnen haben.

Der » Escalier d'Honneur« endlich, über dessen breite Stufen man vom Hofe des Rathauses aus zu der dem »gotischen Saale« vorgelagerten Wandelhalle emporschreitet, hat mit der letzteren Halle selbst im Jahre 1893 durch den Maler Grafen Jacques de Lalaing eine imposante und einheitliche Ausschmückung erhalten. Schon vom ersten Treppenabsatze aus fällt uns das Deckengemälde der Wandelhalle in wirkungsvollster Weise ins Auge. Auf diesem Deckenbilde hat der Künstler den heiligen Michael dargestellt, wie er die Stadt Brüssel in seinen Schutz nimmt gegen die Vernichtungsstreiche der Pestilenz, der Hungersnot und der Kriegsfurie. Hoch in die Wolken hinein ragt die schlanke Spitze des Rathausturmes, von der aus der himmlische Erzengel schützend seine mächtigen Fittiche ausbreitet über die alle Architektur- und Ornamentvorsprünge des »Beffroi« in dichten Massen besetzt haltenden Scharen der Brüsseler Bürger und Stadtverteidiger, – eine wahrhaft poetische Idee, deren künstlerischer Ausgestaltung bedeutende Ausdruckskraft nachzurühmen ist. An den Wänden der Wandelhalle wie des Treppenhauses schließt sich dann eine Reihe weiterer allegorischer Darstellungen an, in denen die blühende Machtfülle des städtischen Gemeinwesens glorifiziert ist.

Durch einen unterirdischen Gang, der unter der Grand' Place hinweg das Erdreich durchschneidet, ist das Hôtel de Ville mit jenem imposanten Bauwerke verbunden, das von der gegenüberliegenden Seite des Platzes her seine stolze Front nicht ohne eine gewisse Prätention dem Stadthause zuwendet.


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