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Der Justizpalast

Dem Straßenzuge der Rue de la Régence weiterfolgend, gelangen wir schließlich zum Palais de Justice, dessen schon aus der Ferne so gewaltig wirkende architektonische Gesamterscheinung einen noch weit monumentaleren Naheindruck hervorruft. In der Tat gibt der von der Rue de la Régence aus dem Nahenden sich darbietende Durchblick auf die hochragende Zentralkuppel dieses Bauwerkes nur erst eine verhältnismäßig schwache Vorahnung von der majestätischen Formengröße des Bauganzen, dessen massige frontale Breitenausdehnung so wesentlich mit beiträgt zur monumentalen Wucht des Totaleindruckes.

Nach der ursprünglichen Bauplanung war für das Ganze nur ein eingeschossiger Säulenbau vorgesehen, und erst im Verlaufe der Bauausführung gelangte der Architekt zu der sicheren Überzeugung, daß zur Erzielung einer monumentaleren Wirkung die Risalite der langgedehnten Säulenfront weit über das einzige Obergeschoß hinausgehoben werden müßten. Durch diese in ihrer architektonischen Gliederung an sich schon höchst beachtenswerten Risalitaufhöhungen wurde dann die bedeutende Sockellänge der Baufronten in einen um so wirkungsvolleren Kontrast gesetzt zur hochaufstrebenden Schlankheit des zentralen Kuppelaufbaues. Einen besonderen ästhetischen Genuß gewährt es jedenfalls, bei der Betrachtung des Bauwerkes aus nächster Nähe die kraftvoll reliefierte Hauptgeschoßarchitektur der Frontfassade mit den darüber sich emportürmenden massigen Aufsatzgebilden zum einheitlichen Ganzen verschmelzen zu sehen. Erst dieser Naheindruck gibt uns einen vollen Begriff von der gewaltigen Größe dieser Baukonzeption, die auch hinsichtlich der grandiosen Monumentalität ihrer künstlerischen Gesamtwirkung nach der übereinstimmenden Ansicht selbst ihrer strengsten und kompetentesten Beurteiler in Wahrheit einzig dasteht.

Mögen es nun, wie man immer von neuem behaupten hört, die fabulösen Erinnerungen an die riesenhaften Tempelbauten der alten Babylonier oder aber die kolossalen Terrassenarchitekturen Indiens und Hindostans gewesen sein, die den Architekten Joseph Poelaert (1817-1879) bei der Planung des Brüsseler Justizpalastes inspirierten, – jedenfalls hat er dabei als ein echter, genialisch zu Werke gehender Künstler weit mehr von Rücksichten ästhetischer als von solchen praktischer Natur sich leiten lassen, da bekanntlich kaum der fünfte Teil der gesamten Bauanlage für die eigentlichen Zwecke der Justizverwaltung verwertbar ist. Zuzugeben ist, daß in diesem Falle die ästhetischen Rücksichten in der Tat einzig und allein den Ausschlag geben durften, und daß ein Bauwerk, das zur Bekrönung einer der bedeutendsten Bodenerhebungen des Brüsseler Hügelgeländes bestimmt war und in großen Konturen von einem wunderbar weiten Horizonte sich abheben sollte, ein im vollsten Wortsinne monumentales Einheitsgepräge zur Schau tragen mußte. Für den belgischen Staat bedeutet es daher einen ganz hervorragenden Ruhmestitel, daß er die außergewöhnlich hohen finanziellen Opfer, die zur Verwirklichung dieses an Größe der Konzeption an die gewaltigsten Bauunternehmungen aller Zeiten und aller Völker heranreichenden Architektentraumes erforderlich waren, willig auf sich genommen hat. Betrugen doch die Kosten der Bauausführung des Brüsseler Justizpalastes im ganzen nicht weniger als 45 Millionen Franken, und dabei ist diese Summe noch keineswegs übermäßig hoch, wenn man bedenkt, daß das Riesengebäude einen Flächenraum von beinahe 25 000 qm einnimmt (3400 qm mehr als die Peterskirche in Rom, 15 000 qm mehr als das Leipziger Reichsgericht).

siehe Bildunterschrift

Abb. 83. Treppe im Justizpalast

In den ersten Entwürfen bis ins Jahr 1862 zurückreichend, verrät der Bau deutlich den Einfluß der gräzistischen Stilrichtung, wie sie zu jener Zeit in Paris das gesamte Bauwesen beherrschte. Unter Ausnutzung aller Sondereffekte dieser Stilrichtung hat der Architekt Poelaert ganz besonders monumentale Wirkungen zu erzielen gewußt. Die mit mächtigen dorischen Säulen- und Pilasterordnungen verkleidete Nordfront ist in den gewaltigsten Maßverhältnissen auf das Glänzendste und Reichste architektonisch gegliedert, wobei das in einer Portalhalle von nicht weniger als 17,50 m Weite und 39 m Höhe sich öffnende Mittelrisalit mit den beiden gleich hohen, aber weiter vorspringenden Seitenrisaliten durch streng dorische niedrigere Säulenportiken verbunden ist, eine Fassadenanlage, deren Reichtum dem monumentalen Ernst der Stilwirkung keineswegs Eintrag tut.

Der Grundriß des Riesengebäudes stellt sich dar als ein regelmäßiges Rechteck von 180 m Frontlänge zu 160 m Seitenlänge, wozu noch die beiden 25 m weit vorspringenden seitlichen Risalitpavillons der Nordfront hinzukommen. Zum Vergleiche sei bemerkt, daß das nächstgrößte Bauwerk Europas, der Madrider Königspalast, eine Frontanlage von nur 132 m Länge aufzuweisen hat. Der erhöhte Standort bot dem Architekten zwar unleugbare ästhetische Vorteile, andererseits aber auch enorme technische Schwierigkeiten dar, da ganz erhebliche Niveauunterschiede auszugleichen waren. Liegt doch das auf die Rue aux Laines ausmündende Ostportal 8,10 m, das Portal der südlichen Rückfront 20,60 m, das Westportal endlich sogar 30,50 m tiefer als das Hauptportal der Nordfront. Schon daraus resultierte die Notwendigkeit, die vier Fassaden völlig verschiedenartig zu gestalten. So vereinigt sich der die nördliche Hauptfassade ausschließlich beherrschende dorische Stil an den beiden Seitenfassaden mit dem jonischen und dem korinthischen Stile, und im Gegensatze zu der nur eingeschossigen Hauptfront, die vor der Rue de la Régence sich ausbreitet, überragt die nächst ihr bedeutendste Baufront des Justizpalastes, nämlich die an die Rue des Minimes angrenzende Westfassade, ihre gesamte Umgebung mit einem dreigeschossigen Oberbaue. Umgeben von vielgestaltigen Terrassenanlagen, von denen aus das Auge weitgedehnte Rundblicke genießt, wird der Justizpalast durch Freitreppen und Auffahrtrampen mit den benachbarten Straßenzügen verbunden. Die umliegenden Häuserquartiere wirken auf den Stadtwanderer nur wenig einladend; in ihnen wimmelt eine ähnlich dichte Kleinbürgerbevölkerung wie in den an den Tiberfluß angrenzenden Wohnvierteln Roms.

siehe Bildunterschrift

Abb. 84. J. Dillens, Die Gerechtigkeit

Von dem 20 m tiefen Peristyle der Hauptfront aus führen zwei Marmortreppen zum ersten Stockwerke des Justizpalastes empor. Zu Füßen beider Treppenanlagen sind die Kolossalstandbilder des Themistokles und des Lykurgos (von A. Cattier, 1882) sowie des Cicero und des Ulpianus (von A. F. Bouré, 1883) aufgestellt.

Der dreigeschossigen Südfront ist eine jonische Säulenhalle in Loggiaform vorgelagert, die zu beiden Seiten durch Eckrisalite von je sieben Fenstern Front flankiert wird. Über der Mitte des gesamten Baukomplexes steigt von einem insgesamt 9 m hohen, terrassenförmig abgestuften Stylobaten aus ein Kuppelaufbau bis zur Höhe von über 100 m empor (mitsamt der die Kuppel selbst überragenden Königskrone im ganzen 122 m hoch). Die untere kubische Pfeilerhalle dieses Kuppelaufbaues zeigt ebenso wie auch der die Kuppelwölbung selbst tragende obere Säulenrundbau (beide mitsamt dem Gebälk 27 m hoch) nicht mehr in allen Einzelheiten jene Stilgröße der Formengebung und der Profilierung, die an den unteren Baufronten des Justizpalastes unsere Bewunderung erregt: der Architekt Poelaert war noch vor Vollendung seines Werkes im Jahre 1879 aus dem Leben geschieden; er hat somit auch die erst im Jahre 1883 gefeierte Einweihung des Gebäudes nicht mehr erlebt.

Auf den vier Eckvorsprüngen am Fuße des Kuppelrundbaues sind die vier 6 m hohen allegorischen Bronzestandbilder der Stärke (von Vinçotte), der Gerechtigkeit (von Dutrieux), der Gnade (von De Tombay) und des Gesetzes (von Desenfants) aufgestellt. Das Innere des Justizpalastes ist hinsichtlich seiner dekorativen Ausstattung von überraschender Strenge und Schlichtheit; die Malerei ist dabei gänzlich ausgeschlossen geblieben, die Plastik dagegen nur in den bereits erwähnten vier Kolossalstandbildern der Treppenhäuser zur Verwendung gelangt sowie in den Bildnisbüsten einiger Zelebritäten des Brüsseler Richter- und Anwaltstandes.

Von überwältigendem Eindruck ist die Raumwirkung der riesigen Wandelhalle des Gebäudes – der sogenannten »Salle des pas perdus« –, die bei einem Flächeninhalte von 3600 qm und bei einer Höhe von 97,50 m den gesamten von der Kuppel überragten Mittelbau des Palastes einnimmt; allerdings steht hier die übermäßige Höhe in keinem rechten inneren Verhältnis zu der immerhin beschränkten Bodenfläche des Raumes, der sich darum gleichsam als eine nur unvollkommen verwirklichte Architektenvision darstellt. Von der »Salle des pas perdus« führt eine 172 Stufen hohe Treppenanlage zur Rue des Minimes hinab. Den meisten Besuchern des Justizpalastes bleibt dieser besonders eindrucksvolle Treppenaufgang unbekannt, da er nur von den wenigen Geschäftsinteressenten des westlich angrenzenden Stadtviertels benutzt zu werden pflegt.

Besonders grandios ist der Fernblick, der von dem Terrassenbaue des Justizpalastes aus in südwestlicher Richtung dem Auge sich darbietet.

siehe Bildunterschrift

Abb. 85. See im Waldpark von La Cambre (Photo Neurdein)


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