Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die nächste Umgebung der Grand' Place

Der Ecke der Rue Charles Buls, die dem Passanten einen Durchblick auf die östliche Seitenfassade und die gleich dieser nicht besonders bemerkenswerte Rückfront des Hôtel de Ville gewährt, sieht man eine wirkungsvoll dekorative Denkmalsanlage vorgelagert. Es ist dies eine Art von Kenotaph, das zum Andenken an den im Jahre 1388 ermordeten Brüsseler Bürgermeister Evrard T'serclaes – gleich berühmt als Stadtverwalter wie als Kriegsheld – errichtet wurde. Inmitten einiger typisch altertümlichen Wirtshausfassaden erblicken wir hier ferner das Gefangenenasyl für jene leider nicht auszurottenden Ruhestörer des Großstadtlebens, die man in Brüssel noch immer mit dem aus dem Spanischen entlehnten Spitznamen » amigo« oder mit dem noch weniger deutlichen Spottrufe » violon« zu charakterisieren pflegt, – sodann einige Schritte weiter die » Fontaine du Cracheur«, und schließlich an der Ecke der Rue du Chène und der Rue de l'Etuve (gegenüber der Rue des Grands-Carmes) die jenem »Wasserspucker« an Seltenheit des Vorkommens weit überlegene Brunnenfigur des » Manneken Piss«. Die der Überlieferung zufolge von Jérôme Duquesnoy modellierte Bronzestatuette dieses naiven »ältesten Bürgers von Brüssel« wurde im Jahre 1619 hier aufgestellt, und zwar, wie es scheint, zum Ersatze für eine Brunnenfigur analoger Art, die man für identisch hält mit einer jetzt im Brüsseler Kunstgewerbemuseum befindlichen Pissmännchenstatuette. Die architektonische Umgebung dieses Brunnens trägt die charakteristischen Stilmerkmale des 18. Jahrhunderts zur Schau.

Blickt man von diesem Punkte aus die Rue des Grands Carmes hinab und sieht an deren Westende die fünfseitige Kuppel der Kirche Notre-Dame de Bon-Secours vom Himmel sich abheben, so könnte man sich wohl in eines der niederen Volksquartiere Roms versetzt fühlen. Der Erbauer dieser im Jahre 1672 eingeweihten Kirche italienisch-vlaemischen Stils war der Architekt Jan Cortvriendt. Das Portal mit seiner Häufung von Pilastern des jonischen und des Kompositstiles ist nicht ohne künstlerischen Reiz. Das Innere der Kirche zeigt eine ebenso reich wie anmutig wirkende Bauanlage: eine schöne Rotunde, über deren korinthischen Pfeilern und Rundbögen die hohe Kuppelwölbung emporsteigt. Unterhalb der letzteren ist in jede der Bogennischen eine Empore eingebaut, der eine gegen den Mittelraum der Kirche vorspringende Balustrade vorgelegt ist. Durch die im Halbkreis abgeschlossene Chornische wird dieses graziöse Raumgebilde in nicht minder anmutvoller Weise vervollständigt. Eine früher an der Außenfront der Kirche aufgestellt gewesene prächtige Holzstatue der Madonna, die man dem Bildschnitzer Du Quesnoy zuschreibt, wird jetzt im Brüsseler Stadtarchiv aufbewahrt.

Die auf den Platz vor der Bon-Secours-Kirche einmündende Rue de la Petite-Ile ruft mit ihrem Namen die Erinnerung an einen jetzt nicht mehr existierenden Stadtteil wach, den ältere Bewohner Brüssels in ihrer Jugend noch sehr wohl gekannt haben, und auf dessen Inselgebiet vor Zeiten die Brüsseler Burggrafen ihr Trutzkastell errichtet hatten. Das Zentrum der nahe benachbarten, nur durch den Boulevard Anspach von der »Petite-Ile« getrennten »Grande-Ile« bildet der Marché Saint-Géry, der von seiner alten, im Jahre 1799 unter republikanischem Regime abgebrochenen Kirche nur den Namen auf die Nachwelt gebracht hat. Dagegen ist von den alten Wohnhäusern, die mit ihren Rückseiten ehedem auf den Wasserspiegel der die »Große Insel« umfließenden Sennearme hinabblickten, eine ziemliche Anzahl bis heute erhalten geblieben. An Stelle der Kirche St. Géry, der ältesten des gesamten Brüsseler Stadtgebietes, wurde im Mittelpunkte des genannten Marktplatzes im Jahre 1802 ein Obelisk errichtet.

siehe Bildunterschrift

Abb. 23. Grabmal des Bürgermeisters Tserclaes Bronze von J. Dillens (Photo Neurdein)

Die Place de la Bourse, eine Erweiterung des durch die Überwölbung der Senne entstandenen Boulevard Anspach, präsentiert sich als eines der lebhaftesten Verkehrszentren ganz Brüssels. Der Börsenpalast, über dessen glänzende architektonische Außenerscheinung schon im ersten Kapitel berichtet wurde, gibt sich im üppigen Reichtume seines künstlerischen Schmuckes wohl auf den ersten Blick als ein Tempel des Plutos zu erkennen. Seine grandiose Haupthalle möchte man weit eher für einen riesigen Festsaal oder für ein Pantheon halten, als für einen lediglich nüchternen Geldgeschäften gewidmeten Arbeitsraum; die Säulenbündel aus grünem Marmor, die reiche Gebälkarchitektur, die majestätischen Arkaden und die von Karyatidenpaaren flankierten Portale können nur zur Steigerung jener phantastischen Festsaalillusion beitragen. Jedenfalls ist die Stadt Brüssel mit diesem Börsenpalaste um ein wertvolles Baudenkmal bereichert worden, das seinem Schöpfer, dem Architekten Léon Suys (1824-1887) für immer ein ehrenvolles Andenken sichern wird. (Die Kosten dieses Baues erreichten die respektable Höhe von vier Millionen Francs.)

Treten wir nunmehr eine Boulevardwanderung in der Richtung nach dem Südbahnhofe an, so stoßen wir an der vom Boulevard du Hainaut nach rechts abbiegenden Place Anneesens zunächst auf das im Jahre 1889 errichtete Ehrendenkmal dieses letzteren Volkshelden. Die von Vinçotte modellierte Statue führt uns den wackeren Zunftvorsteher in dem Momente vor Augen, wie er, mit Fesseln beschwert, hoch erhobenen Hauptes den Gang zur Richtstätte antritt. – Das schöne, im Stile der vlaemischen Renaissance gehaltene Schulgebäude im Hintergrunde dieses Platzes ist ein Werk des schon mehrfach erwähnten Architekten Janlet.

Bei der Rückwanderung über den Boulevard du Hainaut die Place Fontainas überschreitend, brauchen wir nur dem alsbald in den Gassendurchblicken zur Rechten wieder sichtbar werdenden Rathausturme als Führer zu folgen, um durch die Rue du Marché aux Charbons, die Rue de la Tète d'Or (mit mehreren interessanten Fassaden aus der Zeit kurz nach dem Bombardement von 1695) und dann quer über die Grand' Place hinweg die Rue de la Colline zu erreichen, in der die schöne Barockfassade des Hauses Nr. 24 uns zu kurzem Verweilen veranlaßt. Nach den beiden den Fassadenbalkon tragenden Negeratlanten mit dem Namen »Deux Nègres« belegt, ist dieses mit der Jahreszahl 1704 datierte (auch »Maison de la Balance« genannte) Haus ohne Zweifel das beste Architekturstück des ganzen Grand' Placeviertels. Reiche Leute haben reichen Kredit, – nur aus diesem alten Grundsatze wird es erklärlich, wie ausgerechnet Peter Paul Rubens lange Zeit als der Schöpfer des Fassadenentwurfes zu dem »Zwei Neger-Haus« gelten konnte, obwohl doch die Jahreszahl 1704 für sich allein schon genügt, die Unhaltbarkeit dieser prätentiösen Zuschreibung zu erweisen. Der wahre Name des Erbauers dieses Hauses ist noch heute völlig unbekannt.

siehe Bildunterschrift

Abb. 24. Die Galerie Saint-Hubert

Wie alle Zugänge zur Grand' Place ist auch die Rue de la Colline durch einen intensiven Verkehr belebt. Unter ihren eng gehäuften Verkaufsläden und Schankwirtschaften gibt es, wie ein Lokalhistoriker sehr richtig beobachtet hat, verschiedene, die in merkwürdigem Gegensatze zu den Hausgrundstücken, von denen sie selbst beherbergt werden, seit Jahrhunderten keinerlei Umgestaltung erlitten haben.

Gegenüber dem nördlichen Ausgange der Rue de la Colline öffnen sich an der verkehrsreichen Straßenkreuzung des Marché aux Herbes und der Rue de la Montagne die im Jahre 1846 nach den Entwürfen des Architekten P. J. Cluysenaar erbauten » Galeries Saint-Hubert«, die früheste der in den Großstädten Europas in unserem Zeitalter entstandenen, mit Glas überdeckten großen Passageanlagen. Mehr als 200 m lang und 18 m hoch, ist diese Passage bis auf den heutigen Tag das Elysium aller Müßiggänger geblieben, das mit seinen beiden Theatern, seinen reichen Geschäftsauslagen, seinen großen Cafés einen ununterbrochenen Zustrom von »Flaneuren« an sich lockt. Die beiden Hauptkomponenten der Passage, die »Galerie du Roi« und die »Galerie de la Reine«, stoßen in einem ganz flachen Winkel an dem gleichfalls glasüberdeckten Straßenübergange der Rue des Bouchers zusammen, in die dicht neben diesen mächtigen Verkehrsdurchlässen (und in um so kurioserem Kontrast mit ihnen) außerdem auch Brüssels engstes Gäßchen, die » Rue d'une Personne«, ausmündet.

Von Süden her durch die weite Öffnung der Galerie de la Reine in die Passage eintretend, durchwandern wir sie in ihrer ganzen Länge bis zum Nordausgange der Galerie du Roi, um dann durch die wenig oberhalb der Passage nach rechts abbiegende, ziemlich steil ansteigende »Rue d'Assaut« den Besichtigungsgang zu Brüssels herrlicher Kathedrale, der Stiftskirche Sainte-Gudule, anzutreten, deren mächtige Türme, vom unteren Ende der Rue d'Assaut aus gesehen, namentlich gegen Abend in so wunderbar wuchtigen Konturen sich vom Himmel abheben.

siehe Bildunterschrift

Abb. 25. Die Nationalbank (Photo Neurdein)


 << zurück weiter >>