Wilhelm von Humboldt
Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen
Wilhelm von Humboldt

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Nun ist weder dasjenige, was die Moral als Pflicht vorschreibt, noch dasjenige, was ihren Gesetzen gleichsam die Sanktion gibt, was ihnen Interesse für den Willen leiht, von Religionsideen abhängig. Ich führe hier nicht an, daß eine solche Abhängigkeit sogar der Reinheit des moralischen Willens Abbruch tun würde. Man könnte vielleicht diesem Grundsatz in einem aus der Erfahrung geschöpften und auf die Erfahrung anzuwendenden Räsonnement, wie das gegenwärtige, die hinlängliche Gültigkeit absprechen. Allein die Beschaffenheiten einer Handlung, welche dieselbe zur Pflicht machen, entspringen teils aus der Natur der menschlichen Seele, teils aus der näheren Anwendung auf die Verhältnisse der Menschen gegeneinander, und wenn dieselben auch unleugbar in einem ganz vorzüglichen Grade durch religiöse Gefühle empfohlen werden, so ist dies weder das einzige noch auch bei weitem ein auf alle Charaktere anwendbares Mittel. Vielmehr beruht die Wirksamkeit der Religion schlechterdings auf der individuellen Beschaffenheit der Menschen und ist im strengsten Verstande subjektiv. Der kalte, bloß nachdenkende Mensch, in dem die Erkenntnis nie in Empfindung übergeht, dem es genug ist, das Verhältnis der Dinge und Handlungen einzusehen, um seinen Willen danach zu bestimmen, bedarf keines Religionsgrundes, um tugendhaft zu handlen und, soviel es seinem Charakter nach möglich ist, tugendhaft zu sein. Ganz anders ist es hingegen, wo die Fähigkeit zu empfinden sehr stark ist, wo jeder Gedanke leicht Gefühl wird. Allein auch hier sind die Nuancen unendlich verschieden. Wo die Seele einen starken Hang fühlt, aus sich hinaus in andre überzugehen, an andre sich anzuschließen, da werden Religionsideen wirksame Triebfedern sein. Dagegen gibt es Charaktere, in welchen eine so innige Konsequenz aller Ideen und Empfindungen herrscht, die eine so große Tiefe der Erkenntnis und des Gefühls besitzen, daß daraus eine Stärke und Selbständigkeit hervorgeht, welche das Hingeben des ganzen Seins an ein fremdes Wesen, das Vertrauen auf fremde Kraft, wodurch sich der Einfluß der Religion so vorzüglich äußert, weder fordert noch erlaubt. Selbst die Lagen, welche erfordert werden, um auf Religionsideen zurückzukommen, sind nach Verschiedenheit der Charaktere verschieden. Bei dem einen ist jede starke Rührung – Freude oder Kummer –, bei dem andren nur das frohe Gefühl aus dem Genuß entspringender Dankbarkeit dazu hinreichend. Die letzteren Charaktere verdienen vielleicht nicht die wenigste Schätzung. Sie sind auf der einen Seite stark genug, um im Unglück nicht fremde Hilfe zu suchen, und haben auf der andren zu viel Sinn für das Gefühl, geliebt zu werden, um nicht an die Idee des Genusses gern die Idee eines liebevollen Gebers zu knüpfen. Oft hat auch die Sehnsucht nach religiösen Ideen noch einen edleren, reineren, wenn ich so sagen darf, mehr intellektuellen Quell. Was der Mensch irgend um sich her erblickt, vermag er allein durch die Vermittlung seiner Organe aufzufassen; nirgends offenbart sich ihm unmittelbar das reine Wesen der Dinge; gerade das, was am heftigsten seine Liebe erregt, am unwiderstehlichsten sein ganzes Innres ergreift, ist mit dem dichtesten Schleier umhüllt; sein ganzes Leben hindurch ist seine Tätigkeit Bestreben, den Schleier zu durchdringen, seine Wollust Ahnden der Wahrheit in dem Rätsel des Zeichens, Hoffen der unvermittelten Anschauung in andren Perioden seines Daseins. Wo nun in wundervoller und schöner Harmonie nach der unvermittelten Anschauung des wirklichen Daseins der Geist rastlos forscht und das Herz sehnsuchtsvoll verlangt, wo der Tiefe der Denkkraft nicht die Dürftigkeit des Begriffs und der Wärme des Gefühls nicht das Schattenbild der Sinne und der Phantasie genügt, da folgt der Glaube unaufhaltbar dem eigentümlichen Triebe der Vernunft, jeden Begriff bis zur Hinwegräumung aller Schranken, bis zum Ideal zu erweitern, und heftet sich fest an ein Wesen, das alle andre Wesen umschließt und rein und ohne Vermittlung existiert, anschaut und schafft. Allein oft beschränkt auch eine genügsamere Bescheidenheit den Glauben innerhalb des Gebiets der Erfahrung; oft vergnügt sich zwar das Gefühl gern an dem der Vernunft so eignen Ideal, findet aber einen wollustvolleren Reiz in dem Bestreben, eingeschränkt auf die Welt, für die ihm Empfänglichkeit gewährt ist, die sinnliche und unsinnliche Natur enger zu verweben, dem Zeichen einen reicheren Sinn und der Wahrheit ein verständlicheres, ideenfruchtbareres Zeichen zu leihen; und oft wird so der Mensch für das Entbehren jener trunknen Begeisterung hoffender Erwartung, indem er seinem Blick in unendliche Fernen zu schweifen verbietet, durch das ihn immer begleitende Bewußtsein des Gelingens seines Bestrebens entschädigt. Sein minder kühner Gang ist doch sichrer; der Begriff des Verstandes, an den er sich festhält, bei minderem Reichtum, doch klarer; die sinnliche Anschauung, wenngleich weniger der Wahrheit treu, doch für ihn tauglicher, zur Erfahrung verbunden zu werden. Nichts bewundert der Geist des Menschen überhaupt so willig und mit so voller Einstimmung seines Gefühls als weisheitsvolle Ordnung in einer zahllosen Menge mannigfaltiger, vielleicht sogar miteinander streitender Individuen. Indes ist diese Bewunderung einigen noch in einem bei weitem vorzüglicheren Grade eigen, und diese verfolgen daher vor allem gern die Vorstellungsart, nach welcher ein Wesen die Welt schuf und ordnete und mit sorgender Weisheit erhält. Allein andren ist gleichsam die Kraft des Individuums heiliger, andre fesselt diese mehr als die Allgemeinheit der Anordnung, und es stellt sich ihnen daher öfter und natürlicher der, wenn ich so sagen darf, entgegengesetzte Weg dar, der nämlich, auf welchem das Wesen der Individuen selbst, indem es sich in sich entwickelt und durch Einwirkung gegenseitig modifiziert, sich selbst zu der Harmonie stimmt, in welcher allein der Geist wie das Herz des Menschen zu ruhen vermag. Ich bin weit entfernt zu wähnen, mit diesen wenigen Schilderungen die Mannigfaltigkeit des Stoffs, dessen Reichtum jeder Klassifikation widerstrebt, erschöpft zu haben. ich habe nur an ihnen wie an Beispielen zeigen wollen, daß die wahre Religiosität, so wie auch jedes wahre Religionssystem, im höchsten Verstande aus dem innersten Zusammenhange der Empfindungsweise des Menschen entspringt. Unabhängig von der Empfindung und der Verschiedenheit des Charakters ist nun zwar das, was in den Religionsideen rein Intellektuelles liegt, die Begriffe von Absicht, Ordnung, Zweckmäßigkeit, Vollkommenheit. Allein einmal ist hier nicht sowohl von diesen Begriffen an sich als von ihrem Einfluß auf die Menschen die Rede, welcher letztere unstreitig keinesweges eine gleiche Unabhängigkeit behauptet; und dann sind auch diese der Religion nicht ausschließend eigen. Die Idee von Vollkommenheit wird zuerst aus der lebendigen Natur geschöpft, dann auf die leblose übergetragen, endlich nach und nach bis zu dem Allvollkommnen hinauf von allen Schranken entblößt. Nun aber bleiben lebendige und leblose Natur dieselben, und ist es nicht möglich, die ersten Schritte zu tun und doch vor dem letzten stehenzubleiben? Wenn nun alle Religiosität so gänzlich auf den mannigfaltigen Modifikationen des Charakters und vorzüglich des Gefühls beruht, so muß auch ihr Einfluß auf die Sittlichkeit ganz und gar nicht von der Materie gleichsam des Inhalts der angenommenen Sätze, sondern von der Form des Annehmens, der Überzeugung, des Glaubens abhängig sein. Diese Bemerkung, die mir gleich in der Folge von großem Nutzen sein wird, hoffe ich durch das bisherige hinlänglich gerechtfertigt zu haben. Was ich vielleicht allein hier noch fürchten darf, ist der Vorwurf, in allem, was ich sagte, nur den sehr von der Natur und den Umständen begünstigten, interessanten und eben darum seltenen Menschen vor Augen gehabt zu haben. Allein die Folge wird, hoffe ich, zeigen, daß ich den freilich größeren Haufen keineswegs übersehe, und es scheint mir unedel, überall da, wo es der Mensch ist, welcher die Untersuchung beschäftigt, nicht von den höchsten Gesichtspunkten auszugehen.

Kehre ich jetzt – nach diesem allgemeinen, auf die Religion und ihren Einfluß im Leben geworfenen Blick – auf die Frage zurück, ob der Staat durch die Religion auf die Sitten der Bürger wirken darf oder nicht, so ist es gewiß, daß die Mittel, welche der Gesetzgeber zum Behuf der moralischen Bildung anwendet, immer in dem Grade nützlich und zweckmäßig sind, in welchem sie die innere Entwickelung der Fähigkeiten und Neigungen begünstigen. Denn alle Bildung hat ihren Ursprung allein in dem Innern der Seele und kann durch äußre Veranstaltungen nur veranlaßt, nie hervorgebracht werden. Daß nun die Religion, welche ganz auf Ideen, Empfindungen und innerer Überzeugung beruht, ein solches Mittel sei, ist unleugbar. Wir bilden den Künstler, indem wir sein Auge an den Meisterwerken der Kunst üben, seine Einbildungskraft mit den schönen Gestalten der Produkte des Altertums nähren. Ebenso muß der sittliche Mensch gebildet werden durch das Anschauen hoher moralischer Vollkommenheit, im Leben durch Umgang und durch zweckmäßiges Studium der Geschichte, endlich durch das Anschauen der höchsten, idealischen Vollkommenheit im Bilde der Gottheit. Aber diese letztere Ansicht ist, wie ich im vorigen gezeigt zu haben glaube, nicht für jedes Auge gemacht, oder um ohne Bild zu reden, diese Vorstellungsart ist nicht jedem Charakter angemessen. Wäre sie es aber auch, so ist sie doch nur da wirksam, wo sie aus dem Zusammenhange aller Ideen und Empfindungen entspringt, wo sie mehr von selbst aus dem Innern der Seele hervorgeht, als von außen in dieselbe gelegt wird. Wegräumung der Hindernisse, mit Religionsideen vertraut zu werden, und Begünstigung des freien Untersuchungsgeistes sind folglich die einzigen Mittel, deren der Gesetzgeber sich bedienen darf; geht er weiter, sucht er die Religiosität direkt zu befördern oder zu leiten, oder nimmt er gar gewisse bestimmte Ideen in Schutz, fordert er statt wahrer Überzeugung Glauben auf Autorität, so hindert er das Aufstreben des Geistes, die Entwicklung der Seelenkräfte, so bringt er vielleicht durch Gewinnung der Einbildungskraft, durch augenblickliche Rührungen Gesetzmäßigkeit der Handlungen seiner Bürger, aber nie wahre Tugend hervor. Denn wahre Tugend ist unabhängig von aller und unverträglich mit befohlner und auf Autorität geglaubter Religion.

Wenn jedoch gewisse Religionsgrundsätze auch nur gesetzmäßige Handlungen hervorbringen, ist dies nicht genug, um den Staat zu berechtigen, sie auch auf Kosten der allgemeinen Denkfreiheit zu verbreiten? Die Absicht des Staats wird erreicht, wenn seine Gesetze streng befolgt werden, und der Gesetzgeber hat seiner Pflicht ein Genüge getan, wenn er weise Gesetze gibt und ihre Beobachtung von seinen Bürgern zu erhalten weiß. Überdies paßt jener aufgestellte Begriff von Tugend nur auf einige wenige Klassen der Mitglieder eines Staats, nur auf die, welche ihre äußre Lage in den Stand setzt, einen großen Teil ihrer Zeit und ihrer Kräfte dem Geschäfte ihrer inneren Bildung zu weihen. Die Sorgfalt des Staats muß sich auf die größere Anzahl erstrecken, und diese ist jenes höheren Grades der Moralität unfähig.

Ich erwähne hier nicht mehr der Sätze, welche ich in dem Anfange dieses Aufsatzes zu entwickeln versucht habe und die in der Tat den Grund dieser Einwürfe umstoßen, die Sätze nämlich, daß die Staatseinrichtung an sich nicht Zweck, sondern nur Mittel zur Bildung des Menschen ist und daß es daher dem Gesetzgeber nicht genügen kann, seinen Aussprüchen Autorität zu verschaffen, wenn nicht zugleich die Mittel, wodurch diese Autorität bewirkt wird, gut oder doch unschädlich sind. Es ist aber auch unrichtig, daß dem Staate allein die Handlungen seiner Bürger und ihre Gesetzmäßigkeit wichtig sei. Ein Staat ist eine so zusammengesetzte und verwickelte Maschine, daß Gesetze, die immer nur einfach, allgemein und von geringer Anzahl sein müssen, unmöglich allein darin hinreichen können. Das meiste bleibt immer den freiwilligen einstimmigen Bemühungen der Bürger zu tun übrig. Man braucht nur den Wohlstand kultivierter und aufgeklärter Nationen mit der Dürftigkeit roher und ungebildeter Völker zu vergleichen, um von diesem Satze überzeugt zu werden. Daher sind auch die Bemühungen aller, die sich je mit Staatseinrichtungen beschäftigt haben, immer dahin gegangen, das Wohl des Staats zum eignen Interesse des Bürgers zu machen und den Staat in eine Maschine zu verwandeln, die durch die innere Kraft ihrer Triebfedern in Gang erhalten würde und nicht unaufhörlich neuer äußrer Einwirkungen bedürfte. Wenn die neueren Staaten sich eines Vorzugs vor den alten rühmen dürfen, so ist es vorzüglich, weil sie diesen Grundsatz mehr realisierten. Selbst daß sie sich der Religion als eines Bildungsmittels bedienen, ist ein Beweis davon. Doch auch die Religion, insofern nämlich durch gewisse bestimmte Sätze nur gute Handlungen hervorgebracht oder durch positive Leitung überhaupt auf die Sitten gewirkt werden soll, wie es hier der Fall ist, ist ein fremdes, von außen einwirkendes Mittel. Daher muß es immer des Gesetzgebers letztes, aber – wie ihn wahre Kenntnis des Menschen bald lehren wird – nur durch Gewährung der höchsten Freiheit erreichbares Ziel bleiben, die Bildung der Bürger bis dahin zu erhöhen, daß sie alle Triebfedern zur Beförderung des Zwecks des Staats allein in der Idee des Nutzens finden, welchen ihnen die Staatseinrichtung zu Erreichung ihrer individuellen Absichten gewährt. Zu dieser Einsicht aber ist Aufklärung und hohe Geistesbildung notwendig, welche da nicht emporkommen können, wo der freie Untersuchungsgeist durch Gesetze beschränkt wird.


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