Wilhelm von Humboldt
Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen
Wilhelm von Humboldt

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VI

Eine tiefere und ausführlichere Prüfung erfordert die Sorgfalt des Staats für die innere Sicherheit der Bürger untereinander, zu der ich mich jetzt wende. Denn es scheint mir nicht hinlänglich, demselben bloß allgemein die Erhaltung derselben zur Pflicht zu machen, sondern ich halte es vielmehr für notwendig, die besonderen Grenzen dabei zu bestimmen oder, wenn dies allgemein nicht möglich sein sollte, wenigstens die Gründe dieser Unmöglichkeit auseinanderzusetzen und die Merkmale anzugeben, an welchen sie in gegebenen Fällen zu erkennen sein möchten. Schon eine sehr mangelhafte Erfahrung lehrt, daß diese Sorgfalt mehr oder minder weit ausgreifen kann, ihren Endzweck zu erreichen. Sie kann sich begnügen, begangene Unordnungen wiederherzustellen und zu bestrafen. Sie kann schon ihre Begehung überhaupt zu verhüten suchen, und sie kann endlich zu diesem Endzweck den Bürgern, ihrem Charakter und ihrem Geist, eine Wendung zu erteilen bemüht sein, die hierauf abzweckt. Auch gleichsam die Extension ist verschiedener Grade fähig. Es können bloß Beleidigungen der Rechte der Bürger und unmittelbarer Rechte des Staats untersucht und gerügt werden; oder man kann, indem man den Bürger als ein Wesen ansieht, das dem Staate die Anwendung seiner Kräfte schuldig ist und also durch Zerstörung oder Schwächung dieser Kräfte ihn gleichsam seines Eigentums beraubt, auch auf Handlungen ein wachsames Auge haben, deren Folgen sich nur auf den Handlenden selbst erstrecken. Alles dies fasse ich hier auf einmal zusammen und rede daher allgemein von allen Einrichtungen des Staats, welche in der Absicht der Beförderung der öffentlichen Sicherheit geschehen. Zugleich werden sich hier von selbst alle diejenigen darstellen, die, sollten sie auch nicht überall oder nicht bloß auf Sicherheit abzwecken, das moralische Wohl der Bürger angehen, da, wie ich schon oben bemerkt, die Natur der Sache selbst keine genaue Trennung erlaubt und diese Einrichtungen doch gewöhnlich die Sicherheit und Ruhe des Staats vorzüglich beabsichten. Ich werde dabei demjenigen Gange getreu bleiben, den ich bisher gewählt habe. Ich habe nämlich zuerst die größeste mögliche Wirksamkeit des Staats angenommen und nun nach und nach zu prüfen versucht, was davon abgeschnitten werden müsse. Jetzt ist mir nur die Sorge für die Sicherheit übriggeblieben. Bei dieser muß nun aber wiederum auf gleiche Weise verfahren werden, und ich werde daher dieselbe zuerst in ihrer größesten Ausdehnung betrachten, um durch allmähliche Einschränkungen auf diejenigen Grundsätze zu kommen, welche mir die richtigen scheinen. Sollte dieser Gang vielleicht für zu langsam und weitläuftig gehalten werden, so gebe ich gern zu, daß ein dogmatischer Vortrag gerade die entgegengesetzte Methode erfordern würde. Allein bei einem bloß untersuchenden, wie der gegenwärtige, ist man wenigstens gewiß, den ganzen Umfang des Gegenstandes umspannt, nichts übersehen und die Grundsätze gerade in der Folge entwickelt zu haben, in welcher sie wirklich auseinander herfließen.

Man hat, vorzüglich seit einiger Zeit, so sehr auf die Verhütung gesetzwidriger Handlungen und auf Anwendung moralischer Mittel im Staate gedrungen. Ich, sooft ich dergleichen oder ähnliche Aufforderungen höre, freue mich, gesteh ich, daß eine solche freiheitbeschränkende Anwendung bei uns immer weniger gemacht und, bei der Lage fast aller Staaten, immer weniger möglich wird. Man beruft sich auf Griechenland und Rom, aber eine genauere Kenntnis ihrer Verfassungen würde bald zeigen, wie unpassend diese Vergleichungen sind. Jene Staaten waren Republiken, ihre Anstalten dieser Art waren Stützen der freien Verfassung, welche die Bürger mit einem Enthusiasmus erfüllte, welcher den nachteiligen Einfluß der Einschränkung der Privatfreiheit minder fühlen und der Energie des Charakters minder schädlich werden ließ. Dann genossen sie auch übrigens einer größeren Freiheit als wir, und was sie aufopferten, opferten sie einer andren Tätigkeit, dem Anteil an der Regierung, auf. In unsren meistenteils monarchischen Staaten ist das alles ganz anders. Was die Alten von moralischen Mitteln anwenden mochten, Nationalerziehung, Religion, Sittengesetze, alles würde bei uns minder fruchten und einen größeren Schaden bringen. Dann war auch das meiste, was man jetzt so oft für Wirkung der Klugheit des Gesetzgebers hält, bloß schon wirkliche, nur vielleicht wankende und daher der Sanktion des Gesetzes bedürfende Volkssitte. Die Übereinstimmung der Einrichtungen des Lykurgus mit der Lebensart der meisten unkultivierten Nationen hat schon Ferguson meisterhaft gezeigt, und da höhere Kultur die Nation verfeinerte, erhielt sich auch in der Tat nicht mehr als der Schatten jener Einrichtungen. Endlich steht, dünkt mich, das Menschengeschlecht jetzt auf einer Stufe der Kultur, von welcher es sich nur durch Ausbildung der Individuen höher emporschwingen kann; und daher sind alle Einrichtungen, welche diese Ausbildung hindern und die Menschen mehr in Massen zusammendrängen, jetzt schädlicher als ehmals.

Schon diesen wenigen Bemerkungen zufolge erscheint, um zuerst von demjenigen moralischen Mittel zu reden, was am weitesten gleichsam ausgreift, öffentliche, d. i. vom Staat angeordnete oder geleitete Erziehung wenigstens von vielen Seiten bedenklich. Nach dem ganzen vorigen Räsonnement kommt schlechterdings alles auf die Ausbildung des Menschen in der höchsten Mannigfaltigkeit an; öffentliche Erziehung aber muß, selbst wenn sie diesen Fehler vermeiden, wenn sie sich bloß darauf einschränken wollte, Erzieher anzustellen und zu unterhalten, immer eine bestimmte Form begünstigen. Es treten daher alle die Nachteile bei derselben ein, welche der erste Teil dieser Untersuchung hinlänglich dargestellt hat, und ich brauche nur noch hinzuzufügen, daß jede Einschränkung verderblicher wird, wenn sie sich auf den moralischen Menschen bezieht, und daß, wenn irgend etwas Wirksamkeit auf das einzelne Individuum fordert, dies gerade die Erziehung ist, welche das einzelne Individuum bilden soll. Es ist unleugbar, daß gerade daraus sehr heilsame Folgen entspringen, daß der Mensch in der Gestalt, welche ihm seine Lage und die Umstände gegeben haben, im Staate selbsttätig wird und nun durch den Streit – wenn ich so sagen darf – der ihm vom Staat angewiesenen Lage und der von ihm selbst gewählten, zum Teil er anders geformt wird, zum Teil die Verfassung des Staats selbst Änderungen erleidet, wie denn dergleichen obgleich freilich auf einmal fast unbemerkbare Änderungen, nach den Modifikationen des Nationalcharakters, bei allen Staaten unverkennbar sind. Dies aber hört wenigstens immer in dem Grade auf, in welchem der Bürger von seiner Kindheit an schon zum Bürger gebildet wird. Gewiß ist es wohltätig, wenn die Verhältnisse des Menschen und des Bürgers soviel als möglich zusammenfallen; aber es bleibt dies doch nur alsdann, wenn das des Bürgers so wenig eigentümliche Eigenschaften fordert, daß sich die natürliche Gestalt des Menschen, ohne etwas aufzuopfern, erhalten kann – gleichsam das Ziel, wohin alle Ideen, die ich in dieser Untersuchung zu entwickeln wage, allein hinstreben. Ganz und gar aber hört es auf, heilsam zu sein, wenn der Mensch dem Bürger geopfert wird. Denn wenngleich alsdann die nachteiligen Folgen des Mißverhältnisses hinwegfallen, so verliert auch der Mensch dasjenige, welches er gerade durch die Vereinigung in einen Staat zu sichern bemüht war. Daher müßte, meiner Meinung zufolge, die freieste, so wenig als möglich schon auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichtete Bildung des Menschen überall vorangehen. Der so gebildete Mensch müßte dann in den Staat treten und die Verfassung des Staats sich gleichsam an ihm prüfen. Nur bei einem solchen Kampfe würde ich wahre Verbesserung der Verfassung durch die Nation mit Gewißheit hoffen und nur bei einem solchen schädlichen Einfluß der bürgerlichen Einrichtung auf den Menschen nicht besorgen. Denn selbst wenn die letztere sehr fehlerhaft wäre, ließe sich denken, wie gerade durch ihre einengenden Fesseln die widerstrebende oder trotz derselben sich in ihrer Größe erhaltende Energie des Menschen gewänne. Aber dies könnte nur sein, wenn dieselbe vorher sich in ihrer Freiheit entwickelt hätte. Denn welch ein ungewöhnlicher Grad gehörte dazu, sich auch da, wo jene Fesseln von der ersten Jugend an drückten, noch zu erheben und zu erhalten? Jede öffentliche Erziehung aber, da immer der Geist der Regierung in ihr herrscht, gibt dem Menschen eine gewisse bürgerliche Form. Wo nun eine solche Form an sich bestimmt und in sich, wenngleich einseitig, doch schön ist, wie wir es in den alten Staaten und vielleicht noch jetzt in mancher Republik finden, da ist nicht allein die Ausführung leichter, sondern auch die Sache selbst minder schädlich. Allein in unsren monarchischen Verfassungen existiert – und gewiß zum nicht geringen Glück für die Bildung des Menschen – eine solche bestimmte Form ganz und gar nicht. Es gehört offenbar zu ihren obgleich auch von manchen Nachteilen begleiteten Vorzügen, daß, da doch die Staatsverbindung immer nur als ein Mittel anzusehen ist, nicht soviel Kräfte der Individuen auf dies Mittel verwandt zu werden brauchen als in Republiken. Sobald der Untertan den Gesetzen gehorcht und sich und die Seinigen im Wohlstande und einer nicht schädlichen Tätigkeit erhält, kümmert den Staat die genauere Art seiner Existenz nicht. Hier hätte daher die öffentliche Erziehung, die schon als solche, sei es auch unvermerkt, den Bürger oder Untertan, nicht den Menschen, wie die Privaterziehung, vor Augen hat, nicht eine bestimmte Tugend oder Art zu sein zum Zweck; sie suchte vielmehr gleichsam ein Gleichgewicht aller, da nichts so sehr als gerade dies die Ruhe hervorbringt und erhält, welche eben diese Staaten am eifrigsten beabsichten. Ein solches Streben aber gewinnt, wie ich schon bei einer andren Gelegenheit zu zeigen versucht habe, entweder keinen Fortgang oder führt auf Mangel an Energie; da hingegen die Verfolgung einzelner Seiten, welche der Privaterziehung eigen ist, durch das Leben in verschiedenen Verhältnissen und Verbindungen jenes Gleichgewicht sichrer und ohne Aufopferung der Energie hervorbringt.

Will man aber der öffentlichen Erziehung alle positive Beförderung dieser oder jener Art der Ausbildung untersagen, will man es ihr zur Pflicht machen, bloß die eigene Entwickelung der Kräfte zu begünstigen, so ist dies einmal an sich nicht ausführbar, da, was Einheit der Anordnung hat, auch allemal eine gewisse Einförmigkeit der Wirkung hervorbringt, und dann ist auch unter dieser Voraussetzung der Nutzen einer öffentlichen Erziehung nicht abzusehen. Denn ist es bloß die Absicht zu verhindern, daß Kinder nicht ganz unerzogen bleiben, so ist es ja leichter und minder schädlich, nachlässigen Eltern Vormünder zu setzen oder dürftige zu unterstützen. Ferner erreicht auch die öffentliche Erziehung nicht einmal die Absicht, welche sie sich vorsetzt, nämlich die Umformung der Sitten nach dem Muster, welches der Staat für das ihm angemessenste hält. So wichtig und auf das ganze Leben einwirkend auch der Einfluß der Erziehung sein mag, so sind doch noch immer wichtiger die Umstände, welche den Menschen durch das ganze Leben begleiten. Wo also nicht alles zusammenstimmt, da vermag diese Erziehung allein nicht durchzudringen. Überhaupt soll die Erziehung nur, ohne Rücksicht auf bestimmte, den Menschen zu erteilende bürgerliche Formen, Menschen bilden; so bedarf es des Staats nicht. Unter freien Menschen gewinnen alle Gewerbe besseren Fortgang, blühen alle Künste schöner auf, erweitern sich alle Wissenschaften. Unter ihnen sind auch alle Familienbande enger, die Eltern eifriger bestrebt, für ihre Kinder zu sorgen, und bei höherem Wohlstande auch vermögender, ihren Wünschen hierin zu folgen. Bei freien Menschen entsteht Nacheiferung, und es bilden sich bessere Erzieher, wo ihr Schicksal von dem Erfolg ihrer Arbeiten, als wo es von der Beförderung abhängt, die sie vom Staat zu erwarten haben. Es wird daher weder an sorgfältiger Familienerziehung noch an Anstalten so nützlicher und notwendiger gemeinschaftlicher Erziehung fehlenDans une société bien ordonnée, au contraire, tout invite les hommes à cultiver leurs moyens naturels: sans qu'on s'en mêle, l'éducation sera bonne; elle sera même d'autant meilleure, qu'on aura plus laissé à faire à l'industrie des maîtres, et à l'émulation des élèves. Mirabeau s. l'éducat. publ. p. 11.. Soll aber öffentliche Erziehung dem Menschen eine bestimmte Form erteilen, so ist, was man auch sagen möge, zur Verhütung der Übertretung der Gesetze, zur Befestigung der Sicherheit so gut als nichts getan. Denn Tugend und Laster hängen nicht an dieser oder jener Art des Menschen zu sein, sind nicht mit dieser oder jener Charakterseite notwendig verbunden, sondern es kommt in Rücksicht auf sie weit mehr auf die Harmonie oder Disharmonie der verschiedenen Charakterzüge, auf das Verhältnis der Kraft zu der Summe der Neigungen usf. an. Jede bestimmte Charakterbildung ist daher eigner Ausschweifungen fähig und artet in dieselben aus. Hat daher eine ganze Nation ausschließlich vorzüglich eine gewisse erhalten, so fehlt es an aller entgegenstrebenden Kraft und mithin an allem Gleichgewicht. Vielleicht liegt sogar hierin auch ein Grund der häufigen Veränderungen der Verfassung der alten Staaten. Jede Verfassung wirkte so sehr auf den Nationalcharakter, dieser, bestimmt gebildet, artete aus und brachte eine neue hervor. Endlich wirkt öffentliche Erziehung, wenn man ihr völlige Erreichung ihrer Absicht zugestehen will, zu viel. Um die in einem Staat notwendige Sicherheit zu erhalten, ist Umformung der Sitten selbst nicht notwendig. Allein die Gründe, womit ich diese Behauptung zu unterstützen gedenke, bewahre ich der Folge auf, da sie auf das ganze Bestreben des Staats, auf die Sitten zu wirken, Bezug haben und mir noch vorher von einem paar einzelner, zu demselben gehöriger Mittel zu reden übrigbleibt. Öffentliche Erziehung scheint mir daher ganz außerhalb der Schranken zu liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeit halten mußAinsi c'est peut-être un problème de savoir, si les législateurs Français doivent s'occuper de l'éducation publique autrement que pour en protéger les progrès, et si la constitution la plus favorable au développement du moi humain et les lois les plus propres à mettre chacun à sa place ne sont pas la seule éducation, que le peuple doive attendre d'eux. l. c. p. 11. D'après cela, les principes rigoureux sembleraient exiger que l'Assemblée Nationale ne s'occupât de l'éducation que pour l'enlever à des pouvoirs, ou à des corps qui peuvent en dépraver l'influence. l. c. p. 12. .


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