Wilhelm von Humboldt
Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen
Wilhelm von Humboldt

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Ich könnte hier ein erfreuliches Gegenbild eines Volkes aufstellen, das in der höchsten und ungebundensten Freiheit und in der größesten Mannigfaltigkeit seiner eignen und der übrigen Verhältnisse um sich her existierte; ich könnte zeigen, wie hier noch in eben dem Grade schönere, höhere und wunderbarere Gestalten der Mannigfaltigkeit und der Originalität erscheinen müßten als in dem schon so unnennbar reizenden Altertum, in welchem die Eigentümlichkeit eines minder kultivierten Volks allemal roher und gröber ist, in welchem mit der Feinheit auch allemal die Stärke und selbst der Reichtum des Charakters wächst und in welchem, bei der fast grenzenlosen Verbindung aller Nationen und Weltteile miteinander, schon die Elemente gleichsam zahlreicher sind; zeigen, welche Stärke hervorblühen müßte, wenn jedes Wesen sich aus sich selbst organisierte, wenn es, ewig von den schönsten Gestalten umgeben, mit uneingeschränkter und ewig durch die Freiheit ermunterter Selbsttätigkeit diese Gestalten in sich verwandelte; wie zart und fein das innere Dasein des Menschen sich ausbilden, wie es die angelegentlichere Beschäftigung desselben werden, wie alles Physische und Äußere in das Innere, Moralische und Intellektuelle übergehen und das Band, welches beide Naturen im Menschen verknüpft, an Dauer gewinnen würde, wenn nichts mehr die freie Rückwirkung aller menschlichen Beschäftigungen auf den Geist und den Charakter störte; wie keiner dem andren gleichsam aufgeopfert würde, wie jeder seine ganze, ihm zugemessene Kraft für sich behielte und ihn eben darum eine noch schönere Bereitwilligkeit begeisterte, ihr eine für andre wohltätige Richtung zu geben; wie, wenn jeder in seiner Eigentümlichkeit fortschritte, mannigfaltigere und feinere Nuancen des schönen menschlichen Charakters entstehen und Einseitigkeit um so seltener sein würde, als sie überhaupt immer nur eine Folge der Schwäche und Dürftigkeit ist und als jeder, wenn nichts mehr den andren zwänge, sich ihm gleich zu machen, durch die immer fortdauernde Notwendigkeit der Verbindung mit andren, dringender veranlaßt werden würde, sich nach ihnen anders und anders selbst zu modifizieren; wie in diesem Volke keine Kraft und keine Hand für die Erhöhung und den Genuß des Menschendaseins verlorenginge; endlich zeigen, wie schon dadurch ebenso auch die Gesichtspunkte aller nur dahin gerichtet und von jedem andren falschen oder doch minder der Menschheit würdigen Endzweck abgewandt werden würden. Ich könnte dann damit schließen, aufmerksam darauf zu machen, wie diese wohltätige Folgen einer solchen Konstitution, unter einem Volke, welches es sei, ausgestreut, selbst dem freilich nie ganz tilgbaren Elende der Menschen, den Verheerungen der Natur, dem Verderben der feindseligen Neigungen und den Ausschweifungen einer zu üppigen Genussesfülle einen unendlich großen Teil seiner Schrecklichkeit nehmen würden. Allein ich begnüge mich, das Gegenbild geschildert zu haben; es ist mir genug, Ideen hinzuwerfen, damit ein reiferes Urteil sie prüfe.

Wenn ich aus dem ganzen bisherigen Räsonnement das letzte Resultat zu ziehen versuche, so muß der erste Grundsatz dieses Teils der gegenwärtigen Untersuchung der sein: der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem andren Endzwecke beschränke er ihre Freiheit.

Ich müßte mich jetzt zu den Mitteln wenden, durch welche eine solche Sorgfalt tätig geübt wird; allein da ich sie selbst, meinen Grundsätzen gemäß, gänzlich mißbillige, so kann ich hier von diesen Mitteln schweigen und mich begnügen, nur allgemein zu bemerken, daß die Mittel, wodurch die Freiheit zum Behuf des Wohlstandes beschränkt wird, von sehr mannigfaltiger Natur sein können, direkte: Gesetze, Ermunterungen, Preise; indirekte: wie daß der Landesherr selbst der beträchtlichste Eigentümer ist und daß er einzelnen Bürgern überwiegende Rechte, Monopolien usf. einräumt und daß alle einen, obgleich dem Grade und der Art nach sehr verschiednen Nachteil mit sich führen. Wenn man hier auch gegen das erstere und letztere keinen Einwurf erregte, so scheint es dennoch sonderbar, dem Staate wehren zu wollen, was jeder einzelne darf, Belohnungen aussetzen, unterstützen, Eigentümer sein. Wäre es in der Ausübung möglich, daß der Staat ebenso eine zwiefache Person ausmachte, als er es in der Abstraktion tut, so wäre hiergegen nichts zu erinnern. Es wäre dann gerade nicht anders, als wenn eine Privatperson einen mächtigen Einfluß erhielte. Allein da, jenen Unterschied zwischen Theorie und Praxis noch abgerechnet, der Einfluß einer Privatperson durch Konkurrenz andrer, Versplitterung ihres Vermögens, selbst durch ihren Tod aufhören kann, lauter Dinge, die beim Staate nicht zutreffen, so steht noch immer der Grundsatz, daß der Staat sich in nichts mischen darf, was nicht allein die Sicherheit angeht, um so mehr entgegen, als derselbe schlechterdings nicht durch Beweise unterstützt worden ist, welche gerade aus der Natur des Zwanges allein hergenommen gewesen wären. Auch handelt eine Privatperson aus andren Gründen als der Staat. Wenn z. B. ein einzelner Bürger Prämien aussetzt, die ich auch – wie es doch wohl nie ist – an sich gleich wirksam mit denen des Staats annehmen will, so tut er dies seines Vorteils halber. Sein Vorteil aber steht, wegen des ewigen Verkehrs mit allen übrigen Bürgern und wegen der Gleichheit seiner Lage mit der ihrigen, mit dem Vorteile oder Nachteile andrer, folglich mit ihrem Zustande in genauem Verhältnis. Der Zweck, den er erreichen will, ist also schon gewissermaßen in der Gegenwart vorbereitet und wirkt folglich darum heilsam. Die Gründe des Staats hingegen sind Ideen und Grundsätze, bei welchen auch die genaueste Berechnung oft täuscht; und sind es aus der Privatlage des Staats geschöpfte Gründe, so ist diese schon an sich nur zu oft für den Wohlstand und die Sicherheit der Bürger bedenklich und auch der Lage der Bürger nie in eben dem Grade gleich. Wäre sie dies, nun so ists auch in der Wirklichkeit nicht der Staat mehr, der handelt, und die Natur dieses Räsonnements selbst verbietet dann seine Anwendung.

Eben dies und das ganze vorige Räsonnement aber ging allein aus Gesichtspunkten aus, welche bloß die Kraft des Menschen als solchen und seine innere Bildung zum Gegenstand hatten. Mit Recht würde man dasselbe der Einseitigkeit beschuldigen, wenn es die Resultate, deren Dasein so notwendig ist, damit jene Kraft nur überhaupt wirken kann, ganz vernachlässigte. Es entsteht also hier noch die Frage, ob eben diese Dinge, von welchen hier die Sorgfalt des Staats entfernt wird, ohne ihn und für sich gedeihen können. Hier wäre es nun der Ort, die einzelnen Arten der Gewerbe, Ackerbau, Industrie, Handel und alles übrige, wovon ich hier zusammengenommen rede, einzeln durchzugehen und mit Sachkenntnis auseinanderzusetzen, welche Nachteile und Vorteile Freiheit und Selbstüberlassung ihnen gewährt. Mangel eben dieser Sachkenntnis hindert mich, eine solche Erörterung einzugehen. Auch halte ich dieselbe für die Sache selbst nicht mehr notwendig. Indes, gut und vorzüglich historisch ausgeführt, würde sie den sehr großen Nutzen gewähren, diese Ideen mehr zu empfehlen und zugleich die Möglichkeit einer sehr modifizierten Ausführung – da die einmal bestehende wirkliche Lage der Dinge schwerlich in irgendeinem Staat eine uneingeschränkte erlauben dürfte – zu beurteilen. Ich begnüge mich an einigen wenigen allgemeinen Bemerkungen. Jedes Geschäft – welcher Art es auch sei – wird besser betrieben, wenn man es um seiner selbst willen als den Folgen zuliebe treibt. Dies liegt so sehr in der Natur des Menschen, daß gewöhnlich, was man anfangs nur des Nutzens wegen wählt, zuletzt für sich Reiz gewinnt. Nun aber rührt dies bloß daher, weil dem Menschen Tätigkeit lieber ist als Besitz, allein Tätigkeit nur, insofern sie Selbsttätigkeit ist. Gerade der rüstigste und tätigste Mensch würde am meisten einer erzwungenen Arbeit Müßiggang vorziehn. Auch wächst die Idee des Eigentums nur mit der Idee der Freiheit, und gerade die am meisten energische Tätigkeit danken wir dem Gefühle des Eigentums. Jede Erreichung eines großen Endzwecks erfordert Einheit der Anordnung. Das ist gewiß. Ebenso auch jede Verhütung oder Abwehrung großer Unglücksfälle, Hungersnot, Überschwemmungen usf. Allein diese Einheit läßt sich auch durch Nationalanstalten, nicht bloß durch Staatsanstalten hervorbringen. Einzelnen Teilen der Nation und ihr selbst im Ganzen muß nur Freiheit gegeben werden, sich durch Verträge zu verbinden. Es bleibt immer ein unleugbar wichtiger Unterschied zwischen einer Nationalanstalt und einer Staatseinrichtung. Jene hat nur eine mittelbare, diese eine unmittelbare Gewalt. Bei jener ist daher mehr Freiheit im Eingehen, Trennen und Modifizieren der Verbindung. Anfangs sind höchst wahrscheinlich alle Staatsverbindungen nichts als dergleichen Nationenvereine gewesen. Allein hier zeigt eben die Erfahrung die verderblichen Folgen, wenn die Absicht, Sicherheit zu erhalten und andre Endzwecke zu erreichen, miteinander verbunden wird. Wer dieses Geschäft besorgen soll, muß, um der Sicherheit willen, absolute Gewalt besitzen. Diese aber dehnt er nun auch auf das übrige aus, und je mehr sich die Einrichtung von ihrer Entstehung entfernt, desto mehr wächst die Macht und desto mehr verschwindet die Erinnerung des Grundvertrags. Eine Anstalt im Staat hingegen hat nur Gewalt, insofern sie diesen Vertrag und sein Ansehen erhält. Schon dieser Grund allein könnte hinreichend scheinen. Allein dann, wenn auch der Grundvertrag genau bewahrt würde und die Staatsverbindung im engsten Verstande eine Nationalverbindung wäre, so könnte dennoch der Wille der einzelnen Individuen sich nur durch Repräsentation erklären, und ein Repräsentant mehrerer kann unmöglich ein so treues Organ der Meinung der einzelnen Repräsentierten sein. Nun aber führen alle im vorigen entwickelte Gründe auf die Notwendigkeit der Einwilligung jedes einzelnen. Eben diese schließt auch die Entscheidung nach der Stimmenmehrheit aus, und doch ließe sich keine andre in einer solchen Staatsverbindung, welche sich auf diese das positive Wohl der Bürger betreffende Gegenstände verbreitete, denken. Den nicht Einwilligenden bliebe also nichts übrig, als aus der Gesellschaft zu treten, dadurch ihrer Gerichtsbarkeit zu entgehen und die Stimmenmehrheit nicht mehr für sich geltend zu machen. Allein dies ist beinah bis zur Unmöglichkeit erschwert, wenn aus dieser Gesellschaft gehen zugleich aus dem Staate gehen heißt. Ferner ist es besser, wenn bei einzelnen Veranlassungen einzelne Verbindungen eingegangen, als allgemeinere für unbestimmte künftige Fälle geschlossen werden. Endlich entstehen auch Vereinigungen freier Menschen in einer Nation mit größerer Schwierigkeit. Wenn nun dies auf der einen Seite auch der Erreichung der Endzwecke schadet – wogegen doch immer zu bedenken bleibt, daß allgemein, was schwerer entsteht, weil gleichsam die langgeprüfte Kraft sich ineinander fügt, auch eine festere Dauer gewinnt –, so ist doch gewiß überhaupt jede größere Vereinigung minder heilsam. Je mehr der Mensch für sich wirkt, desto mehr bildet er sich. In einer großen Vereinigung wird er zu leicht Werkzeug. Auch sind diese Vereinigungen schuld, daß oft das Zeichen an die Stelle der Sache tritt, welches der Bildung allemal hinderlich ist. Die tote Hieroglyphe begeistert nicht wie die lebendige Natur. Ich erinnere hier nur statt alles Beispiels an Armenanstalten. Tötet etwas andres so sehr alles wahre Mitleid, alle hoffende, aber anspruchlose Bitte, alles Vertrauen des Menschen auf Menschen? Verachtet nicht jeder den Bettler, dem es lieber wäre, ein Jahr im Hospital bequem ernährt zu werden, als nach mancher erduldeten Not nicht auf eine hinwerfende Hand, aber auf ein teilnehmendes Herz zu stoßen? Ich gebe es also zu, wir hätten diese schnellen Fortschritte ohne die großen Massen nicht gemacht, in welchen das Menschengeschlecht, wenn ich so sagen darf, in den letzten Jahrhunderten gewirkt hat; allein nur die schnellen nicht. Die Frucht wäre langsamer, aber dennoch gereift. Und sollte sie nicht segenvoller gewesen sein? Ich glaube daher von diesem Einwurf zurückkehren zu dürfen. Zwei andre bleiben der Folge zur Prüfung aufbewahrt, nämlich, ob auch bei der Sorglosigkeit, die dem Staate hier vorgeschrieben wird, die Erhaltung der Sicherheit möglich ist und ob nicht wenigstens die Verschaffung der Mittel, welche dem Staate notwendig zu seiner Wirksamkeit eingeräumt werden müssen, ein vielfacheres Eingreifen der Räder der Staatsmaschine in die Verhältnisse der Bürger notwendig macht?


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