Victor Hugo
Die Elenden. Erste Abtheilung. Fantine
Victor Hugo

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IX.
Lustiges Ende der Freude

Als die jungen Mädchen allein zurückgeblieben waren, stützten sie sich zu zwei und zwei auf die Fensterbrüstungen, plauderten, bogen den Kopf vor und sprachen zu einander von einem Fenster zum andern.

Sie sehen die jungen Leute das Cabaret Bombarda's Arm in Arm verlassen. Sie wendeten sich um, und machten ihnen lachend Zeichen und verschwanden in der staubigen Sonntagsmenge, welche allwöchentlich die Champs-Elysées erfüllt.

»Bleiben Sie nicht zu lange!« rief Fantine.

»Was werden sie uns bringen?« sagte Zéphine.

»Ganz gewiß wird es hübsch sein,« sagte Dahlia.

»Ich,« fügte Favourite hinzu, »will, daß es von Gold sei.«

Bald wurden sie durch die Bewegung des Wassers am Ufer zerstreut, welche sie durch die Zweige der großen Bäume bemerkten, was sie sehr unterhielt. Es war die Stunde der Abfahrt der Mallesposten und Diligencen; beinahe alle Messagerien des Südens und des Westens fuhren damals durch die Champs-Elysées. Die meisten folgten dem Quai und verließen Paris durch die Barrière von Passy. Von Minute zu Minute rollte irgend ein schwerfälliger Wagen, gelb und schwarz lackirt, hochbeladen lärmend bespannt, mißgestaltet durch die Koffer, Päckchen und Mantelsäcke, angefüllt von sogleich verschwindenden Köpfen, die Chaussee zermalmend, alle Pflastersteine in Trümmer verwandelnd, funkensprühend, durch die Menge, funkensprühend wie Schmiede, den Staub zum Rauch und mit dem Schein der Wuth. Dieses Getöse ergötzte die jungen Mädchen. Favourite rief aus:

»Welch' eine Freude! Man sollte glauben, es flögen ganze Haufen von Ketten davon.«

Einer dieser Wagen, den man unter dem dichten Laubwerk der Ulmen kaum bemerken konnte, hielt einen Augenblick an, und fuhr dann in Galopp weiter. Das wunderte Fantine.

»Das ist eigentümlich!« sagte sie. »Ich glaube, die Diligence hielt nie an.«

Favourite zuckte die Achseln.

»Die Fantine ist merkwürdig. Ich will sie als Sehenswürdigkeit betrachten. Sie wundert sich über die einfachsten Dinge. Eine Annahme: ich bin ein Reisender; man sagt zu der Diligence: ich gehe voraus, auf dem Quai nehmen Sie mich im Vorüberfahren auf. Die Diligence kommt vorüber, sieht mich, hält an und nimmt mich auf. Das geschieht alle Tage. Du kennst das Leben nicht, meine Liebe.«

So verfloß eine gewisse Zeit. Plötzlich machte Favourite eine Bewegung, wie Jemand, der erwacht.

»Nun,« sagte sie, »die Ueberraschung?«

»Apropos ja,« fiel Dahlia ein, »die berühmte Ueberraschung.«

»Sie bleiben sehr lange!« sagte Fantine.

Als Fantine ihren Seufzer beendigte, trat der Kellner, der sie bei der Mahlzeit bedient hatte, ein. Er hielt in der Hand Etwas, das einem Briefe glich.

»Was ist das?« fragte Favourite.

Der Kellner antwortete:

»Es ist ein Papier, welches die Herren für die Damen hinterlassen haben.«

»Weshalb brachten Sie es nicht sogleich?«

»Weil die Herren,« entgegnete der Kellner, befohlen hatten, es den Damen erst nach einer Stunde einzuhändigen.«

Favourite entriß das Papier den Händen des Kellners. Es war in der That ein Brief.

»Ei,« sagte sie, »es ist keine Adresse darauf. Aber es steht hier geschrieben: Dies ist die Ueberraschung

Sie entsiegelte rasch den Brief, öffnete ihn und las (Sie konnte nämlich lesen):

»O unsere Geliebten!«

»Ihr müßt wissen, daß wir Verwandte haben. Verwandte, davon wißt Ihr nicht viel. Das nennt sich Vater und Mutter in dem Civil-Codex; ist kindisch und rechtschaffen. Nun aber seufzen diese Verwandten, die Greise fordern uns zurück, diese guten Männer und diese guten Frauen nennen uns verlorene Söhne, wünschen unsere Rückkehr und erbieten sich, ein Kalb zu schlachten. Wir gehorchen ihnen, da wir tugendhaft sind. In dem Augenblicke, wo Ihr dieses lesen werdet, tragen fünf feurige Pferde uns zu unseren Papa's und zu unseren Mama's zurück. Wir brechen unser Lager ab, wie Bossuet sagt. Wir reisen, wir sind abgereist. Wir fliehen in den Armen Lafittes und auf den Flügeln Caillard's. Die Diligence von Toulouse entreißt uns dem Abgrunde, und der Abgrund seid Ihr, unsere schönen Kleinen.

»Wir kehren zurück in die Gesellschaft, zu der Pflicht und der Ordnung. Im gestreckten Trabe, drei Meilen in der Runde. Es ist nöthig für das Vaterland, daß wir gleich aller Welt Präfecten, Familienväter, Feldhüter und Staatsräthe werden. Verehrt uns. Wir opferen uns auf. Beweint uns schnell und ersetzt unsere Stellen bald. Wenn dieser Brief Euch das Herz zerreißt, so vergeltet es ihm. Adieu.

»Beinahe zwei Jahre lang haben wir Euch glücklich gemacht. Zürnt uns darüber nicht.«

Unterschrift: Blachevelle
Fameuil      
Lisfolier      
Tholomyès  

»Nachschrift. Das Essen ist bezahlt.«

Die vier jungen Mädchen sahen einander an.

Favourite brach zuerst das Schweigen.

»Nun,« rief sie aus, »es war aber doch eine gute Posse.«

»Es ist sehr komisch,« sagte Zéphine.

»Blachevelle muß diesen Gedanken gehabt haben,« nahm Favourite wieder das Wort. »Das macht mich verliebt in ihn. Sobald verschwunden, sobald geliebt. Das ist die Geschichte.«

»Nein,« sagte Dahlia, »es ist ein Einfall von Tholomyès; das ist leicht zu erkennen.«

»In diesem Falle,« entgegnete Favourite, »Tod dem Blachevelle und es lebe Tholomyès!«

»Es lebe Tholomyès'« riefen Dahlia und Zéphine.

Und sie brachen in lautes Gelächter aus.

Fantine lachte gleich den Uebrigen.

Eine Stunde darauf, als sie nach ihrem Stübchen zurückgekehrt war, weinte sie. Es war wie wir sagten, ihre erste Liebe; sie hatte sich diesem Tholomyès hingegeben, wie einem Gatten, und das arme Mädchen hatte ein Kind.

 

Ende des ersten Theiles.

 


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