Victor Hugo
Die Elenden. Erste Abtheilung. Fantine
Victor Hugo

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VII.
Weisheit des Tholomyès

Während Einige sangen, plauderten die Andern tumultarisch und Alle zugleich. Es war nichts mehr als Lärm. Tholomyès intervenirte.

»Sprechen wir nicht auf's Ungewisse, noch zu schnell«, rief er aus. »Ueberlegen wir, ob wir geistreich sein wollen. Allzuviel Improvisation verdummt schnell den Geist. Bier, das rinnt, setzt kein Moos an. Meine Herren, keine Ueberstürzung. Mischen wir die Majestät mit der Lust; essen wir mit Sammlung, festiviren wir langsam. Wir brauchen uns nicht zu übereilen. Seht nur den Frühling; wenn er sich beeilt, wird er verbrannt, das heißt verfroren. Das Uebermaß des Eifers verdirbt die Pfirsichen- und die Aprikosenbäume. Das Uebermaß des Eifers tödtet die Anmuth und die Freude bei guten Mahlzeiten. Kein Eifer, meine Herren! Grimod de la Reynière ist der Ansicht Talleyrand's«.

Eine dumpfe Rebellion grollte in der Menge.

»Tholomyès, laß uns zufrieden«, sagte Blachevelle.

»Nieder mit dem Tyrannen!« rief Fameuil.

»Bombarda, Bombance und Bamboche!« schrie Listolier.

»Der Sonntag existirt«, nahm Fameuil wieder das Wort.

»Wir sind nüchtern«, fügte Listolier hinzu.

»Tholomyès«, sagte Blachevelle, »betrachte meine Ruhe (mon calmeUnübersetzbares Wortspiel, welches indeß des Zusammenhangs wegen nicht ausgelassen werden konnte.).«

»Du bist der Marquis dazu,« antwortete Tholomyès.

Dieses sehr mittelmäßige Wortspiel macht die Wirkung eines Steines, der in den Sumpf geworfen wird. Der Marquis von Montcalme war ein damals berühmter Royalist. Alle Frösche schwiegen.

»Freunde,« rief Tholomyès mit dem Tone eines Menschen, der die Herrschaft wiedergewinnt, »erholt Euch. Dieses vom Himmel gefallene Wortspiel muß nicht mit zu viel Erstaunen aufgenommen werden. Alles was auf diese Weise einfällt, ist nicht nothwendiger Weise des Enthusiasmus und der Achtung würdig. Das Wortspiel ist der Mist des fliegenden Geistes. Der Spaß fällt irgend wo hin, und nachdem der Geist eine Dummheit hat fallen lassen, schwingt er sich in den Azur auf. Ein weißlicher Fleck, der sich auf dem Fels breit füllt, hindert den Condor nicht an seinem Fluge. Weit sei es von mir entfernt, das Wortspiel zu schmähen. Ich ehre es im Verhältnis zu seinen Verdiensten; weiter nichts. Alles was es Erhabenes, Göttliches und Reizendes in der Menschheit giebt, und vielleicht auch außer der Menschheit, hat Wortspiele gemacht. Jesus Christus machte ein Wortspiel über den heiligen Petrus, Moses über den Isaak, Aeschylus über Polycindes, Cleopatra über Octavian. Und merkt Euch, daß dieses Wortspiel Cleopatra's der Schlacht von Actium vorherging, und daß ohne dasselbe sich Niemand der Stadt Toryne erinnern würde, ein griechischer Name, welcher einen Kochlöffel bedeutet. Dies zugegeben, kehre ich zu meiner Ermahnungsrede zurück. Meine Brüder, ich wiederhole es, kein Eifer, kein Mischmasch, kein Exceß, selbst nicht in Ausfällen, Lustigkeiten, in der Freude und in den Wortspielen. Hört mich an. Ich besitze die Klugheit des Amphiaraus und die Kahlköpfigkeit Cäsars. Es ist eine Grenze nöthig selbst für die Rebus. Est modus in rebus. Es ist eine Grenze nöthig selbst für die Mittagsmahlzeiten. Sie lieben die Apfelschnittchen, meine Damen, doch mißbrauchen Sie dieselben nicht. Es ist gesunder Sinn und Kunst erforderlich auch bei den Apfelschnitten. Die Gefräßigkeit züchtigt die Gefräßigen. Gula punit gulax. Die Unverdaulichkeit ist durch den guten Gott damit beauftragt den Magen die Moral zu lesen. Und merken Sie sich das: Jede unserer Leidenschaften, selbst die Liebe hat einen Magen, den man nicht überfüllen darf. Bei allen Dingen muß man bei Zeiten das Wort finis schreiben; man muß sich bezwingen, wenn es dringend nothwendig wird, den Riegel vor seinen Appetit schieben, seine Phantasie einsperren, und sich selbst auf den Posten führen. Der Weise ist der, welcher in einem gewissen Augenblicke seine Verhaftung zu bewirken weiß. Habt Vertrauen zu mir. Weil ich einigermaßen meine Rechtsstudien gemacht habe, wie meine Prüfungszeugnisse es sagen, da ich den Unterschied kenne, der zwischen einer entschiedenen und einer schwebenden Frage besteht, weil ich in lateinischer Sprache eine Thesis über die Art und Weise vertheidigte, wie man in Rom die Tortur gab zur Zeit, als Munatius Demens Quästor des Parricides war, weil ich Doctor werde, wie es scheint, so folgt daraus nicht die Nothwendigkeit, daß ich ein Dummkopf bin. Ich empfehle Euch daher die Mäßigung in Euren Begierden. So wahr ich Felix Tholomyès heiße, ich spreche gut. Glücklich der, welcher, wenn die Stunde schlägt, einen heldenmüthigen Entschluß faßt und abdankt, wie Sulla und Origenes.«

Favourite hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu.

»Felix!« sagte sie, »welch' ein hübsches Wort! Ich liebe den Namen. Er ist lateinisch. Das will heißen Prosper oder glücklich.«

Tholomyès fuhr fort:

»Quirites, gentlemen, caballeros, meine Freunde! Wollt Ihr keine Reue empfinden, das eheliche Bett entbehren und der Liebe trotzen? Nichts ist einfacher. Hier das Recept dazu: Limonade, übermäßige Anstrengung, gezwungene Arbeit, Gliederverrenkung, schleppt schwere Blöcke, schlaft nicht, wachet; füllt Euch an mit salpeterhaltigen Getränken und Aufgüssen von Nixblumen; genießt Emulsionen von Mohn und Agnus castus, würzet das Alles mit einer strengen Diät, crepirt vor Hunger, fügt kalte Bäder, Grasgürtel, Auflegung einer Bleiplatte und Auswaschungen mit Bleiwasser und Brühungen von Wasser und Weinessig hinzu.«

»Mir ist eine Frau lieber,« sagte Listolier.

»Das Weib!« entgegnete Tholomyès, »mißtraut den Weibern. Wehe dem, der sich dem wandelbaren Herzen eines Weibes überliefert. Das Weib ist tückisch und ränkevoll. Es verabscheut die Schlange aus Eifersucht auf das Geschäft. Die Schlange, das ist der Laden hier gerade gegenüber.

»Tholomyès,« rief Blachevelle, »Du bist betrunken.«

»Par Dieu!« sagte Tholomyès.

»Dann sei lustig,« fuhr Blachevelle fort.

»Ich willige ein,« antwortete Tholomyès.

Sein Glas füllend, stand er auf und rief:

»Ruhm sei dem Wein! Nunc te, Bacche, canam! Verzeihung, meine Damen, das ist spanisch. Und der Beweis, Sennoras, hier, wie das Volk, so das Faß. Die Arroba Castiliens enthält 16 Litres, der Cantaro von Alicante 12, die Almuda der canarischen Inseln 25, der Cuartin der Balearen 26, der Stiefel des Czaar Peter 30. Es lebe der Czaar, der so groß war, und es lebe sein Stiefel, der noch größer war! Meine Damen, ein freundschaftlicher Rath: irren Sie sich in Ihrem Nachbar, wenn es Ihnen so gut dünkt. Das Eigenthümliche der Liebe ist, zu irren. Die Liebe ist nicht dazu geschaffen, sich niederzukauern, wie eine englische Magd, die eine Gliedwasserverhärtung am Knie hat. Sie ist nicht dazu geschaffen. Sie irrt lustig, die süße Liebe! Man hat gesagt: der Irrthum ist menschlich, ich sage: der Irrthum ist verliebt. Meine Damen, ich vergöttere Sie sämmtlich. O Zéphine, o Josephine, mehr als zerknittertes Gesicht, Sie würden reizend sein, wenn Sie nicht verdreht wären. Sie sehen aus wie ein hübsches Gesicht, auf das man sich aus Versehen gesetzt hat. Was Favourite betrifft, o Ihr Nymphen und Musen, so sah Blachevelle eines Tages, als er über die Gosse in der Rue Guérin-Boisseau schritt, ein schönes Mädchen mit weißen Strümpfen, das seine Beine zeigte. Dieser Prolog gefiel ihm, und Blachevelle liebte. Die, welche er liebte, war Favourite. O Favourite, Du hast ionische Lippen. Es gab einen griechischen Maler, Namens Euphorion, dem man den Beinamen Lippenmaler gegeben hatte. Dieser Grieche allein würde würdig gewesen sein, Deinen Mund zu malen. Höre, vor Dir gab es kein Geschöpf, welches dieses Namens würdig war. Du bist geschaffen, den Apfel zu empfangen wie Venus, oder ihn zu essen wie Eva. Die Schönheit beginnt bei Dir. Ich sprach so eben von Eva; Du hast sie erschaffen. Du verdienst das Erfindungspatent des hübschen Weibes. O Favourite, ich höre auf, Sie Du zu nennen, weil ich von der Poesie zu der Prosa übergehe. Sie sprachen so eben von meinem Namen, das hat mich gerührt; aber wer wir auch sein mögen, mißtrauen wir den Namen. Sie können sich täuschen. Ich heiße Felix und bin nicht glücklich. Die Worte sind Lügner. Nehmen wir nicht blindlings die Andeutungen, die sie uns geben. Es war ein Irrthum, wollte man nach Lüttich schreiben, um Korke zu haben, und nach Pau, um Handschuhe zu bekommen. Miß Dahlia, an Ihrer Stelle würde ich mich Rosa nennen. Die Blume muß wohlriechend sein und das Weib muß Geist haben. Ich sage nichts von Fantine, das ist eine Denkerin, eine Träumerin, eine Sinnende, eine Sensitive; sie ist ein Phantom, welches die Gestalt einer Nymphe und die Schamhaftigkeit einer Nonne hat, welche sich in das Grisettenleben verirrt hat, die sich aber in die Illusionen flüchtet, die singt, betet und nach dem Himmel blickt, ohne recht zu wissen, was sie sieht und was sie thut, und welche, die Augen zum Himmel gewendet, in einem Garten umherirrt, in dem es mehr Vögel giebt, als existiren! O Fantine, wisse so viel: ich, Tholomyès, bin eine Illusion; aber sie hört mich nicht einmal, das blonde Mädchen der Chimären! Uebrigens ist Alles an ihr Frische, Lieblichkeit, Jugend, süße Morgenröthe. O Fantine, Mädchen, würdig, Dich Margarethe oder Perle zu nennen, Du bist ein Weib des schönen Orients. Meine Damen, einen zweiten Rathschlag: verheirathen Sie sich nicht; die Heirath ist eine Impfung; sie faßt gut oder schlecht; entfliehen Sie dieser Gefahr. Aber pah! was singe ich denn da? Ich verliere meine Worte. Die Mädchen sind in Beziehung auf die Heirath unheilbar; und Alles, was wir Weisen sagen können, wird die Westenmacherinnen und die Stiefelchenstepperinnen nicht abhalten, von Männern zu träumen, die reich an Diamanten sind. Nun, mag sein; aber Ihr Schönen merkt Euch das: esset nicht zu viel Zucker. Ihr habt nur einen Fehler, o Ihr Weiber und der ist, daß Ihr Zucker knabbert. O knabberndes Geschlecht, Deine hübschen kleinen Zähne beten den Zucker an. Nun hört aber wohl: der Zucker ist ein Salz. Jedes Salz ist austrocknend. Der Zucker ist das austrocknendste von allen Salzen. Er pumpt durch die Adern die Flüssigkeit des Blutes auf; daher das Gerinnen und dann die Verdickung des Blutes; daher Geschwüre in der Lunge; daher der Tod. Und deshalb endigt die Zuckerharnruhr mit der Schwindsucht. Also knabbert keinen Zucker, und Ihr werdet leben! Ich wende mich nun zu den Männern. Meine Herren, machen Sie Eroberungen. Rauben Sie einander ohne alle Reue Ihre Geliebten. Wechseln Sie. In der Liebe giebt es keine Freunde. Ueberall, wo es ein hübsches Weib giebt, ist die Feindseligkeit eröffnet. Kein Pardon; Krieg auf Leben und Tod! ein hübsches Weib ist ein Casus belli, ein hübsches Weib ist eine Ertappung auf frischer That. Alle Invasionen der Geschichte sind durch Unterröcke entschieden worden. Das Weib ist das Menschenrecht. Romulus hat die Sabinerinnen entführt, Wilhelm die Sachsinnen, Cäsar die Römerinnen. Der Mensch, der nicht liebt, schwebt wie ein Geier über den Geliebten der Andern; und was mich betrifft, so rufe ich den Unglücklichen, die verwittwet sind, die erhabene Proklamation Buonaparte's an die Armee von Italien zu: ›Soldaten, es mangelt Euch Alles. Der Feind hat es!‹«

Tholomyès unterbrach sich.

»Schnappe Luft, Tholomyès!« sagte Blachevelle.

Zugleich stimmte Blachevelle, unterstützt durch Listolier und Fameuil, nach einer klagenden Melodie, einen jener Atelier-Gesänge an, die aus den ersten besten Worten zusammengesetzt werden, hinreichend und auch gar nicht gereimt ohne Sinn wie die Bewegungen des Baumes und das Geräusch des Windes, die aus dem Dampf der Pfeifen entspringen und mit ihm zerfließen und verschwinden. Hier das Couplet, durch welches die Uebrigen auf die Anrede des Tholomyès Antwort gaben:

Geld einem Agenten gaben
Die Väter Truthahn zu haben
Als Papst Herrn Clermont best
Zum nächsten Johannisfest.
Doch Clermont Pabst nicht ward.
Derweil er nicht von Priesters Art;
Da bracht' mit Zornesblick
Der Agent das Geld zurück.

So etwas war nicht geschaffen, um Tholomyès Improvisation zu beschwichtigen; er leerte sein Glas, füllte es wieder und begann auf's Neue:

»Nieder mit der Weisheit! Vergeßt Alles, was ich gesagt habe! Sein wir weder altklug, noch klug, noch überklug. Ich bringe einen Toast auf die Heiterkeit aus; seien wir heiter! Vervollständigen wir unsern Rechtscursus durch die Thorheit und Nahrung. Indigestion und Digestion. Justinian sei das Männliche und die Fresserei das Weibliche! Lustigkeit in der Tiefe! Lebe, o Schöpfung! Die Welt ist ein großer Diamant. Ich bin glücklich. Die Vögel sind wunderbar. Welch' ein Fest überall! Die Nachtigall ist ein Gratis-Elleviou. Sommer, ich grüße Dich. O Luxemburg! O die Georgica der Rue Madame und der Allee des Observatoriums! O all' die reizenden Bonnen, die, indem sie Kinder warten, sich damit unterhalten, auf andere zu sinnen! Die Pampas Amerika's würden mir gefallen, wenn ich nicht die Arkaden des Odeons hätte. Meine Seele entschwebt nach den Urwäldern und nach den Savannen. Alles ist schön; die Fliegen schwärmen in den Sonnenstrahlen. Die Sonne hat den Colibri ausgeniest. Umarme mich, Fantine!«

Er irrte sich und umarmte Favourite.

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