Victor Hugo
Die Elenden. Erste Abtheilung. Fantine
Victor Hugo

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X.
Der Bischof vor einem unbekannten Lichte.

Zu einer Zeit, etwas später als das Datum des Briefes, den wir auf den vorstehenden Seiten mittheilten, that der Bischof etwas, das nach der Ansicht der ganzen Stadt noch bewegter war wie sein Weg durch die Gebirge der Banditen.

Es gab nahe bei D . . . auf dem Lande einen Menschen, der einsam lebte. Dieser Mensch, sprechen wir sogleich das wichtige Wort aus, war ein ehemaliges Conventsmitglied. Er hieß G.

Man sprach von dem Conventsmanne, von G. in der kleinen Welt D . . . mit einer Art von Abscheu. Ein Conventsmitglied! Kann man sich so etwas denken? Dergleichen bestand in jener Zeit, als man sich allgemein duzte und sich Bürger nannte. Dieser Mensch war so ziemlich ein Ungeheuer. Er hatte nicht für den Tod des Königs gestimmt, aber doch beinahe. Er war ein quasi Königsmörder. Er war entsetzlich grausam. Weshalb hatte man bei der Wiedereinführung der legitimen Fürsten diesen Menschen nicht vor einem Gerichtshof gestellt? Man hätte ihm, wenn man will, nicht den Kopf abgeschlagen, denn es ist Gnade erforderlich, mag sein, aber doch wenigstens eine gute Verbannung für Lebenszeit, kurz ein Beispiel statuirt u. s. w. u. s. w. Er war übrigens ein Atheist, wie alle diese Menschen. Geschnatter der Gänse über den Geier.

War indeß G. ein Geier? Ja, wenn man nach dem urtheilte, was er in seiner Einsamkeit Wildes hatte. Da er nicht für den Tod des Königs stimmte, war er nicht in die Verbannungsdekrete einbegriffen worden, und hatte in Frankreich bleiben dürfen.

Er bewohnte dreiviertel Stunden von der Stadt, fern von jedem Weiler, fern von jedem Wege, irgend einen verlorenen Winkel eines wilden Thales. Er hatte hier, wie man sagte, eine Art von Feld, ein Loch, eine Höhle. Keine Nachbarn; nicht einmal Vorübergehende. Seitdem er in diesem Thale wohnte, war der dahin führende Fußpfad unter dem Grase verschwunden. Man sprach von diesem Orte wie von dem Hause des Henkers.

Indeß dachte der Bischof nach, und von Zeit zu Zeit, wenn er an dem Horizonte nach dem Orte sah, an welchem eine Gruppe von Bäumen das Thal des alten Conventsmitgliedes bezeichnete, sagte er zu sich: »dort ist eine Seele einsam.«

Und im Grunde seiner Gedanken fügte er dann hinzu; »Ich bin ihm meinen Besuch schuldig.« Gestehen wir indeß, daß dieser Gedanke, der auf den ersten Anblick natürlich war, ihm nach einem Augenblick der Ueberlegung als sonderbar und unmöglich und beinahe als erschreckend erschien. Denn im Grunde theilte er den allgemeinen Eindruck, und das Conventsmitglied flößte ihm, ohne daß er sich davon deutlich Rechenschaft gab, jenes Gefühl ein, welches die Grenze des Hasses bildet, und richtig durch das Wort »Entfremdung« ausgedrückt wird.

Darf indeß der Aussatz des Schafes den Hirten bewegen, vor demselben zurückzuschrecken? Nein. Aber was für ein Schaf? Der gute Bischof war verwirrt. Zuweilen schritt er nach jener Richtung hin, doch dann kehrte er wieder um.

Eines Tages endlich verbreitete sich das Gerücht in der Stadt, daß eine Art von jungem Hirten, der das Conventsmitglied G. in seiner Höhle bediente, einen Arzt zu suchen gekommen wäre; daß das alte Ungeheuer im Sterben läge; daß die Lähmung sich seiner bemächtigte, und daß er die Nacht nicht überleben würde. »Gott sei Dank!« fügten Einige hinzu.

Der Bischof nahm seinen Spazierstock, zog seinen Ueberzieher an, weil sein Leibrock etwas abgeschabt war, wie wir bereits erwähnten, und auch wegen des Abendwindes, der bald zu wehen anfangen mußte; dann brach er auf.

Die Sonne sank und berührte beinahe den Horizont, als der Bischof an dem excommunicirten Orte anlangte. Er erkannte mit einem gewissen Herzklopfen, daß er sich in der Nähe der Höhle befand. Er stieg über einen Graben, kletterte über eine Hecke, hob eine Verpfählung auf, trat in ein verfallenes Hanffeld, that ziemlich keck einige Schritte vorwärts, und plötzlich erblickte er im Hintergrunde hinter einem hohen Gebüsche die Höhle.

Es war eine ganz niedrige, elende, kleine und reinliche Hütte mit einem zusammengenagelten Stacket davor.

Vor der Thür in einem alten Rollstuhl, Armsessel eines Bauern, saß ein Mann mit weißem Haar, welcher der Sonne zulächelte. Neben dem sitzenden Greise stand ein junger Bursche, der kleine Hirt. Er hielt dem Greise eine Schaale mit Milch hin.

Während der Bischof hinblickte, erhob der Greis die Stimme: »Ich danke«, sagte er, »ich bedarf nichts mehr«, und sein Lächeln wendete sich von der Sonne auf das Kind.

Der Bischof trat vor. Bei dem Geräusch, welches seine Schritte machten, wendete der alte Mann den Kopf, und sein Gesicht sprach die ganze Ueberraschung aus, die man nach einem langen Leben empfinden kann.

»Seitdem ich hier bin,« sagte er, »ist dies das erste Mal, daß man zu mir kommt. Wer sind Sie, mein Herr?«

Der Bischof antwortete:

»Ich heiße Bienvenu Myriel.«

»Bienvenu Myriel. Ich habe den Namen nennen hören. Sind Sie es, den das Volk Herrn Bienvenu nennt?«

»Ich bin es.«

Der Greis fuhr mit leisem Lächeln fort:

»In diesem Falle sind Sie also mein Bischof?«

»Ein wenig.«

»Treten Sie ein, mein Herr.«

Das Conventsmitglied hielt dem Bischof die Hand hin, aber der Bischof nahm sie nicht; er beschränkte sich darauf, zu sagen:

»Ich fühle mich befriedigt, zu sehen, daß man mich getäuscht hatte. Sie scheinen wahrlich nicht krank zu sein.«

»Mein Herr,« entgegnete der Greis, »ich werde genesen.«

Er machte eine Pause und fügte dann hinzu:

»In drei Stunden werde ich sterben.«

Darauf sagte er:

»Ich bin ein wenig Arzt; ich weiß, auf welche Art die letzte Stunde kommt. Gestern hatte ich nur noch kalte Füße; heute ist die Kälte bis zu den Knieen gestiegen; jetzt fühle ich sie schon den Gürtel erreichen; wenn sie bis zum Herzen steigt, stehe ich still. Die Sonne ist schön, nicht wahr? Ich habe mich in das Freie rollen lassen, um einen letzten Blick auf die Dinge zu richten. Sie können zu mir reden, das ermüdet mich nicht. Sie thun wohl daran, daß sie kamen, einen Menschen zu betrachten, der sterben wird. Es ist gut, daß dieser Augenblick Zeugen habe. Man hat seine Eigenheiten; ich hätte bis zur Morgenröthe leben mögen. Aber ich weiß, daß mir kaum noch drei Stunden bleiben. Es wird Nacht werden. Was thut das in der That! Zu endigen ist eine einfache Sache. Man bedarf dazu des Morgens nicht. Sei es. Ich werde bei dem Sternenlicht sterben.«

Der Greis wendete sich zu dem Hirten. »Gehe schlafen,« sagte er. »Du hast die vorige Nacht gewacht. Du bist ermüdet.«

Das Kind trat in die Hütte.

Der Greis folgte ihm mit den Augen und fügte dann wie zu sich selbst sprechend hinzu:

»Während er schläft, werde ich sterben. Die beiden Arten des Schlafes können gute Nachbarschaft halten.«

Der Bischof war nicht gerührt, wie er es dem Schein nach hätte sein können. Er glaubte, in dieser Art, zu sterben, Gott nicht zu fühlen; sagen wir Alles, denn die kleinen Widersprüche in dem großen Herzen müssen angedeutet werden, wie alles Uebrige. Er, der gelegentlich so gern über seine Größe lachte, er fühlte sich etwas beleidigt dadurch, nicht Hochwürden genannt zu werden, und war beinahe geneigt, zu antworten: »Bürger.« Er hatte einen Anfall von mürrischer Vertraulichkeit, der ziemlich gewöhnlich bei Aerzten, Priestern ist, der ihm aber nicht gewöhnlich war. Dieser Mensch, dieses Conventsmitglied, dieser Repräsentant des Volkes war, Alles erwogen, ein Mächtiger der Erde gewesen; zum ersten Male vielleicht in seinem Leben fühlte sich der Bischof zur Strenge geneigt.

Das Conventsmitglied betrachtete ihn indeß mit bescheidener Herzlichkeit; man hätte diese vielleicht Demuth nennen können, die so wohl kleidet, wenn man seiner Verwandlung in Staub so nahe ist. Der Bischof seinerseits, der sich zwar für gewöhnlich vor der Neugier hütete, welche seiner Ansicht nach dicht an Beleidigung grenzte, konnte sich nicht enthalten, das Conventsmitglied mit einer Aufmerksamkeit zu prüfen, die in ihrer Quelle nichts von der Sympathie hatte, und die er sich wahrscheinlich zu einem Vorwurf seines Gewissens jedem andern Menschen gegenüber gemacht haben würde. Ein Conventsmitglied jedoch machte auf ihn ein wenig den Eindruck eines Wesens, das außer dem Gesetz steht, selbst außer dem Gesetz der Barmherzigkeit.

G., der ruhig war, den Oberleib beinahe gerade empor gerichtet trug, und dessen Stimme kräftig tönte, war einer jener Achtzigjährigen, welche das Staunen des Physiologen erregen. Die Revolution hat viele solcher Männer gehabt, die im Verhältniß zu ihrer Zeit standen. Man erkannte in diesem Greise einen geprüften Menschen. Seinem Ende so nahe, hatte er alle Bewegungen seiner Gesundheit beibehalten. In seinem klaren Blicke, in seinem festen Tone, in der kräftigen Bewegung seiner Schultern lag etwas, das den Tod irre machen konnte. Azraël, der mahomedanische Engel des Grabes, würde umgekehrt sein, und geglaubt haben, an die falsche Thür gekommen zu sein. G. schien zu sterben, weil er es wollte. Es lag Freiheit in seinem Todeskampf. Seine Beine allein waren regungslos. Hier hielt die Finsterniß ihn gefaßt. Die Füße waren todt und kalt, der Kopf aber lebte mit der ganzen Kraft des Lebens und zeigte sich im vollen Lichte. G. glich in diesem ernsten Augenblicke jenem Könige des orientalischen Mährchens, der oben von Fleisch und unten von Marmor war.

Ein Stein lag da. Der Bischof setzte sich darauf. Die Ermahnungsrede geschah ex abrupto.

»Ich wünsche Ihnen Glück,« sagte er in dem Tone, mit dem man einen Vorwurf ausspricht. »Sie haben wenigstens nicht für den Tod des Königs gestimmt.«

Das Conventsmitglied schien den bittern Nebensinn, der in dem Worte »wenigstens« lag, nicht zu bemerken. Jedes Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. Er antwortete:

»Wünschen Sie mir nicht zu eifrig Glück, mein Herr, ich habe für das Ende des Tyrannen gestimmt.«

Das war ein ernster Klang dem strengen Tone gegenüber.

»Was wollen Sie sagen?« fragte der Bischof.

»Ich will sagen, daß der Mensch einen Tyrannen hat: die Unwissenheit. Ich habe für das Ende des Tyrannen gestimmt. Dieser Tyrann hat das Königthum geboren, welches die aus dem Falschen entnommene Autorität ist, während die Wissenschaft die dem Wahren entlehnte Autorität bildet. Der Mensch darf nur durch die Wissenschaft regiert werden.

»Und das Gewissen?« fügte der Bischof hinzu.

»Das ist dasselbe. Das Gewissen ist die Menge des angebornen Wissens, welches wir in uns haben.«

Herr Bienvenu hörte etwas verwundert diese für ihn sehr neue Sprache an.

Das Conventsmitglied fuhr fort:

»Was Ludwig XVI. betrifft, so sagte ich Nein. Ich glaube nicht das Recht zu haben, einen Menschen zu tödten, aber ich fühle die Pflicht, das Böse zu vernichten. Ich stimmte für das Ende des Tyrannen. Das heißt für das Ende der Prostitution des Weibes, für das Ende der Sclaverei des Mannes, für das Ende der Nacht für das Kind. Indem ich für die Republik stimmte, stimmte ich für dies Alles. Ich stimmte für Biederkeit, für Einigkeit, für die Morgenröthe! Ich trug bei zu dem Sturze der Vorurtheile und der Irrthümer. Das Niederwerfen der Irrthümer und der Vorurtheile schafft Licht. Wir haben die Welt gestürzt, und indem sie, dieses Gefäß des Elendes, sich auf das Menschengeschlecht warf, ist sie eine Urne der Freude geworden.«

»Der gemischten Freude,« sagte der Bischof.

»Sie könnten sagen: der gestörten Freude, und jetzt, nach dieser verhängnißvollen Rückkehr der Vergangenheit, die man 1814 nennt, der verschwundenen Freude. Ach, das Werk war unvollständig, wie ich gestehe; wir haben die alte Ordnung in den Thatsachen vernichtet, aber wir konnten sie in den Begriffen nicht ganz unterdrücken. Mißbräuche abschaffen genügt nicht, man muß die Sitten ändern. Die Mühle steht nicht mehr, der Wind aber weht noch immer.«

»Sie haben niedergerissen. Es kann nützlich sein, niederzureißen, aber ich mißtraue einer Zerstörung, die mit Zorn gepaart ist.«

»Das Recht hat auch seinen Zorn, Herr Bischof, und der Zorn des Rechts ist ein Element des Fortschritts. – Genug, was man auch davon sagen möge, so ist die französische Revolution dennoch der mächtigste Schritt des Menschengeschlechts seit der Geburt Christi. Unvollständig, das mag sein, aber göttlich. Sie hat alle unbekannten socialen Größen freigemacht, sie hat die Geister gemildert, sie hat beruhigt, beschwichtigt, aufgeklärt; sie hat Fluthen der Civilisation über die Erde ergossen. Sie ist gut gewesen. Die französische Revolution war die Salbung des Menschengeschlechts.«

Der Bischof konnte sich nicht enthalten, zu murmeln: »Ja? dreiundneunzig!«

Der Mann des Convents richtete sich mit einer Art Grabesfeierlichkeit empor, und so laut, als ein Sterbender zu rufen vermag, rief er:

»Ha! Da haben wir es. Dreiundneunzig. Das Wort erwarte ich. Eine Wolke hat sich während der Dauer von fünfzehn Jahrhunderten gebildet. Nach fünfzehn Jahrhunderten entladet sie sich. Nun macht man dem Donnerschlage den Proceß.«

Der Bischof fühlte, vielleicht ohne es sich selbst zu gestehen, daß etwas in ihm getroffen worden war. Gleichwohl bewahrte er seine Fassung. Er antwortete:

»Der Richter spricht im Namen der Gerechtigkeit; der Priester spricht im Namen der Barmherzigkeit, welche nichts ist als eine erhabene Gerechtigkeit. Ein Donnerschlag darf sich nicht täuschen.«

Er fügte hinzu, indem er das Conventsmitglied fest ansah: Ludwig »XVII.?«

Der Mann des Convents streckte die Hand aus, ergriff den Arm des Bischofs und sagte:

»Ludwig XVII.! Lassen Sie sehen. Ueber wen weinen Sie? Ueber dies unschuldige Kind? Dann mag es sein; ich weine mit Ihnen. Ueber das Königskind? Hier verlange ich Nachdenken. Für mich ist der Bruder des Cartouche, das unschuldige Kind, welches auf dem Grêveplatz unter den Achseln aufgehangen wurde, bis der Tod seiner Qual ein Ende machte, nur des einzigen Verbrechens wegen, der Bruder des Cartouche gewesen zu sein, nicht minder schmerzlich, als der Enkel Ludwig's XV., das unschuldige Kind, welches in dem Thurm des Temple martyrisirt wurde wegen des einzigen Verbrechens, der Enkel Ludwigs XV. gewesen zu sein.«

»Mein Herr,« sagte der Bischof, »ich liebe dergleichen Zusammenstellungen von Namen nicht.«

»Cartouche? Ludwig XV.? für welchen von beiden sprechen Sie?«

Es entstand ein Augenblick des Schweigens. Der Bischof bereute es beinahe, gekommen zu sein, und dennoch fühlte er sich auf eine unbestimmte und eigenthümliche Weise erschüttert.

Das Conventsmitglied fuhr fort:

»Ach, mein Herr Priester, Sie lieben nicht die Bitterkeit der Wahrheit. Christus liebte sie. Er ergriff eine Ruthe und säuberte den Tempel. Seine von Blitzen erfüllte Peitsche war ein derber Wahrheitsverkünder. Als er rief: Lasset die Kindlein zu mir kommen, machte er keinen Unterschied zwischen den kleinen Kindern. Er würde sich nicht besonnen haben, den Dauphin des Barrabas und den Dauphin des Herodes nebeneinanderzustellen. Mein Herr, die Unschuld ist ihre eigene Krone. Die Unschuld weiß nichts damit anzufangen, Hoheit zu sein. Sie ist ebenso erhaben in Lumpen, wie mit Lilien bekleidet.«

»Das ist wahr,« sagte der Bischof mit leiser Stimme.

»Ich beharre darauf,« fuhr das Conventsmitglied G. fort; »Sie haben mir Ludwig XVII. genannt. Verständigen wir uns. Weinen wir über alle Unschuldigen, über alle Märtyrer, über alle Kinder, über die von unten sowohl wie über die von oben. Ich bin dabei. Dann aber, ich sagte es Ihnen schon, muß man weiter zurückgehen, als bis zu 1793, und schon vor Ludwig XVII. müssen wir mit unsern Thränen beginnen. Ich werde mit Ihnen über die Kinder der Könige weinen, vorausgesetzt, daß Sie mit mir über die Kleinen des Volkes weinen.«

»Ich weine über Alle,« sagte der Bischof.

»Gleich!« rief G. »Und wenn die Wagschaale sinken soll, so muß es auf Seite des Volkes sein. Dieses leidet seit längerer Zeit.«

Wieder entstand ein Schweigen. Das Conventsmitglied brach es. Der Mann erhob sich auf einem Ellenbogen, nahm zwischen seinen Daumen und seinen Zeigefingern ein Stückchen seiner Wange, wie man unwillkürlich thut, wenn man frägt und urtheilt, und redete den Bischof mit einem Blicke an, in welchem die ganze Energie des Todeskampfes lag. Es war beinahe ein gewaltiger Ausbruch.

»Ja, mein Herr, das Volk leidet seit langer Zeit. Und dann sehen Sie, ist es nicht Alles das, weshalb Sie kommen, mich zu befragen und mit mir von Ludwig XVII. zu sprechen? Ich kenne Sie nicht. Seitdem ich in diesem Lande bin, habe ich in dieser Umhegung gelebt, allein, keinen Fuß hinaussetzend, Niemand sehend als dies Kind, das mir Beistand leistet. Ihr Name ist allerdings unbestimmt bis zu mir gelangt, und, wie ich sagen muß, nicht zu schlecht bezeichnet; aber das bedeutet nichts. Die gewandten Menschen haben so viele Arten, sich bei dem ehrlichen Volke Glauben zu verschaffen. Apropos, ich habe keinen Lärm Ihres Wagens gehört; Sie haben ihn ohne Zweifel hinter dem Gebüsch gelassen, dort unten, wo der Weg sich theilt! Ich kenne Sie nicht, sage ich Ihnen. Sie sagten mir, daß Sie der Bischof wären; doch das belehrt mich nicht über Ihre moralische Person. Kurz, ich wiederhole Ihnen meine Frage: wer sind Sie? Sie sind ein Bischof, das heißt ein Kirchenfürst, einer jener vergoldeten, wappengeschmückten, mit Renten begabten Männer, die große Präbenden haben – Bischof von D . . . – 15,000 Francs festes Einkommen, 10,000 Francs Uebereinkünfte. Summa 25,000 Francs – die einen Küchendienst halten, die Livreen haben, eine gute Kost führen, am Freitag Wasserhühner essen, sich blähen, Lakaien vorne, Lakaien hinten, eine Gala-Berline, die Paläste bewohnen und in Carossen einherrollen im Namen Jesu Christ, der barfuß ging! Sie sind ein Prälat. Einkünfte, Paläste, Pferde, Bediente, gute Tafel! alle sinnlichen Genüsse des Lebens. Sie haben das gleich den Uebrigen, und wie die Uebrigen genießen Sie dessen; das ist gut, aber es sagt entweder zu viel oder nicht genug; es klärt mich nicht über Ihren innern und wesentlichen Werth auf, über Sie, der Sie wahrscheinlich mit dem Anspruche zu mir kommen, mir Weisheit zu bringen. Mit wem spreche ich? Wer sind Sie?«

Der Bischof senkte den Kopf und antwortete: »Vermis sum

»Ein Erdenwurm in der Carosse!« murmelte das Conventsmitglied. Es war die Reihe an den Mann des Convents, hochmüthig, und an den Bischof, demüthig zu sein.

Der Bischof entgegnete voll Sanftmuth:

»Mag sein, mein Herr. Aber erklären Sie mir, in wiefern meine Kutsche, die dort zwei Schritt hinter den Bäumen hält, in wiefern meine gute Tafel und die Wasserhühner, die ich Freitags esse, in wiefern meine 25,000 Livres Renten, mein Palast und meine Lakaien beweisen, daß die Barmherzigkeit nicht eine Tugend ist, daß die Gnade nicht eine Pflicht ist, und daß 93 nicht verabscheuungswürdig war.«

Das Conventsmitglied fuhr mit der Hand über die Stirn, wie um eine Wolke zu vertreiben.

»Ehe ich Ihnen antworte,« sagte der Mann, »bitte ich Sie, mir zu verzeihen. Ich habe ein Unrecht begangen. Sie sind bei mir, sind mein Gast. Ich bin Ihnen Artigkeit schuldig. Sie bestreiten meine Ideen, und es geziemt sich, daß ich mich darauf beschränke, Ihre Urtheile zu bekämpfen. Ihre Reichthümer und Ihre Genüsse sind Vortheile, die ich bei der Debatte gegen Sie habe; aber es gehört zum guten Geschmack, sich derselben nicht zu bedienen. Ich verspreche Ihnen, keinen Gebrauch mehr von denselben zu machen.«

»Ich danke Ihnen,« sagte der Bischof.

G. fuhr fort:

»Kommen wir wieder zu der Erklärung, die Sie von mir verlangten. Wo blieben wir stehen? Was sagten Sie mir? Daß 93 verabscheuungswürdig gewesen sei?«

»Verabscheuungswürdig, ja,« sagte der Bischof. »Was denken Sie von Marat, der bei der Guillotine in die Hände klatschte?«

»Was denken Sie von Bossuet, der über die Dragonaden das Te deum sang?«

Die Antwort war hart, sie traf das Ziel mit der Schwere einer stählernen Spitze. Der Bischof erbebte und es fiel ihm keine Gegenantwort ein; er fühlte sich aber verletzt durch diese Art, wie Bossuet hier genannt wurde. Die besten Geister haben ihre Fetische und fühlen sich zuweilen auf unbestimmte Weise verwundet durch den Mangel der Ehrfurcht gegen die Logik.

Das Conventsmitglied begann schwer zu athmen; das Asthma des Todeskampfes, welches sich in die letzten Hauche mischte, schnitt ihm die Stimme ab; gleichwohl leuchtete aus seinen Augen noch die volle Klarheit der Seele. Er fuhr fort:

»Sprechen wir hier und da noch einige Worte. Außerhalb der Revolution, welche in ihrem Ganzen genommen eine ungeheure menschliche Affirmation ist, erscheint 93 leider als eine Replik. Sie finden diese verabscheuungswürdig, aber die ganze Monarchie, mein Herr? Carrier ist ein Bandit; aber welchen Namen geben Sie Montrevel? Fouquier-Tainville ist ein Schurke; aber was haben Sie für eine Meinung von Lamoignon-Baville? Maillard ist abscheulich, aber Saulx-Tavannes, wenn es Ihnen gefällig ist? Der Pater Duchêne ist grausam, aber welche Bezeichnung bewilligen Sie mir für den Pater Letellier? Jourdan-Coup-Tête ist ein Ungeheuer, aber weniger, als der Herr Marquis von Louvois. Mein Herr, mein Herr, ich beklage Marie Antoinette, Erzherzogin und Königin, aber ich beklage auch jene arme hugenottische Frau, welche 1685 unter Ludwig dem Großen, mein Herr, ihr Kind stillend, nackt bis zum Gürtel, an einen Pfahl gebunden wurde, während man das Kind in einiger Entfernung von ihr hielt. Ihr Busen schwoll von Milch, ihr Herz von Qual; das Kleine, ausgehungert und bleich, sah diesen Busen, war dem Tode nahe und schrie; und der Henker sagte zu dem Weibe, der Mutter und Amme: »Schwöre ab!« – und ließ ihr dabei die Wahl zwischen dem Tode ihres Kindes und dem Tode ihres Gewissens. Was sagen Sie zu dieser Tantalus-Marter, angewendet auf eine Mutter? Mein Herr, merken Sie sich wohl: die französische Revolution hat ihre Ursachen gehabt. Ihr Zorn wird durch die Zukunft absolvirt werden. Ihr Resultat ist eine bessere Welt. Aus ihren fürchterlichsten Schlägen entspringt eine Liebkosung für das Menschengeschlecht. Ich breche ab. Ich halte inne. Ich habe zu leichtes Spiel. Ueberdies sterbe ich.«

Und indem das Conventsmitglied aufhörte, den Bischof anzusehen, beendete es seinen Gedanken mit den wenigen ruhigen Worten:

»Ja, die Rohheiten des Fortschritts nennen sich Revolutionen. Sind sie beendigt, so erkennt man, daß das Menschengeschlecht hart behandelt worden ist, daß es aber vorwärts geschritten ist.«

Das Conventsmitglied ahnte nicht, daß es nach und nach, eine nach der andern, alle innern Verschanzungen des Bischofs überwältigt hatte. Es blieb indeß noch eine übrig, und aus dieser Verschanzung, der letzten Hülfsquelle für den Widerspruch des hochwürdigen Herrn Bienvenu, kam das Wort hervor, in welchen sich beinahe die ganze Rauhheit des Anfangs zeigte:

»Der Fortschritt muß an Gott glauben. Das Gute kann keinen gottlosen Diener haben. Der Atheist ist ein schlechter Führer des Menschengeschlechts.«

Der ehemalige Repräsentant des Volkes antwortete nicht. Er erbebte. Er blickte zum Himmel empor, und eine Thräne trat langsam in diesen Blick. Als das Augenlid gefüllt war, rann die Thräne über seine hohle Wange, und er sagte beinahe stammelnd leise und zu sich selbst sprechend, das Auge verloren in die Ferne:

»O du! O Ideal! Du allein bist!«

Der Bischof empfand eine Art unerklärlichen elektrischen Schlages.

Nach einem kurzen Schweigen erhob der Greis den Finger gegen den Himmel und sagte:

»Das Unendliche ist. Es ist da. Wenn das Unendliche kein Ich hätte, so würde das Ich seine Grenze sein; es wäre dann nicht unendlich; mit andern Worten es wäre nicht. Aber es ist. Also hat es ein Ich. Dieses Ich des Unendlichen ist Gott.«

Der Sterbende hatte diese letzten Worte mit lauter Stimme und mit dem Zittern der Extase gesprochen, als ob er Jemand erblickte. Als er zu sprechen aufhörte, schlossen sich seine Augen. Die Anstrengung hatte ihn erschöpft. Offenbar lebte er während einer Minute die wenigen Stunden, die ihm noch geblieben waren. Das, was er sprach, hatte ihn dem genähert, der in dem Tode ist. Der letzte Augenblick nahte.

Der Bischof erkannte dies, der Augenblick drängte, er war als Priester gekommen, von der äußersten Kälte war er allmälig zu der äußersten Aufregung übergegangen. Er betrachtete diese geschlossenen Augen; er nahm die alte runzlige und eiskalte Hand, neigte sich über den Sterbenden und sagte:

»Diese Stunde gehört Gott. Würden Sie es nicht beklagenswerth finden, wenn wir uns vergeblich getroffen hätten?«

Das Conventsmitglied öffnete die Augen wieder. Ein Ernst, in welchem etwas von einem Schatten lag, zeigte sich auf seinem Gesichte.

»Herr Bischof,« sagte er mit einer Langsamkeit, die vielleicht noch mehr von der Würde der Seele herrührte, als von dem Verfall der Kräfte, »ich habe mein Leben in Nachdenken, Studium und Betrachtung hingebracht. Ich zählte 60 Jahr, als mein Land mich rief und mir gebot, mich in seine Angelegenheiten zu mischen. Ich gehorchte. Es gab Mißbräuche, und ich bekämpfte sie; es gab Tyrannen und ich vernichtete sie; es gab Rechte und Grundsätze, ich verkündete sie und bekannte mich zu ihnen. Unser Boden war von den Feinden überschwemmt, und ich vertheidigte ihn; Frankreich wurde bedroht, und ich bot meine Brust preis. Ich war nicht reich; jetzt bin ich arm. Ich war einer von den Herren des Staats; die Keller der Bank waren mit Münzen so überhäuft, daß man die Mauern stützen mußte, welche auf dem Punkt standen, von dem Gewicht des Goldes und des Silbers eingedrückt zu werden, und ich aß in der Rue de l'Arbre Sec für 22 Sous die Portion. Ich habe den Unterdrückten Beistand geleistet, ich habe die Leidenden getröstet. Ich zerriß die Decke des Altars, das ist wahr, aber es geschah, um damit die Wunden des Vaterlandes zu verbinden. Ich habe stets die Fortschritte des Menschengeschlechts nach dem Lichte hin vertheidigt, und zuweilen Widerstand gegen den erbarmungslosen Fortschritt geleistet. Ich habe gelegentlich meine eigenen Gegner beschützt. Es giebt in Peteghem in Flandern an eben dem Orte, wo die merovingischen Könige ihren Sommerpalast hatten, ein Kloster der Urbanisten, die Abtei Sankt Claire in Beaulieu, welche ich 1793 rettete. Ich that meine Pflicht nach meinen Kräften und das Gute, so viel ich konnte. Darauf wurde ich verjagt, gehetzt, verflucht, angeschwärzt, verspottet, verhöhnt, verbannt. Seit vielen Jahren schon fühle ich, daß trotz meiner weißen Haare eine Menge von Menschen das Recht zu haben glauben, mich zu verachten; ich habe für die arme und unwissende Menge das Gesicht eines Verdammten, und ich nehme, ohne irgend Jemand zu hassen, die Isolirung durch den Haß an. Jetzt bin ich 86 Jahr alt und sterbe. Was verlangen Sie von mir?«

»Ihren Segen,« sagte der Bischof.

Und er knieete nieder.

Als der Bischof den Kopf wieder erhob, war das Gesicht des Conventsmitgliedes erhaben geworden. Er hatte so eben die Seele ausgehaucht.

Der Bischof kehrte nach Hause zurück, tief versunken in man weiß nicht was für Gedanken. Die ganze Nacht brachte er unter Gebeten zu. Am nächsten Tage versuchten einige Neugierige, mit ihm von dem Conventsmitgliede G. zu sprechen, er begnügte sich damit, gen Himmel zu deuten.

Von diesem Augenblicke an verdoppelte er seine Zärtlichkeit und seine Brüderlichkeit für die Kleinen und die Leidenden.

Jede Anspielung auf das »alte Ungeheuer G.« versenkte ihn in ein eigenthümliches Sinnen. Niemand konnte sagen, ob nicht das Vorübergleiten dieses Geistes vor dem seinigen und der Wiederschein dieses großen Gewissens auf das seinige etwas zu seiner Annäherung an die Vollkommenheit beitrug.

Dieser »geistliche Besuch« war natürlich eine Veranlassung zum Geschwätz für die kleinen Gesellschaften des Ortes.

War das Lager eines solchen Sterbenden der Platz für einen Bischof? Offenbar dürfte hier keine Bekehrung erwartet werden. Alle diese Revolutionäre sind Rückfällige. Weshalb also zu ihnen gehen? Was hatte er dort zu schaffen gehabt? Er mußte wohl sehr neugierig darauf sein, eine Seele vom Teufel holen zu sehen.

Eines Tages richtete eine Wittwe von der impertinenten Gattung, die sich für geistreich hielt, an ihn die folgende spitze Frage: »Hochwürden, man fragt, wann Eure Gnaden die rothe Mütze aufsetzen werden?« – »O, o, das ist eine schlimme Sache,« entgegnete der Bischof. »Ein Glück, daß die, welche sie bei einer Mütze verachten, sie bei einem Hute verehren.«

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