Victor Hugo
Die Elenden. Erste Abtheilung. Fantine
Victor Hugo

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII.
Cravatte.

Hier ist ganz natürlich die Stelle für eine Thatsache, die wir nicht mit Stillschweigen übergehen dürfen, denn sie gehört zu denen, welche am besten zeigen, was für ein Mensch der Bischof von D . . . war.

Nach der Vernichtung der Bande des Gaspard Bès, welche die Schluchten von Ollioules unsicher gemacht hatte, flüchtete einer von den Führern derselben, Cravatte, sich in die Gebirge. Er verbarg sich einige Zeit mit seinen Banditen, dem Ueberbleibsel der Truppe des Gaspard Bès, in der Grafschaft Nizza, erreichte dann Piemont und erschien plötzlich in Frankreich wieder auf der Seite von Barcelonette. Man sah ihn zuerst in Jauziers und dann bei Tuiles. Er verbarg sich in den Höhlen des Adlerjoches und stieg von dort gegen die Weiler und Dörfer durch die Thäler von Ubaye und Ubayette herab.

Er ging selbst bis Embrun, drang während der Nacht in die Kathedrale ein und plünderte die Sacristei. Seine Räubereien setzten das Land in Verzweiflung. Man bot die Gensd'armerie zu seiner Verfolgung auf, doch vergeblich. Er entschlüpfte beständig; zuweilen widerstand er auch gewaltsam. Er war ein sehr verwegener Elender. Während dieser Schrecken erschien der Bischof – er machte seine Rundreise in Chastelar. – Der Maire suchte ihn auf und bat ihn, umzukehren. Cravatte hielt die Gebirge bis Arche und darüber hinaus besetzt, es war daher für ihn gefährlich, selbst mit einer Escorte. »Es hieße«, sagte der Maire, »nutzlos drei oder vier Gensd'armen preisgeben.«

»Ich denke deshalb auch, ohne Escorte zu reisen«, sagte der Bischof.

»Können Ew. Hochwürden wirklich daran denken?« rief der Maire.

»Ich denke so sehr daran, daß ich ganz entschieden die Gensd'armen zurückweise und in einer Stunde aufbrechen werde.«

»Aufbrechen?«

»Aufbrechen!«

»Allein?«

»Allein!«

»Hochwürdiger Herr, das werden Sie nicht thun.«

»Es giebt im Gebirge,« entgegnete der Bischof, »eine demüthige, kleine Gemeinde, die ich seit drei Jahren nicht besucht habe. Die Bewohner sind meine guten Freunde, sanfte, rechtschaffene Hirten. Sie besitzen eine Ziege von dreißigen, die sie hüten; sie arbeiten sehr hübsche wollene Schnüre von verschiedenen Farben und spielen Bergmelodien auf kleinen Flöten mit sechs Löchern. Es ist nöthig, von Zeit zu Zeit mit ihnen von dem lieben Gott zu sprechen. Was würden sie von einem Bischof sagen, der sich fürchtet? Was würden sie sagen, wenn ich nicht zu ihnen käme?«

»Aber Ew. Hochwürden, die Räuber?«

»Ja,« sagte der Bischof, »daran denke ich eben. Sie haben Recht, ich kann ihnen begegnen. Auch für sie ist es nothwendig, daß man von dem guten Gott zu ihnen spricht.«

»Aber, Ew. Hochwürden, es ist eine Bande! Eine Bande von Wölfen!«

»Herr Maire, vielleicht hat Jesus mich eben für diese Heerde zum Hirten bestimmt. Wer kennt die Wege der Vorsehung?«

»Gnädigster Herr, sie werden Sie ausplündern.«

»Ich besitze nichts.«

»Sie werden Sie tödten.«

»Einen alten ehrlichen Priester, der vorübergeht, indem er sein Gebet murmelt? Bah! Wozu nützt ihnen das?«

»O, mein Gott, wenn Sie ihnen begegneten!«

»So werde ich sie um ein Almosen für meine Armen bitten.«

»Ew. Hochwürden, gehen Sie nicht. Im Namen des Himmels! Sie setzen Ihr Leben in Gefahr.«

»Herr Maire,« sagte der Bischof, »ist es gewiß weiter nichts? Ich bin nicht auf der Welt, um mein Leben, sondern um die Seelen zu hüten.« –

Man mußte ihn gewähren lassen. Er brach auf, nur von einem Kinde begleitet, das sich ihm zum Führer angeboten hatte. Seine Hartnäckigkeit machte in dem Lande Aufsehen und erschreckte sehr.

Er wollte weder seine Schwester, noch Frau Magloire mit sich nehmen. Er ritt auf einem Maulthiere über das Gebirge, begegnete Niemand und langte gesund und wohlbehalten bei seinen »guten Freunden«, den Hirten, an. Hier blieb er vierzehn Tage, predigend, die Messe lesend, lehrend und moralisirend. Als seine Abreise nahe war, beschloß er, ein feierliches Te deum zu singen. Er sprach davon mit dem Pfarrer. Aber wie war das anzufangen? Es gab keine bischöflichen Zierrathen. Man konnte zu seiner Verfügung nur eine ärmliche Dorf-Sacristei stellen, sowie einige alte Meßgewänder von abgenutzten Dammast und mit falschen Goldtressen verziert.

»Bah«, sagte der Bischof, »Herr Pfarrer, verkünden Sie immerhin bei der Predigt unser Te deum; das wird sich machen.«

Man suchte in den Kirchen der Umgegend nach. Alle Prachtgegenstände der ärmlichen Sprengel würden vereint noch nicht hingereicht haben, einen Domsänger angemessen zu bekleiden.

Als man sich in dieser Verlegenheit befand, wurde durch zwei unbekannte Reiter, welche im Galopp davon sprengten, eine große Kiste für den Herrn Bischof nach der Pfarrei gebracht und dort niedergesetzt. Man öffnete die Kiste; sie enthielt einen Chormantel von Goldbrokat, eine mit Diamanten geschmückte Mitra, ein erzbischöfliches Kreuz, einen prachtvollen Bischofstab, sämmtlich Gegenstände, die einen Monat zuvor aus dem Schatze von Notre-Dame d'Embrun geraubt worden waren. In der Kiste lag ein Papier, auf dem die Worte standen: »Cravatte dem Herrn Bienvenu

»Sagte ich's nicht, daß die Sache sich machen würde?« sagte der Bischof. Dann fügte er lächelnd hinzu: »Dem, der sich mit dem Ueberwurf eines Pfarrers begnügt, sendet Gott einen erzbischöflichen Chormantel.«

»Ew. Hochwürden!« flüsterte der Pfarrer, indem er den Kopf lächelnd aufwarf, »Gott oder der Teufel.«

Der Bischof sah den Pfarrer fest an und entgegnete mit dem Ton der Autorität: »Gott!«

Als er nach Chastelar zurückkehrte, drängte man sich auf dem ganzen Wege, um aus Neugier zu sehen. Er fand auf dem Pfarrhofe von Chastelar Fräulein Baptistine und Frau Magloire, die auf ihn warteten. Er sagte zu seiner Schwester: »Nun, hatte ich Recht? Der arme Priester ging zu den armen Bergbewohnern mit leeren Händen und mit vollen Händen kehrte er zurück. Ich nahm nichts mit mir, als mein Vertrauen auf Gott, und ich bringe den Schatz einer Kathedrale zurück.«

Am Abend, ehe er zu Bett ging, sagte er noch: »Fürchten wir nie die Räuber, noch die Mörder. Das sind äußere Gefahren, kleine Gefahren! Fürchten wir uns vor uns selbst. Die Vorurtheile, das sind die Räuber, die Laster, das sind die Mörder. Die großen Gefahren liegen in uns selbst. Was kümmert uns das, was unsern Kopf oder unsere Börse bedroht? Denken wir nur an das, was unsere Seele bedroht.«

Dann sich zu seiner Schwester wendend, sagte er:

»Meine Schwester, ein Priester muß nie gegen seine Nebenmenschen geizen. Was sein Nächster thut, das erlaubt Gott. Beschränken wir uns darauf, zu Gott zu beten, wenn wir glauben, daß eine Gefahr uns naht. Beten wir zu ihm nicht für uns, sondern daß unser Bruder nicht unsertwegen in einen Fehler verfalle.«

Uebrigens waren Ereignisse selten in seiner Existenz. Wir erzählen die, welche wir kennen; für gewöhnlich aber verfloß sein Leben damit, täglich und zu allen Augenblicken dasselbe zu thun. Ein Monat seines Jahres glich einer Stunde seines Tages.

»Was aus dem Schatz der Kathedrale von Notre-Dame d'Embrun wurde, so setzt man uns in Verlegenheit, wollte man uns danach fragen. Das waren sehr schöne Dinge, sehr verlockend und sehr gut zum Nutzen der Armen zu verwenden. Gestohlen waren sie ja überdies schon. Die Hälfte des Abenteuers war vollbracht. Es blieb nichts mehr zu thun, als die Richtung des Diebstahls zu verändern und ihn eine kleine Strecke weit den Armen entgegen zu führen. Uebrigens bestätigen wir in dieser Hinsicht nichts. Nur fand man in den Papieren des Bischofs eine ziemlich dunkle Anmerkung, welche sich vielleicht auf diese Angelegenheit bezieht, und die so abgefaßt war: »Die Frage ist, zu wissen, ob das nach der Kathedrale oder nach dem Hospital zu senden ist

*


 << zurück weiter >>