Victor Hugo
Die Elenden. Erste Abtheilung. Fantine
Victor Hugo

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XIII.
Der kleine Gervais

Jean Valjean verließ die Stadt, als ob er ihr entflöhe. Er schritt hastig über die Felder hin, schlug die Wege und die Fußpfade ein, die sich ihm zeigten, ohne zu bemerken, daß er jeden Augenblick wieder umkehrte. So irrte er den ganzen Morgen umher, ohne gegessen zu haben und ohne Hunger zu empfinden. Er war die Beute einer Menge neuer Gefühle. Er empfand eine Art von Zorn; er wußte nicht, gegen wen. Er hätte nicht zu sagen vermocht, ob er gerührt oder gedemüthigt war. In einzelnen Augenblicken empfand er eine eigenthümliche Rührung, die er bekämpfte und der er die Verhärtung seiner letzten zwanzig Jahre entgegensetzte. Dieser Zustand ermüdete ihn. Er sah voll Besorgniß in seinem Innern die Art von entsetzlicher Ruhe sich erschüttern, welche die Ungerechtigkeit und sein Unglück ihm verliehen hatten. Er fragte sich, was er an deren Stelle setzen würde. Zuweilen wäre er wahrlich lieber in dem Gefängniß bei den Gensd'armen gewesen, als daß die Dinge sich so zugetragen hatten. Das würde ihn weniger aufgeregt haben. Obgleich die Jahreszeit ziemlich vorgerückt war, gab es noch hier und dort in den Hecken einige Spätlingsblumen, deren Wohlgeruch, wenn er an ihnen vorüberging, ihm die Erinnerungen seiner Kindheit zurückrief. Diese Erinnerungen waren ihm beinahe unerträglich, so lange hatten sie sich nicht gezeigt.

Unaussprechliche Gedanken häuften sich so während des ganzen Tages in ihm an.

Als die Sonne sich zum Untergang neigte und auf dem Boden den Schatten des geringsten Kiesels verlängerte, saß Jean Valjean hinter einem Gebüsch in einer großen rothen durchaus öden Ebene. Am Horizonte war nichts zu sehen, als die Alpen. Nicht einmal der Kirchthurm eines fernen Dorfes. Jean Valjean konnte etwa drei Stunden von D . . . entfernt sein. Ein Fußpfad, der über die Ebene führte, lief einige Schritt von dem Gebüsche vorüber.

In der Mitte seines Nachdenkens, welches nicht wenig dazu beigetragen haben würde, seine Lumpen noch fürchterlicher für Jemand zu machen, der ihm begegnete, hörte er ein heiteres Geräusch.

Er wendete den Kopf und sah auf dem Fußpfad einen kleinen Savoyarden kommen, der ungefähr zehn Jahr alt sein mochte, seine Leier an der Seite und seinen Kasten mit dem Murmelthier auf dem Rücken.

Eines jener sanften, heitern Kinder, welche von Land zu Land ziehen und ihre Knie durch die Löcher ihrer Hosen zeigen.

Während das Kind sang, unterbrach es von Zeit zu Zeit seinen Gang und spielte Knöcheln mit einigen Geldstücken, die es in der Hand hielt, wahrscheinlich sein ganzes Vermögen. Unter diesen Münzen war auch ein Vierzig-Sousstück.

Das Kind blieb neben dem Gebüsch stehen, ohne Jean Valjean zu sehen, und ließ seine Hand voll Sous, die er bisher mit großer Gewandtheit ganz aufgefangen hatte, auf den Rücken seiner Hand springen.

Diesmal entfiel ihm das Vierzig-Sousstück und rollte durch das Gebüsch bis zu Jean Valjean.

Jean Valjean stellte den Fuß darauf.

Das Kind war indeß seinem Geldstücke mit dem Blicke gefolgt und hatte ihn gesehen.

Es schien nicht verwundert zu sein und ging gerade auf den Mann los.

Es war ein durchaus einsamer Ort. So weit der Blick sich erstrecken konnte, gab es Niemand in der Ebene noch auf dem Fußpfad. Man hörte nichts, als das leise schwache Geschrei eines Schwarmes Zugvögel, welche in ungeheurer Höhe den Himmel durchflogen. Das Kind wendete den Rücken der Sonne zu, die sein Haar mit Goldfaden durchwebte und einen blutrothen Schein auf das wilde Gesicht Jean Valjean's warf.

»Mein Herr,« sagte der kleine Savoyarde mit jenem Vertrauen der Kindheit, welches aus Unwissenheit und Unschuld entspringt, »mein Geldstück?«

»Wie heißt Du?« sagte Jean Valjean.

»Der kleine Gervais, mein Herr.«

»Mach, daß Du fortkommst,« sagte Jean Valjean.

»Mein Herr,« entgegnete das Kind, »geben Sie mir mein Geld zurück.«

Jean Valjean senkte den Blick und antwortete nicht.

Das Kind sagte wieder: »Mein Geld, mein Herr.«

Das Auge Jean Valjean's blieb an den Boden geheftet.

»Mein Geld!« rief das Kind. »Mein weißes Stück! mein Silber!«

Es schien, als hörte Jean Valjean nicht. Das Kind faßte ihn bei dem Kragen seiner Blouse und schüttelte ihn. Zugleich strengte es sich an, den großen eisenbeschlagenen Schuh bei Seite zu schieben, der auf seinem Schatze stand.

»Ich will mein Geld! mein Vierzig-Sousstück!«

Das Kind weinte. Der Kopf Jean Valjean's erhob sich. Er saß noch immer. Seine Augen trübten sich. Er betrachtete das Kind mit einer Art von Staunen, streckte dann die Hand nach seinem Stocke aus und schrie mit furchtbarer Stimme: »Wer da?«

»Ich, mein Herr,« antwortete das Kind. »Der kleine Gervais! Ich! ich! Geben sie mir doch gütigst meine Vierzig-Sous wieder. Haben Sie die Güte, mein Herr, Ihren Fuß fortzunehmen!« Dann wurde er zornig, und so klein er auch war, beinahe drohend:

»Nun, werden Sie ihren Fuß fortnehmen? Nehmen Sie doch ihren Fuß fort, hören Sie!«

»Ha, du bist es noch immer!« sagte Jean Valjean, indem er jetzt plötzlich aufsprang, den Fuß noch immer auf dem Geldstücke, und rief: »Willst du dich wohl packen?«

Das Kind sah ihn erschrocken an, begann dann von Kopf bis zu den Füßen zu zittern und nach einigen Secunden der Verwirrung entfloh es, indem es mit allen Kräften davon lief, ohne zu wagen, sich umzusehen, noch einen Schrei auszustoßen.

Nach einer gewissen Entfernung aber zwang die Athemlosigkeit den Kleinen, stehen zu bleiben, und Jean Valjean hörte ihn mitten in seiner Träumerei schluchzen.

Nach einigen Augenblicken war das Kind verschwunden.

Die Sonne war untergegangen.

Es wurde finster um Jean Valjean her. Er hatte den ganzen Tag nichts gegessen; wahrscheinlich hatte er das Fieber.

Er war stehen geblieben und hatte seine Stellung nicht verändert, seitdem das Kind entflohen war. Sein Athem hob seine Brust in langen und ungleichen Zwischenräumen. Sein Blick, zehn oder zwölf Schritt von sich hin auf den Boden geheftet, schien mit einer tiefen Aufmerksamkeit die Gestalt eines alten blauen Fayence-Scherbens zu betrachten, der in das Gras gefallen war. Plötzlich erbebte er; er fühlte die Kälte des Abends.

Er drückte seine Mütze fester auf die Stirn, suchte unwillkürlich seine Blouse zusammen zu ziehen und zuzuknöpfen, that einen Schritt vorwärts und bückte sich, um seinen Rock vom Boden aufzunehmen.

In diesem Augenblicke bemerkte er das Vierzig-Sousstück, welches sein Fuß halb in die Erde eingetreten hatte, und das unter den Kieseln funkelte. Es war wie ein galvanischer Schlag. –

»Was ist das?« brummte er zwischen den Zähnen. Er wich drei Schritt zurück, blieb dann stehen, ohne seinen Blick von diesem Punkte abwenden zu können, den sein Fuß den Augenblick zuvor betreten hatte, und es war, als ob das in der Dunkelheit leuchtende Ding ein fest auf ihn gerichtetes offenes Auge sei.

Nach einigen Minuten sprang er krampfhaft auf das Silberstück zu, ergriff es, richtete sich empor, blickte in die Ferne über die Ebene hin, warf die Augen auf alle Punkte des Horizonts und erbebte wie ein erschrecktes wildes Thier, das nach einem Asyl sucht.

Er sah nichts. Die Nacht brach an. Die Ebene war kalt und finster, große veilchenblaue Schatten erhoben sich in der Dunkelheit des Zwielichtes.

Er sagte: »Ha!« und schritt rasch in der Richtung vorwärts, in welcher das Kind verschwunden war. Nach einigen dreißig Schritten blieb er stehen, blickte umher und sah nichts.

Nun rief er mit aller Kraft: »Kleiner Gervais! kleiner Gervais!« er schwieg, er wartete.

Nichts antwortete.

Die Gegend war öde und still. Er war umgeben von dem weiten All. Nichts rings um ihn her als Schatten, im welchen sein Blick sich verlor, als Schweigen, in welchem seine Stimme sich verlor.

Es wehte ein eiskalter Wind und verlieh den Dingen rings um ihn her eine Art finstern Lebens. Gesträuche schüttelten ihre kleinen mageren Arme mit starker Wuth. Man hätte glauben können, sie bedrohten und verfolgten Jemand.

Er begann wieder zu gehen, dann fing er an zu rufen und von Zeit zu Zeit blieb er stehen und schrie in die Einsamkeit hinein mit einer Stimme, welche die furchtbarste und verzweiflungsvollste war, die man hören konnte: »Kleiner Gervais! Kleiner Gervais!

Hätte das Kind zugehört, so würde es sich gefürchtet und sich wohl gehütet haben, sich zu zeigen. Aber das Kind war ohne Zweifel schon weit entfernt.

Er begegnete einem Priester zu Pferde. Er ging aus ihn zu und sagte:

»Herr Pfarrer, haben Sie ein Kind gesehen?«

»Nein,« sagte der Priester.

»Einen gewissen kleinen Gervais?«

»Ich habe Niemand gesehen.«

Er zog zwei Stücke von fünf Francs aus seinem Geldsack und übergab sie dem Priester.

»Herr Pfarrer, dies hier für Ihre Armen. Herr Pfarrer, es ist ein kleiner Knabe von ungefähr zehn Jahren, der ein Murmelthier hat, glaube ich, und eine Leier. Er ging. Einer der Savoyarden, Sie wissen wohl?«

»Ich habe ihn nicht gesehen.«

»Der kleine Gervais? Er ist nicht aus den Dörfern hier herum? Können Sie mir das sagen?«

»Wenn es so ist, wie Sie sagen, mein Freund, so ist es ein kleines, fremdes Kind. Die gehen durch das Land. Man kennt sie nicht.«

Jean Valjean nahm hastig noch zwei andere Fünf-Franksstücke und gab sie dem Priester.

»Für Ihre Armen!« sagte er.

Dann fügte er wie verwirrt hinzu:

»Herr Abbé, lassen Sie mich verhaften. Ich bin ein Dieb.«

Der Priester setzte seinem Pferde die Sporen ein und entfloh voll Schrecken.

Jean Valjean lief in der Richtung weiter, die er anfangs eingeschlagen hatte.

So legte er eine ziemlich weite Strecke zurück, umherblickend, rufend, schreiend, aber er begegnete Niemand mehr. Zwei oder drei Mal rannte er über die Ebene nach einem Gegenstand zu, der ihm ein liegendes oder zusammengekauertes Wesen zu sein schien; es war nichts als Gebüsch oder aus der Erde hervorsehende Felsstücke. Endlich blieb er an einem Orte stehen, an welchem drei Fußwege sich kreuzten. Der Mond war aufgegangen. Er ließ seinen Blick in die Weite streifen und rief zum letzten Male: »Kleiner Gervais! kleiner Gervais! kleiner Gervais!« Sein Schreien verhallte in der Finsterniß, ohne nur ein Echo zu erwecken. Er murmelte wieder: »Kleiner Gervais!« aber mit schwacher, beinahe tonloser Stimme. Das war seine letzte Anstrengung! Seine Knie brachen plötzlich unter ihm, als hätte eine unsichtbare Macht ihn unter dem Gewichte seines schlechten Gewissens niedergeschmettert. Er sank erschöpft auf einen großen Stein, mit den Fäusten in die Haare fahrend, das Gesicht auf die Knie niedergebeugt, und rief: »Ich bin ein Elender!«

Dann brach sein Herz und er fing an zu weinen. Es war das erste Mal seit neunzehn Jahren, daß er weinte.

Als Jean Valjean den Bischof verließ, war er, wie man sah, weit entfernt von alle dem, was er bis dahin gedacht hatte. Er konnte sich von dem, was in ihm vorging, nicht Rechenschaft, geben. Er steifte sich gegen die himmlische Handlung und die sanften Worte des Greises. »Sie haben mir versprochen ein rechtschaffener Mensch zu werden. Ich kaufe Ihnen Ihre Seele ab. Ich entreiße Sie dem Geiste der Verderbniß und übergebe sie dem guten Gott.« Daran erinnerte er sich unablässig wieder. Er setzte dieser himmlischen Nachsicht den Stolz entgegen, der in uns gleich der Festung des Bösen liegt. Er fühlte unbestimmt, daß die Verzeihung dieses Priesters der größte Angriff und der furchtbarste Stoß war, durch den er bisher noch je erschüttert wurde; daß seine Verhärtung entschieden wäre, wenn er dieser Barmherzigkeit widerstände, daß er, wenn er nachgäbe, für immer auf den Haß verzichten müßte, mit welchem die Handlungen der andern Menschen seine Seele so lange Jahre erfüllt hatten, und der ihm gefiel; daß er diesmal siegen oder besiegt werden mußte, und daß der Kampf, ein hiesiger Kampf zwischen seiner eigenen Bosheit und der Güte jenes Mannes begonnen hatte.

All diesem Lichte gegenüber war er wie ein Betrunkener. Hatte er, während er so dahinging, die Augen verstört, einen deutlichen Begriff davon, welche Folgen für ihn aus seinem Abenteuer in D . . . entspringen würden? Vernahm er all das geheimnißvolle Summen, welches den Geist in gewissen Augenblicken des Lebens warnt oder belästigt? Flüsterte eine Stimme ihm in das Ohr, daß er so eben eine feierliche Stunde seines Lebens zurückgelegt hätte, daß es für ihn keinen Mittelweg mehr gäbe, daß er künftig, würde er nicht der beste der Menschen, der schlechteste der selben werden müßte, daß er jetzt gewissermaßen höher steigen müßte wie der Bischof oder noch unter den Galeerensträfling herabsinken; daß er, wollte er gut werden, ein Engel sein, wollte er boshaft bleiben, ein Ungeheuer werden müßte.

Auch hier wieder muß man an sich die Fragen richten, die wir schon anderwärts aufgestellt haben; sammelte er verworren irgend einen Schatten von alle dem in seinem Gedanken? Gewiß bildet das Unglück, wie wir schon sagten, die Erziehung des Verstandes, indeß es ist zweifelhaft, ob Jean Valjean im Stande war, alles das zu entwickeln, was wir hier andeuten. Wenn er diese Gedanken hatte, so gewahrte er sie mehr als er sie deutlich sah und sie führten nur dazu, ihn in eine unerklärliche und beinahe schmerzliche Verwirrung zu stürzen. Als er jene mißgestaltete und schwarze Sache verließ, die man Bagno nennt, hatte der Bischof seiner Seele wehe gethan, wie ein all zu grelles Licht den Augen wehe thut, wenn man aus der Dunkelheit tritt.

Das künftige Leben, welches sich ihm von jetzt an bot, rein und leuchtend, erfüllte ihn mit Zittern und Besorgniß. Er wußte wahrlich nicht mehr wo er war. Wie ein Käuzchen, das plötzlich die Sonne aufgehen sieht, war der Galeerensträfling durch die Tugend geblendet und beinahe blind gemacht worden.

Was gewiß war, was er aber nicht glaubte, ist, daß er schon nicht mehr derselbe Mensch war, daß Alles in ihm sich verwandelt hatte, daß es nicht mehr in seiner Gewalt lag, zu machen, daß der Bischof nicht mit ihm gesprochen, ihn nicht berührt hatte.

In dieser Geistesstimmung begegnete er dem kleinen Gervais, stahl er demselben seine vierzig Sous. Weshalb? Er hätte es sicher nicht zu erklären vermocht; war es eine letzte Wirkung und wie eine äußerste Anstrengung der bösen Gedanken, die er aus dem Bagno mitbrachte, ein Rest des Impulses, ein Resultat dessen, was man in der Statik die Beharrungskraft nennt? Das war es, und vielleicht auch noch weniger als das. Sagen wir ganz einfach, daß nicht er es gewesen war, der gestohlen hatte, nicht der Mensch, sondern das Thier, welches aus Gewohnheit und aus Instinct den Fuß auf das Geldstück stellte, während der Beistand sich unter so vielen neuen und unerhörten Bestürmungen abkämpfte. Als der Verstand erwachte und diese Handlung des Thieres sah, taumelte Jean Valjean erschrocken zurück und stieß einen Schrei des Entsetzens aus.

Das kam daher, weil er – eigenthümliches Phänomen, nur in der Lage möglich, in welcher er sich befand, indem er dem Kinde das Geld stahl, etwas that, wozu er schon nicht mehr fähig war.

Wie dem sei, so brachte doch jedenfalls diese letzte schlechte Handlung bei ihm eine entscheidende Wirkung hervor; sie durchfuhr plötzlich das Chaos, welches er in seinem Verstande hatte, verbannte es, warf auf die eine Seite die dichte Finsterniß, auf die andere das Licht und wirkte auf seine Seele bei dem Zustande, in welchem sie sich befand, wie in der Chemie gewisse rückwirkende Mittel auf eine getrübte Mischung, indem sie ein Element niederschlagen und das andere klären.

Sogleich, selbst noch ehe er prüfte und überlegte, trachtete er, außer sich und wie Jemand, der sich zu retten sucht, das Kind wieder zu finden, um ihm sein Geld zurückzugeben, und als er erkannte, daß das nutzlos und unmöglich sei, blieb er verzweifelnd stehen. In dem Augenblicke, als er ausrief: »Ich bin ein Elender!« hatte er sich so erblickt wie er war, und schon hatte er sich in solchem Grade von sich selbst getrennt, daß es ihm vorkam, er sei nur noch ein Phantom, und er habe vor sich in Fleisch und Bein, den Stock in der Hand, die Blouse auf dem Leibe, den Tornister mit gestohlenen Gegenständen auf dem Rücken, den gefährlichen Galeerensträfling Jean Valjean mit seinem entschlossenen finstern Gesicht, seinen verabscheuungswürdigen Plänen in den Gedanken.

Das Uebermaaß des Unglücks hatte ihn, wie wir bemerkt haben, in gewisser Art zum Visionair gemacht. Das war daher wie eine Vision. Er sah wahrhaft diesen Jean Valjean, das finstere Gesicht, vor sich. Er stand fast im Begriff, sich zu fragen, wer dieser Mensch sei und er empfand Abscheu vor ihm.

Sein Hirn befand sich in einem jener gewaltsamen und dennoch entsetzlich ruhigen Augenblicke, in denen die Träumerei so tief ist, daß sie die Wirklichkeit absorbirt. Man sieht dann nicht mehr die Gegenstände, die man vor sich hat und man erblickt wie außer sich selbst die Gestalten, die man in seinem Geiste hat.

Er betrachtete sich also gewissermaßen Angesicht in Angesicht, und zugleich erblickte er durch diese Luftspiegelung hindurch in einer geheimnißvollen Tiefe eine Art von Licht, das er anfangs für eine Fackel hielt. Als er aufmerksamer auf das Licht sah, das sich seinem Gewissen zeigte, erkannte er, daß es eine menschliche Gestalt hatte und daß diese Fackel der Bischof war.

Sein Gewissen betrachtete so wechselsweise die beiden Menschen, die er vor sich hatte, den Bischof und Jean Valjean an. Es war nicht weniger als der Erste erforderlich gewesen, um den Zweiten zu erreichen. In Folge einer jener eigenthümlichen Wirkungen, welche aus solcher Art von Verzückungen entspringen, vergrößerte sich, je mehr seine Träumerei sich verlängerte, der Bischof in seinen Augen und wurde strahlender, während Jean Valjean sich verkleinerte und erlosch. In einem gewissen Augenblicke war er nur noch ein Schatten. Plötzlich war er verschwunden. Der Bischof allein war geblieben.

Er erfüllte die ganze Seele dieses Elenden mit einem prachtvollen Lichte.

Jean Valjean weinte lange. Er weinte heiße Thränen, weinte mit Schluchzen, mit mehr Schwäche als ein Weib, mit mehr Schrecken als ein Kind.

Während er weinte, wurde es in seinem Hirne mehr und mehr Tag, ein köstlicher Tag, ein entzückender und zugleich fürchterlicher Tag. Sein vergangenes Leben, sein erster Fehltritt, seine lange Büßung, seine äußere Verthierung, seine innere Verhärtung, seine Freilassung, aufgeheitert durch so viele Pläne der Rache, was ihm bei dem Bischof begegnet war. Das Letzte, was er gethan hatte, der Diebstahl von vierzig Sous, den er an einem Kinde beging, ein Verbrechen, das um so feiger, um so verdammenswerther war, da es auf die Verzeihung des Bischofs folgte. Alles erschien ihm deutlich, aber mit einer Deutlichkeit, die er bisher noch nie gesehen hatte. Er prüfte sein Leben und es erschien ihm abscheulich; seine Seele, und sie erschien ihm entsetzlich. Dennoch lag ein mildes Licht über diesem Leben, dieser Seele. Es war ihm, als sähe er Satan bei dem Lichte des Paradieses.

Wie viele Stunden weinte er so? Was that er, nachdem er geweint hatte? Wohin ging er? Man hat es nie erfahren. Nur so viel scheint erwiesen zu sein, daß in eben dieser Nacht ein Fuhrmann, der um jene Zeit den Dienst von Grenoble versah und gegen drei Uhr Morgens nach D . . . kam, als er durch die Straße des bischöflichen Palastes fuhr, in dem Schatten vor der Thür des hochwürdigen Herrn Bienvenu einen Menschen sah, der in der Haltung eines Betenden auf dem Straßenpflaster kniete.

*


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