Victor Hugo
Die Elenden. Erste Abtheilung. Fantine
Victor Hugo

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VI.
Capitel, worin man sich anbetet

Tafelsprüche und Liebessprüche; die einen sind ebenso ungreifbar wie die andern. Redensarten der Liebe sind Wolken, Redensarten bei Tisch sind Dunst.

Fameuil und Dahlia trällerten; Tholomyès trank, Zephyne lachte, Fantine lächelte. Listolier blies in eine Holztrompete, die er in St. Cloud gekauft hatte. Favourite blickte Blachevelle zärtlich an und sagte:

»Blachevelle, ich bete Dich an.«

Dies führte zu der Frage Blachevelle's:

»Was würdest Du thun, Favourite, wenn ich aufhörte, Dich zu lieben?«

»Ich!« rief Favourite, »so, sage das nicht, selbst nicht im Spaß! Wenn Du aufhörtest, mich zu lieben, würde ich Dir nachspringen. Dich kratzen, krallen. Dich mit Wasser begießen, Dich arretiren lassen.«

Blachevelle lächelte mit der wollüstigen Albernheit eines Menschen, dessen Eigenliebe man kitzelt.

Favourite fuhr fort:

»Ja, ich würde nach der Wache rufen! Wohl, ich würde mich nicht geniren! Canaille!«

Blachevelle warf sich außer sich auf seinen Stuhl zurück und schloß voll Stolz beide Augen.

Dahlia sagte essend während des Getöses leise zu Favourite:

»Du betest also Deinen Blachevelle sehr an?«

»Ich? Ich verabscheue ihn«, erwiderte Favourite in dem nämlichen Tone, indem sie ihre Gabel wieder ergriff. »Er ist ein Geizhals. Ich liebe den Kleinen mir gerade gegenüber. Er ist sehr hübsch dieser junge Mensch; kennst Du ihn? Man sieht, daß er von der Art ist, Schauspieler zu sein. Ich liebe die Schauspieler. Sobald er nach Haus kommt, sagt seine Mutter: »Ach mein Gott! meine Ruhe ist verloren. Nun wieder schreien. Aber mein Freund, Du zerreißt mir den Kopf! – Weil er in das Haus geht, auf Böden mit Ratten, in schwarze Löcher, so hoch er steigen kann – und singen kann und declamiren, und was weiß ich Alles? Man hört ihn von unten! Er gewinnt schon 20 Sous täglich bei einem Advocaten dafür, daß er Chicanen schreibt. Er ist der Sohn eines ehemaligen Sängers in St. Jacques du Haut-Pas, ach, er ist sehr hübsch. Er betet mich so an, daß er eines Tages, als er sah, wie ich Stärke für den Krepp machte, zu mir sagte: Fräulein, machen Sie Kräpfeln von Ihren Handschuhen, und ich esse sie. Nur Künstler können solche Dinge sagen. Ach er ist sehr hübsch. Ich bin im Zuge, wahnsinnig wegen des Kleinen zu werden. Gleichviel, ich sage Blachevelle, daß ich ihn anbete. Wie ich lüge! Was? Wie ich lüge!«

Favourite machte eine Pause und fuhr dann fort:

»Dahlia siehst Du, ich bin traurig. Es hat den ganzen Sommer nichts gethan, als geregnet; der Wind verdrießt mich, der Wind vertreibt den Zorn nicht. Blachevelle ist sehr hitzig; kaum giebt es grüne Erbsen auf dem Markte; man weiß nicht, was man essen soll. Ich habe den Spleen wie die Engländer sagen. Die Butter ist so theuer! und dann, siehst Du, ist es ein Gräuel. Wir essen an einem Orte, wo ein Bett steht, und das verleidet mir das Leben.«

*


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