Victor Hugo
Die Elenden. Erste Abtheilung. Fantine
Victor Hugo

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VIII.
Philosophie nach dem Trinken.

Der Senator, von welchem weiter oben gesprochen wurde, war ein erfahrener Mann, der seinen Weg gradeaus gemacht hatte, ohne auf die Hindernisse zu achten, auf welche man trifft und die man Gewissen, geschworene Eide, Gerechtigkeit, Pflicht nennt; er war grade auf sein Ziel zugeschritten und ohne ein einziges Mal von der Linie seines Emporkommens und seines Interesses abzuweichen. Er war ein ehemaliger Anwalt, ergriffen durch den Erfolg, durchaus kein boshafter Mensch, und leistete alle möglichen kleinen Dienste seinen Söhnen, seinen Schwiegersöhnen, seinen Verwandten und selbst Freunden; er hatte weislich von dem Leben die guten Seiten, die guten Gelegenheiten, die guten Vortheile in Anspruch genommen. Alles Uebrige erschien ihm ziemlich einfältig. Er war geistreich und gerade gelehrt genug, um sich für einen Schüler Epicur's zu halten, während er vielleicht nichts weiter war, als ein Product Pigault-Lebruns. Er lachte gern auf anmuthige Weise über endlose und ewige Dinge und die »Alfanzereien des ehrlichen Bischofs«. Er lachte darüber zuweilen mit liebenswürdiger Autorität vor Herrn Myriel selbst, der ihn anhörte. Ich weiß nicht mehr, bei welcher halbofficiellen Ceremonie der Graf *** (dieser Senator) und Herr Myriel bei einem Präfecten zu Mittag Speisen mußten. Bei dem Dessert rief der Senator, der etwas aufgeheitert, obgleich immer sehr würdevoll war:

»Parbleu, Herr Bischof, plaudern wir. Ein Senator und ein Bischof sehen einander selten ohne Augenblinzeln an. Wir sind zwei Auguren. Ich will Ihnen ein Geständniß ablegen. Ich habe meine Philosophie.«

»Und Sie thun recht daran,« entgegnete der Bischof. »Wie man seine Philosophie macht, so bettet man sich. Sie liegen auf einem Purpurlager, Herr Senator.«

Der Senator, dadurch ermuthigt, entgegnete:

»Lassen Sie uns gute Kinder sein.«

»Gute Teufel selbst,« sagte der Bischof.

»Ich erkläre Ihnen,« erwiderte der Senator, »daß der Marquis d'Argens, Pyrrhon, Hobbes und Naigeon keine Lümmel sind. Ich habe in meiner Bibliothek alle meine Philosophen mit Goldschnitt.«

»Gleich Ihnen selbst, Herr Graf,« fiel der Bischof ein.

Der Senator fuhr fort:

»Ich hasse Diderot, er ist ein Ideolog, ein Declamator und ein Revolutionair, der im Grunde an Gott glaubt und bigotter ist, als Voltaire. Voltaire hat sich über Needham lustig gemacht und hat Unrecht gehabt. Denn die Essig-Aelchen Needham's beweisen, daß Gott unnütz ist. Ein Tropfen Weinessig in einem Löffel Mehlteig ersetzt das: Es werde Licht. Nehmen Sie den Tropfen und den Löffel größer an, so haben Sie die Welt. Der Mensch, das ist das Aelchen. Wozu nützt denn der ewige Vater? Herr Bischof, die Hypothese Jehovah ermüdet mich. Sie ist nur gut dazu, magere Leute zu machen, die närrische Gedanken hegen. Nieder mit dem großen All, das mich absetzt! Es lebe das Nichts, das mich in Ruhe läßt! Unter uns, und um meine Tasche zu leeren und bei meinem Pastor zu beichten, wie es sich geziemt, gestehe ich Ihnen, daß ich gesunden Verstand habe. Ich bin nicht wahnsinnig von Ihrem Jesus eingenommen, der an jeder Ecke Entsagung und Opfer predigt! Es ist ein Rath des Geizigen an Schelme. Entsagung! Wozu? Opfer! Für wen? Ich sehe nicht, daß ein Wolf sich dem Glücke eines anderen Wolfes opfert. Bleiben wir bei der Natur. Wir sind auf dem Gipfel; haben wir eine überlegene Philosophie. Was nützt es, oben zu sein, wenn man nicht weiter sieht, als über die Nasenspitze der Anderen? Leben wir lustig. Das Leben, das ist Alles. Daß der Mensch eine andere Zukunft habe, anderwärts, dort oben, dort unten, irgendwo, davon glaube ich nicht ein verrätherisches Wort. So! Man empfiehlt mir Opfer und Entsagung. Ich soll auf Alles achten, was ich thue; ich soll mir den Kopf über das Gute und das Böse zerbrechen, über das Gerechte und das Ungerechte, über das Recht und das Unrecht. Wozu? Weil ich von meinen Handlungen Rechenschaft zu geben haben werde. Wann? Nach meinem Tode. Was für ein schöner Traum! Nach meinem Tode! Da muß Der sehr fein sein, der mich kneipt. Lassen Sie doch eine Handvoll Asche durch eine Schattenhand ergreifen. Sprechen wir die Wahrheit, wir, die wir die Eingeweihten sind und den Schleier der Isis gelüftet haben. Es giebt weder Gutes noch Böses; es giebt nichts, als die Vegetation! Suchen wir nach dem Wirklichen, forschen wir nach Thatsachen. Gehen wir auf den Grund, zum Teufel! Man muß die Wahrheit wittern, die Erde aufwühlen und sie ergreifen. Dann gewährt sie uns ausgesuchte Freuden. Dann werden wir stark und lachen. Ich bin aufrichtig. Herr Bischof, die Unsterblichkeit des Menschen ist eine Mühle, die nur durch Schleusen in Bewegung gesetzt wird. O, das allerliebste Versprechen! Dem muß man glauben! Was für eine schöne Anweisung Adam hat! Erst ist er Seele, dann wird er Engel und schließlich wachsen ihm blaue Flügel an den Schultern. Stehen Sie mir doch bei! Ist es nicht Tertullian, welcher sagt, daß die Seele von einem Stern zum andern wandern wird? Mag sein. Man wird zu einer Heuschrecke der Sterne und dann wird man Gott sehen. La, la, la! Albernheit, alle diese Paradiese! Gott ist eine Riesenalbernheit. Ich werde das meiner Treu nicht im Moniteur sagen, aber ich flüstere es unter Freunden, inter pocula. – Die Erde wegen des Paradieses opfern, heißt die Beute wegen des Schattens fahren lassen. Sich durch die Unendlichkeit betrügen lassen? So einfältig bin ich nicht. Ich bin Nichts. Ich nenne mich Herr Graf um Nichts, Senator. War ich schon vor meiner Geburt? Nein. Werde ich nach meinem Tode sein? Nein. Was bin ich? Etwas Staub, angehäuft durch einen Organismus. Was habe ich auf dieser Erde zu schaffen? Mir bleibt die Wahl. Leiden oder genießen. Wohin wird mich das Leiden führen? Zum Nichts. Aber ich habe gelitten. Wohin wird mich der Genuß führen? Zum Nichts. Aber ich habe genossen. Meine Wahl ist getroffen. Man muß essen oder gegessen werden. Ich esse. Besser, der Zahn zu sein, als das Kraut. Das ist meine Weisheit. Dann gehe, wie man Dich stößt; der Todtengräber ist da, das Pantheon für uns Alle. Jeder fällt in das große Loch. Ende, Finis. Vollständige Liquidation. Dies ist der Ort zur Ohnmacht. Der Tod ist todt, glauben Sie mir. Daß Jemand da sei, der mir etwas zu sagen hat? Ich lache, wenn ich nur daran denke. Erfindung der Ammen. Ein Knecht Ruprecht für die Kinder. Jehovah für die Menschen. Nein, unsere Zukunft ist die Nacht. Hinter dem Grabe giebt es nichts mehr, das gleiche Nichts. Mögen Sie Sardanapal gewesen sein, oder Vincenz von Paula, das ist dasselbe Nichts. Das ist das Wahre. Leben Sie also vor allen Dingen. Benutzen Sie Ihr Ich, während Sie es haben. In Wahrheit, so ist es, Herr Bischof; ich habe meine Philosophie und meine Philosophen. Ich lasse mich nicht durch Possen irre machen. Nach Allem muß es indeß Etwas für die geben, die unten sind, für die Barfüßler, für die Hungerleider, für die Elenden. Man giebt ihnen die Legenden, die Chimären, die Seele, die Unsterblichkeit, das Paradies, die Sterne zu verschlucken. Daran kauen sie; das legen sie auf ihr trockenes Brod. Wer nichts hat, hat den guten Gott. Das ist wohl das Wenigste. Ich hindere das nicht, aber ich behalte für mich meinen Herrn Naigeon. Der liebe Gott ist gut für das Volk.«

Der Bischof klatschte in die Hände.

»Das heißt sprechen!« rief er. »Dieser Materialismus ist wirklich etwas Vortreffliches und wahrhaft Wunderbares! Es besitzt ihn nicht Jeder, der will. O, wenn man ihn hat, so wird man nicht mehr betrogen. Man läßt sich nicht einfältig exiliren, wie Cato, noch steinigen, wie Stephan, noch verbrennen, wie Johanna d'Arc. Die, denen es gelungen ist, sich diesen bewundernswerthen Materialismus zu verschaffen, haben die Freude, sich unverantwortlich zu fühlen, und zu glauben, daß sie Alles ohne Besorgniß verschlingen können. Aemter, Sinecuren, schlecht oder recht erworbene Macht, einträgliche Widerrufe, nützliche Verräthereien, schmackhafte Beschwichtigungen ihres Gewissens, und daß sie dann in das Grab sinken werden, nachdem sie ihre Verdauung gehalten haben. Wie das angenehm ist! Ich sage das nicht für Sie, Herr Senator. Indeß ist es mir unmöglich, Ihnen nicht Glück zu wünschen. Die großen Herren haben, wie Sie sagen, eine Philosophie vor sich und für sich. Ausgezeichnet, raffinirt, nur den Reichen zugänglich! Gut für alle Summen, bewundernswerth, die Lust des Lebens würzend. Diese Philosophie ist aus der Tiefe geholt und durch besondere Forscher ausgegraben. Aber sie sind gute Fürsten und finden es nicht übel, daß der Glaube an den lieben Gott die Philosophie des Volkes sei, so Etwas, wie die Gans mit Maronen und der trüffelgefüllte Truthahn des Armen.«

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