Victor Hugo
Die Elenden. Erste Abtheilung. Fantine
Victor Hugo

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VIII.
Die Welle und der Schatten

Ein Mensch im Meer!

Gleichviel! das Fahrzeug hält nicht an. Der Wind weht, das finstere Schiff hat eine Straße, die es zu verfolgen gezwungen ist. Es fährt vorüber.

Der Mann verschwindet, erscheint wieder, sinkt unter, kommt wieder an die Oberfläche, ruft, streckt die Arme aus, man hört ihn nicht. Das Schiff, bebend unter dem Sturme, ist ganz bei seinem Manöver; die Matrosen und die Passagiere erblickten selbst den ertrunkenen Menschen nicht mehr; sein elender Kopf ist nur ein Punkt in dem ungeheuren Raume der Wogen.

Er stößt Verzweiflungsgeschrei in der Tiefe aus. Was für ein Gespenst ist das Segel, das sich entfernt? Er betrachtet es außer sich. Es entfernt sich, es nimmt ab, es verschwindet. Eben war es noch da. Er gehörte zu der Equipage, er ging auf dem Verdeck mit den Uebrigen hin und her, er hatte seinen Theil an dem Athem und der Sonne; er war ein lebendes Wesen. Jetzt, – was ist denn geschehen? Er ist ausgeglitten, ist gefallen. Alles ist zu Ende.

Er liegt in dem ungeheuren Wasser; er hat unter seinen Füßen nichts mehr als Fluth und Vernichtung. Die Wogen, zerrissen und zerfetzt durch den Wind, umgeben ihn auf gräßliche Weise, das Wogen des Abgrundes trägt ihn mit sich fort, alle Fetzen des Wassers bewegen sich um seinen Kopf, eine Bevölkerung von Wellen speit ihn an. Verworrene Oeffnungen verschlingen ihn halb. Jedesmal, wenn er untersinkt, gewahrt er nachterfüllte Abgründe; entsetzliche unbekannte Vegetationen erfassen ihn, umschlingen ihm die Füße, ziehen ihn zu sich; er fühlt, daß er selbst Abgrund wird, er bildet einen Theil des Schaums, die Wogen werfen ihn eine der anderen zu, er trinkt Bitterkeit, der feige Ocean beharrt darauf, ihn zu ertränken; die Ungeheuerlichkeit spielt mit seiner Todesqual. Ihm scheint, als sei all' das Wasser Haß.

Und dennoch kämpft er.

Er versucht sich zu vertheidigen; er versucht sich zu erhalten, er strengt sich an, er schwimmt. Er, die arme Kraft, die sogleich erschöpft sein wird, kämpft gegen das Unerschöpfliche.

Wo ist denn das Schiff? Dort. Kaum noch sichtbar in der bleichen Finsterniß des Horizonts.

Die Windstöße pfeifen; aller Schaum des Meeres dringt auf ihn ein. Er erhebt die Augen und sieht nichts wie die schwarzblauen Wolken. Er wohnt sterbend dem ungeheuren Wahnsinn des Meeres bei, er wird durch diese Tollheit gemartert; er hört Getöse unbekannter Menschen, welches von jenseits der Erde und von einem entsetzlichen Aufenthalte herzurühren scheint.

Es sind Vögel in den Wolken, sowie es Engel über dem menschlichen Elende giebt. Aber was können sie für ihn? das flieht, sinkt, schwebt dahin, und er, er röchelt.

Er fühlt sich zugleich verschlungen durch die beiden Unendlichkeiten, den Ocean und den Himmel; der eine ist ein Grab, der andere ein Leichentuch.

Die Nacht sinkt herab, seit Stunden schwimmt er, seine Kräfte sind zu Ende.

Das Schiff, jenes ferne Ding, auf dem es Menschen gab, ist verschwunden. Er selbst so allein in dem furchtbaren dunklen Schlund, er sinkt, er wird steif; er windet sich, er fühlt unter sich die unbestimmten Ungeheuer des Unsichtbaren; er ruft.

Es sind keine Menschen mehr da; wo ist Gott?

Er ruft: »Jemand! Jemand!« er ruft noch einmal.

Nichts am Horizont, nichts am Himmel. Er fleht die Winde, die Woge, die Welle, die Klippe an; Alles ist Traum, er beschwört den Sturm; der unerbittliche Sturm gehorcht nur der Unendlichkeit.

Rings um ihn her Finsterniß, Dunkelheit, Einsamkeit, der stürmische und unablässige Tumult, das endlose Zusammenschlagen wilder Gewässer. In ihm Entsetzen und Erschöpfung, unter ihm der Sturz. Kein Stützpunkt. Er denkt an die finsteren Abenteuer der Leiche in den unbegrenzten Schatten. Der endloseste Frost lähmt ihn. Seine Hände schließen sich krampfhaft und erfassen das Nichts. Winde, Wolken, Wirbel, Stöße des Sturmes, Sterne – nutzlos! Was thun? der Verzweifelnde giebt sich auf. Wer erschöpft ist, läßt sich sterben, läßt mit sich gewähren, läßt sich gehen, läßt seinen Halt los, und so rollt er für ewig in die finsteren Tiefen des verschlingenden Abgrundes.

O, unerbittlicher Gang der menschlichen Gesellschaften. Verlust an Menschen und Seelen während des Weges? Ocean, in den Alles sinkt, was das Gesetz fallen läßt! Finsteres Verschwinden des Beistandes. O moralischer Tod!

Das Meer, das ist die unerbittliche gesellschaftliche Nacht, in welche die Strafgesetze ihre Verurtheilten schleudern. Das Meer, das ist das ungeheure Elend.

Die Seele, welche mit den Sternen hinabsinkt, kann zur Leiche werden. Wer wird sie wieder auferwecken?

*


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