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Dreizehntes Kapitel.
Im Schoße der Erde.


Der treue Pieter war der erste, der aus der tiefen Betäubung erwachte. Er lag auf dem Boden des Kanoes, über dessen Rand seine Füße hingen. Tiefste Dunkelheit umgab ihn.

Er mußte seine Sinne sammeln, doch trug das Brüllen des Wasserfalls das seinige dazu bei, ihn wieder vollständig in die Wirklichkeit zurückzurufen.

»Junge! Junge! war das ne Fahrt, der reine Rutsch auf dem Rasiermesser, den ich mal abgebildet gesehen habe,« murmelte er. »Wo sind wir denn nu? Jedenfalls auf 'ner Sandbank. Wenn nur der Spektakel des Wasserfalls aufhörte und dafür ein bißchen mehr Licht wäre.«

Er versuchte sich aufzurichten, was ihm schließlich mit einiger Schwierigkeit auch gelang. »Der alte Schädel summt ganz ordentlich, aber von den Knochen scheint keiner Schaden gelitten zu haben. Na jetzt mal zu den andern, ob da wohl alles noch in Ordnung ist?«

Ein Streichholz beleuchtete die Scene und zeigte Pieter die Insassen des Bootes am Boden durcheinander liegend. Auf des Kapitäns Füßen war der Franzose gebettet, auf diesem lag George. Weiter überzeugte sich der alte Matrose, daß die Gewalt des Stoßes das Kanoe der Länge nach durchspalten hatte und die Ruderbänke geborsten waren. Dies brachte ihn auf eine praktische Idee. Rasch waren einige Späne mit dem breiten scharfen Messer vom Bootsrande geschnitten und durch ein neues Streichholz zum Brennen gebracht. Die improvisierte Fackel beleuchtete besser die Umgebung und zeigte Pieter, daß sich das Boot auf dem Trockenen befand. Wenige Meter gegen links rauschte das Wasser dem Katarakte zu, doch an ihrem Platze lagen nur Steine herum. Mit einem Freudenrufe machte er sich nun daran, Kapitän Parr aufzurütteln, wozu ihm nur die eine Hand zur Verfügung stand, da die andere die brennenden Späne hielt. Parr öffnete endlich die Augen zu Pieters inniger Freude.

»Wachen Sie auf, Herr Kommandant,« rief Pieter so laut er es vermochte, »wir sind auf dem Trocknen.«

»Gerettet also?« glaubte Pieter zu hören.

»Für den Augenblick jedenfalls! Stehen Sie auf, Herr Kommandant, damit ich die beiden anderen wachkriegen kann.«

»George?«

»Liegt auf Ihren Füßen, ebenso der Franzose.«

Endlich gelang es Pieters kräftigem Ziehen, die Füße Parrs unter der Last der beiden Ohnmächtigen vorzubekommen; gleichzeitig rollte ein Gegenstand zu ihm heran. »Hurra, der Rum,« rief er, und schon setzte er die Öffnung der Kürbisflasche an Parrs Lippen, der einen kräftigen, seine Lebensgeister vollends erweckenden Trunk that, worauf auch Pieter einen wahren Kuhschluck genehmigte. Mit Parrs Hilfe wurde George aus der Betäubung erweckt. Nur über Kopfschmerzen klagte der Jüngling, sonst war er vollkommen wohl auf. Den Franzosen überließ Pieter Onkel und Neffen. Er selbst schnitt Späne von dem Kanoe, um damit ein Feuer anzumachen, das sie durch seinen Schein über den Ort ihres Aufenthaltes unterrichten sollte.

Soviel Pieter beim ersten flüchtigen Blick sehen konnte, war es eine Höhle von mächtiger Ausdehnung, weder die Wölbung, noch die Abschlußwände vermochte er von seinem Platze aus zu erblicken. Er griff daher zu einem brennenden Holzscheite und wagte sich tiefer in die Höhle hinein. Doch nur wenige Schritte hatte er sich von dem Feuer entfernt, als ihn Kapitän Parr zurückrief.

»Wir können Durand nicht zu sich bringen, Pieter. Komm und leuchte. Ich fürchte, wir haben einen Toten vor uns.«

»Ach was, Unkraut vergeht nicht! Es hat 'nen harten Bums auf den Schädel gegeben, und der ist nur zarter als die unseren, die auf Körpern und nicht auf Puppengestellen sitzen.«

Nichtsdestoweniger kam Pieter auf das Boot zu, in dem der blutüberströmte Körper Durands von Parr und George halb aufgerichtet lehnte. Mit Kennermiene besah sich Pieter den Leblosen.

»Wenn der tot ist, bin ich's auch,« sagte er. »Einen Sauger aus der Pulle mit Lebenselixier, und alles ist wieder in Ordnung.«

Wirklich bewahrheitete sich Pieters Voraussage, denn der junge Franzose kam nach Anwendung der Rumflasche zum Bewußtsein. Die stark blutende Wunde hatte jedenfalls Parrs Stiefel verursacht, auf den Durand gefallen war. George wusch und verband sie mit einem Taschentuche, so gut es für den Augenblick gehen wollte.

Da nun alle Teilhaber der Unglücksfahrt wieder auf den Beinen waren, beschloß Pieter seine Entdeckungsreise aufs neue aufzunehmen. Parr hatte sich den Fuß verstaucht und fühlte Schmerzen beim Auftreten, weshalb George sich die Erlaubnis erbat, mit Pieter zu gehen.

Vorher zogen Pieter und George den Proviant, der sich glücklicherweise unverkürzt vorfand, aus dem zerbrochenen Kanoe in die Nähe des Feuers, das weitere Stücke des Bootes nähren mußte. Neue Fackeln wurden angefertigt, eine davon entzündet, dann ging es los, dem voraussichtlichen Ausgange der Höhle zu.

Der Boden der Höhle war eben, nur zahllose Steine, vom kleinen Kiesel bis zum viele Centner schweren Blocke erschwerten das Vorwärtsschreiten. George hielt sich dicht an Pieters Seite, der ihn durch kurze Bemerkungen vor Hindernissen warnte. Schon waren sie wohl zwanzig Minuten gewandert; das Feuer, nachdem sie eben zurückgeblickt, sah nur wie ein Funken aus, und noch immer war kein Ausweg gefunden.

Das Brausen des Wasserfalles klang nur noch dumpf ihnen nach, sonst hörten sie nichts, als das Geräusch ihrer Schritte.

»Ich glaube, Pieter,« begann George, nachdem sie während der ganzen Zeit, von Pieters Weisungen abgesehen, schweigend und beobachtend dahin gewandert, »auf unserem Wege floß einst ein Strom.«

»So ist es. Deshalb hoffe ich auch einen Ausgang aus dieser steinernen Falle zu finden. Irgendwo muß das Wasser doch von der Oberwelt eingeströmt sein.«

»Wenn nun dies dadurch geschah, daß er als Wasserfall in dies Bett gekommen wäre?«

»Dann müßten wir versuchen, den zu erklimmen, und sähen wieder ein Stück blauen Himmel. Ich habe ordentlich Sehnsucht darnach.«

Pieter warf die bis zur Hand hinab abgebrannte Fackel auf den Boden, um einen anderen Span an ihr zu entzünden.

»Sehen Sie doch, Herr George, wie der Rauch des Holzscheites ins Innere der Höhle getrieben wird. Hier ist ein Luftzug, der uns entgegen bläst, also muß hier herum eine Öffnung sein, die zur Oberfläche emporführt.«

Der erfahrene Seemann befeuchtete einen Finger mit Speichel und hielt ihn über seinen Kopf empor.

»Mußt ich's doch! Da fährt's ordentlich rein. Wenn wir jetzt den Herrn Kommandanten und den Franzosen hier hätten, könnten wir uns vereint auf die Suche machen und, will's Gott, alle zusammen zum Tageslichte emporklettern. So müssen wir noch einmal durch die Höhle zurück, die anderen holen.«

»Bleibe hier, Pieter, ich hole sie.«

»Nein, Herr George, das geht nicht, allein lasse ich Sie nicht zurückgehen,« erklärte Pieter bestimmt.

»Aus welchem Grunde? Hier ist dein Licht, dort sehe ich das Feuer unseres Lagers, ein Verirren in der Höhle ist daher unmöglich. Gefahr droht, wie wir gesehen, auf dem Wege gleichfalls keine, also lasse uns nicht lange debattieren, ich gehe!«

»Aber die vielen Steine, die Sie ohne Licht nicht vermeiden können, die Sie zu Falle bringen müssen.«

»Ich werde schon langsam und vorsichtig gehen, da sei unbesorgt, na, und falle ich, dann stehe ich eben wieder auf!«

»Na, in Gottes Namen denn. Vergessen Sie nicht, sich und die andern mit dem Proviante zu beladen und einen tüchtigen Vorrat von Fackeln mitzunehmen.«

»Wozu den Proviant, da wir ja doch nun zur Oberwelt zurückkehren, wo es Nahrung genug giebt?«

»Vorsicht schadet nie. Wissen Sie denn, wie lange wir noch zu suchen haben, ehe wir die rettende Pforte finden? Nicht ein Krümelchen lassen Sie zurück. Packen Sie nur dem Durand was ordentliches auf. Sind Sie angelangt, dann feuern Sie Ihren Revolver ab, damit ich Bescheid weiß. Nun vorwärts, Gott befohlen.«

Ein Händedruck und George schritt ins Dunkle hinein, dem Feuer entgegen, das den Aufenthalt des Onkels und des Franzosen anzeigte.

Pieter steckte eine neue Fackel in einen Felsenspalt und ließ sich dann müde zu Boden gleiten. Das lange Wandern auf dem unebenen Boden, die Gemütserregung, hatten ein Ruhebedürfnis in ihm erweckt, das er glücklich war, durch Ausstrecken befriedigen zu können. Die Augen fielen dem Alten zu und überzeugt davon, durch den verabredeten Schuß geweckt zu werden, überließ er sich willig dem Schlafe, nachdem er sich einen Stein als Kopfkissen herangerollt hatte.

Kaum verkündeten regelmäßige Atemzüge, daß Pieter im Gefilde der Träume weilte, als unfern von ihm zwei glühende Punkte sichtbar wurden. Die Flamme der Fackel ließ sie blitzartig aufleuchten. Näher und näher kamen sie heran, nun traten sie in den Lichtschein. Es waren die Augen eines riesenhaften Negers, der wie ein Panther an Pieter heranschlich. Ein zottiges Fell hing lose um seine nackten Schultern, ein anderes deckte seine Lenden, sonst war er nackt. Lautlos beugte er sich über den Schlafenden und aus den abschreckend häßlichen Zügen grinste wilde Schadenfreude, als er den Schläfer betrachtete. Vorsichtig fühlte er nach den Rocktaschen Pieters und befriedigt nickte er mit dem weißbehaarten Kopfe, als er Pieters Tabaksbeutel entdeckte, den er an sich nahm. Ein Drohen der Faust gegen den Schläfer, dann in die Richtung des Feuers und verschwunden war die dämonische Gestalt, lautlos, wie ein Atemhauch in der Sonne… Ein Schuß erweckte den Schläfer.

.

Behend sprang Pieter auf die Beine. Der Span war beinahe zu Ende gebrannt und wurde durch einen neuen ersetzt. Ein Blick auf die Uhr zeigte dem Alten, daß vier Stunden seit seinem Aufbruche vom Feuer vergangen seien, das übrigens bedeutend intensiver brannte, als früher. »Aha,« meinte Pieter, »der Kommandant hat jedenfalls das ganze Kanoe ins Feuer gezerrt, um Fackeltragen zu ersparen. Vernünftige Idee das; wenn sie nur den Rum nicht vergessen haben. Mich fröstelt schauderhaft und 'n Schluck würde prächtig einheizen.«

Es währte nicht mehr lange, bis die kleine Karawane in Sicht kam.

»Hast du was Neues entdeckt, Pieter?« rief der Kapitän schon von weitem.

»Habe nichts gesucht, Herr Kommandant, nur schlafend neue Kräfte gesammelt,« war die prompte Antwort.

»Ganz vernünftig, denn ein hartes Stück Arbeit steht uns noch bevor.«

Damit waren die übrigen herangekommen, schwer beladen mit Waffen, Munition, Decken und Proviant.

Durand warf fluchend seinen Teil zur Erde nieder und sich daneben.

»Ich kann nicht weiter! Ich fühle kein Talent zum Maulesel in mir und bleibe vorläufig hier liegen,« erklärte er.

»Ganz nach Belieben, Herr Durand. Wir brechen sofort wieder auf,« erwiderte Kapitän Parr ruhig.

»Das werden Sie nicht thun, das wäre eine Infamie!« schrie der Franzose außer sich.

Kapitän Parr wollte bei diesen unverschämten Worten aufbrausen, hielt sich aber noch zur rechten Zeit zurück.

»So ein Windhund, da hört die Weltgeschichte auf,« brummte Pieter ingrimmig.

»Ich will Ihre Worte nicht nach Gebühr zurückweisen,« sagte Parr ernst und ruhig. »Infam von mir wäre es, unser aller Leben durch Zeitvergeudung aufs Spiel zu setzen. Unsere Rettung hängt lediglich von unserer Schnelligkeit ob, da wir nur noch für höchstens drei bis vier Tage Nahrungsmittel bei uns haben und in diesem Felsenlabyrinthe an eine Neubeschaffung nicht zu denken ist. Also stehen Sie auf und folgen Sie uns, denn, mein Ehrenwort zum Pfande, nicht eine Minute länger wird nunmehr gewartet.«

Seinen Worten die That folgen lassend, setzte sich Parr wieder in Bewegung. Pieter, der George einen Teil der Last abgenommen hatte, schritt voraus. Durand sammelte seine Stücke zusammen und folgte. Er mochte sein Unrecht eingesehen haben, denn er richtete Worte der Entschuldigung an Parr, die angenommen wurden.

Schweigend ging es vorwärts. Pieter als Pfadfinder voran..

»Alle Wetter, was ist das?« schrie dieser auf einmal, nachdem wohl zwei Stunden angestrengten Marschierens verflossen waren. Er war mit dem Kopfe an eine Felskante gestoßen, die er übersehen haben mußte, die Leuchte entfiel seiner Hand, verlöschte, und tiefe Dunkelheit umgab die Gesellschaft.

»Was war denn das?« fragte Parr.

»Wir müssen von der Richtung abgekommen, oder das Ende unserer Höhle erreicht haben. Vor allen Dingen brauchen wir Licht,« versetzte Pieter.

»Wer hat die Hölzer?«

»Ich hatte sie, doch habe ich sie nicht mehr,« klang es kleinlaut von Durand zurück. »Sie müssen vorhin liegen geblieben sein.«

Was die anderen dachten, war wenig schmeichelhaft für Durand, aber ohne etwas davon zu verraten, meinte Parr: »Dann müssen wir Kleidungsstücke opfern. Hier, Pieter, zünde meinen Rock an.«

»Halt, Onkel, ich weiß etwas besseres,« ließ sich George vernehmen.

»Heraus damit, mein Junge!«

»Ich tauche ein Taschentuch in den Rum, zünde es an und^ wir haben eine brillante Fackel.«

»Bravo, George!«

»Ist doch ein anderes Holz, aus dem der Junge geschnitzt ist; Gott erhalte ihn,« sagte Pieter.

Einen Augenblick noch und die Leinwandfackel verbreitete eine ansehnlichere Helle, als die bisher gebrauchten Hölzer.

Es war richtig, was Pieter vermutet hatte, die Höhle war zu Ende. Die Decke hatte sich tief gesenkt und ließ zwischen den beiden Seitenwänden nur eine schmale Öffnung übrig, gerade breit genug, einen Erwachsenen durchzulassen. Da dieser Durchschlupf nicht dem Strome, dessen einstiges Bett die Höhle war, zum Einfluß gedient haben konnte, mußten noch andere gleichartige oder breitere vorhanden sein, auf deren Aufsuchung aber für jetzt verzichtet wurde.

»Bleiben Sie alle mal vorläufig wo Sie sind,« rief Pieter zurück; »ich will erst sehen, was mit dem Loche los ist.«

Parr wollte Einsprache erheben, aber ohne diesen abzuwarten, war der Alte in den Durchlaß geschlüpft, aus dem er nach einiger Zeit wieder auftauchte. »Keine Gefahr, nur mir nach,« rief er zurück, worauf ihm die anderen folgten.

Der Gang mochte viertausend Schritte lang sein, ziemlich eben, doch oftmals so niedrig, daß er kriechend passiert werden mußte, was durch die Belastung mit dem Gepäcke äußerst anstrengend war. Auch der Luftstrom, der Pieter und George mit freudiger Hoffnung erfüllt hatte, war verschwunden und eine dumpfe Hitze herrschte, die lähmend auf die Muskeln wirkte und den Weg doppelt mühsam machte. Endlich erweiterte sich der Gang wieder und aufatmend kühlte man die erhitzten Körper in der frischeren Atmosphäre des Raumes, der endlich erreicht wurde.

»Welch wundervolle Kühle hier herrscht,« bemerkte George.

»Hier laßt uns nun ruhen. Wir dürfen unsere Kräfte nicht bis zum äußersten anspannen, wollen daher für heute unsere Wanderfahrt beschließen. Es ist bald sieben Uhr und sollen alle weiteren Forschungen auf morgen verspart bleiben.«

Der Vorschlag Parrs fand lebhaften Beifall bei George und Durand, deren Kräfte bis zum äußersten abgespannt waren. Bald lagerten alle im Kreise, beleuchtet von Pieters großem rotkariertem Taschentuche und verzehrten mit bestem Appetit die ihnen von Parr zugeteilten Rationen.

Pieters Vorsicht, sich nicht vom Proviante zu trennen, wurde warm anerkannt; denn ohne denselben wäre es unmöglich gewesen, den Strapazen zu trotzen, die bereits überstanden und wahrscheinlich noch zu bewältigen waren. Parr verabredete noch mit Pieter, abwechselnd Wache halten zu wollen; er sei bereit, den Anfang zu machen.

Als Pieter nach langem tiefen Schlaf erwachte, fühlte er sich wie zerschlagen und seine Glieder förmlich krumm gezogen vor Kälte. Er zog seine Pfeife hervor, die er zwischen die Zähne schob, entzündete ein Streichholz, da sein Taschentuch längst in Asche zerfallen war und sah, daß es fast sechs Uhr war. Sein Herr schlief sitzend, in der Stellung, die er als Wächter eingenommen hatte. Der Wunsch zu rauchen, ließ Pieter seinen Tabaksbeutel suchen. Ein kräftiger Fluch war alles, was er äußerte, als er ihn nicht fand. Er dachte ihn verloren, unachtsam aus der Tasche geschleudert zu haben und suchte daher die noch in der Pfeife befindlichen Reste in Brand zu stecken.

Den tiefen Schlaf der Gefährten beschloß Pieter zu einer Entdeckungstour auf eigene Faust zu benutzen. Er erhob sich vorsichtig, ging erst einigemale hin und her, um seinen Gliedern die Geschmeidigkeit wiederzugeben und wandte sich dann der Richtung der Höhle zu, in der man später den Marsch fortsetzen wollte. Plötzlich glaubte der Matrose einen schwachen Lichtschein zu bemerken, aber der Schein verschwand auf einmal, um sich nach einigen Augenblicken wieder zu zeigen und dann wieder zu verschwinden.

»Bin ich denn verhext? kann ich nun schon gar nichts mehr sehen, alle Wetter noch mal,« fragte sich Pieter, indem er sein Auge rieb.

Je schärfer er aber hinblickte, desto bestimmter wurde seine Ansicht, Licht, wirkliches Tageslicht vor sich zu haben, das einen kleinen Raum am Ende des Ganges bestrahlte. Er hätte aufjubeln mögen, so recht aus voller Brust, ebenso wie damals, als er im Boote des ›Grant‹ das rettende Schiff erblickte, und nun nicht mehr daran zu zweifeln brauchte, daß sein Ende noch nicht gekommen. Auch das zeitweilige Verschwinden des Lichtes war ihm kein Rätsel mehr; er erklärte es sich durch die Windungen, die der Gang machte und die ab und zu die Lichtöffnung verdeckten. Noch einige hundert Schritte weit drang er vorwärts, dann hielt er inne, um sich nicht zu weit vom Lagerplatze zu entfernen. Auch sollten die Gefährten geweckt werden, um des freudigen Anblickes des so schmerzlich entbehrten Tageslichtes gleich ihm teilhaftig zu werden. Die Uhr zeigte ein viertel nach sieben, als er, gehoben von dem Bewußtsein, eine freudige Botschaft bringen zu können, zurückeilte. Trotz der wieder herrschenden Finsternis brachte ihn sein seemännischer Orientierungssinn zum Lager zurück.

»Vorwärts, aufstehen!« rief er mit seiner rauhen, unmelodischen Stimme, »zum letzten Teil unseres Marsches angetreten!«

Kapitän Parr war sofort auf den Beinen.

»Was sagst du, den letzten Teil?« fragte er erstaunt.

»Wie ich sagte. Sehen Sie dorthin, dort ist Licht, heller Sonnenschein, der Tag, die Rettung!«

»Gott sei gelobt und gedankt! Schon verzweifelte ich, jemals aus diesem unterirdischen Gefängnisse herauszukommen. Jetzt nur schnell, keine Zeit verloren. Jede Minute, die wir länger, als wir unbedingt müssen, in diesem steinernen Grabe zubringen, ist Diebstahl an unserem Leben.«

Das kärgliche Frühstück wurde in Eile eingenommen, denn sogar Durand brannte darauf, den Marsch wieder zu beginnen.

Fünf Minuten später setzte sich die Gesellschaft in Bewegung mit Pieter an der Spitze.

Je mehr man sich der Öffnung des Ganges näherte, um so größer wurde sie. Das Tageslicht flutete ungehindert herein, mit ihm ein Strom reiner, wohlthuender Gebirgsluft.

Pieter als Führer konnte nicht rasch genug zum Ziele gelangen und setzte sich schließlich in einen kleinen Trab, der komisch genug aussah und eine launige Bemerkung Georges hervorrief.

»Wetter und Hagelschlag nochmal, da haben wir die Bescherung, nu brat mir einer einen Storch!«

Trotz der lustigen Worte war es starres Entsetzen, das aus Pieters Zügen sprach.

Vor seinen Füßen, so dicht, daß noch ein einziger Schritt ihn hinabgeführt hätte, lag ein breiter, nachtdunkler Abgrund. Wohl zehn Meter hoch, an einer Wand, die senkrecht, ohne jede Unebenheit aus der Tiefe des Abgrundes aufstieg, lag das natürliche steinerne Fenster, unerreichbar für die fassungslos zu ihm aufstarrenden Unglücklichen.

»Nu bin ich neugierig, wie wir aus der Patsche herauskommen,« murmelte Pieter. Parr fing die Worte auf und meinte mutlos:

»Ich glaube nun selbst nicht mehr an unsere Rettung!«

»Holla, Onkel, ist das deine Zuversicht? Wo blieb die mit einem Male? Ich gebe uns noch lange nicht verloren. Bisher tappten wir im Trüben herum, nun, wo wir einen Rettungsweg sehen, sollten wir verzagen?« suchte George Parr aufzumuntern.

»Aber dieser unendlich tiefe Abgrund!«

»Er muß umgangen werden. Geht dies nicht, was ich selbst glaube, da seine Ränder so schmal werden, daß man sie nicht beschreiten kann, dann werden wir ihn zu übersetzen trachten.«

»Ein gutes Wort zur rechten Zeit, Herr George,« fiel Pieter ein.

»Du auch Pieter? Wie wollt ihr diesen Abgrund passieren?«

»Noch weiß ich's nicht, doch muß der Versuch gewagt werden. Hier bleiben können wir nicht, ebensowenig Zweck hat ein Zurückkehren, also bleibt nichts übrig, als geradeaus, der Nase nach,« erklärte der Matrose, der seine alte Laune wiedergefunden hatte.

»Wir wollen vorläufig untersuchen, wie tief der Abgrund ist und einen Stein hinabwerfen,« meinte George.

Das war bald geschehen, doch klapperte der Stein nur wenige Fuß tief hinab, schien dann auf einem Felsen-Vorsprung liegen geblieben zu sein, da weiteres Geräusch nicht gehört wurde.

»Das hat nichts genützt,« sagte George, »nun will ich ein anderes Mittel versuchen.« Mit einem Rucke hatte er ein Stück von seinem Hemdärmel abgerissen.

»So nun Rum drauf, Pieter, und dann wollen wir's dem Steine nachsenden.«

Pieter that, wie ihm geheißen, setzte das Stück Zeug in Brand und ließ es in die Tiefe fallen.

Einen Moment war der Abgrund erhellt, dann löschte die Flamme aus und alles war dunkel wie zuvor.

Parr und Durand rangen die Hände, hatten sie doch jede Hoffnung auf Rettung aufgegeben, nur George und sein getreuer Pieter suchten nach einem Rettungswege.

Da winkte George Pieter an sich heran. Beide ließen sich platt auf den Felsboden nieder und untersuchten mit Händen und Augen die Ränder des Abgrundes, sich dabei flüsternd ihre Beobachtungen mitteilend. Sie schienen mit dem gewonnenen Resultate vollständig zufrieden zu sein, denn Pieter machte sich sofort daran, den eben beschlossenen Plan auszuführen. Er nahm sein Gewehr auf und begann dessen Riemen abzuschnallen.

»Was willst du thun, Pieter?« fragte Parr, wie aus einer Erstarrung erwachend.

»Oh, nichts, Herr Kommandant, nur auf die andere Seite des Abgrundes hinüberklettern,« entgegnete der Matrose gelassen.

»Bist du toll? Über diesen grundlosen Höllenschlund willst du? Das ist mehr als tollkühn, das ist Wahnsinn, das erlaube ich nun und nimmermehr!« rief Parr erregt aus.

»Entschuldigen Sie mal 'nen Augenblick, Herr Kommandant. Sehen Sie doch mal unsere Sache ruhig an. Für uns giebt's nur dreierlei: erstens hierbleiben, zweitens zurückgehen, drittens vorwärts kriechen. Die ersten zwei sind sicherer Tod, stimmt das? Das dritte kann ebenso gut Leben und Rettung, wie Verderben bedeuten. Ich bin kein solcher Narr, ruhig auf den Tod zu warten, wenn es eine Möglichkeit giebt, ihm zu entrinnen und andere nebenbei noch zu retten. Außerdem bietet der Übergang über das Loch im Fußboden, den Herr George und ich gefunden haben, alle Bequemlichkeiten. Man hat nichts zu thun, als sich festzuhalten – na und das wird doch ein alter Seebär, wie ich, wohl verstehen?«

»Lassen Sie ihn doch, Herr Kommandant,« nahm auch Durand das Wort, »es bleibt uns wahrhaftig keine andere Wahl.«

»Dann gehen Sie! Muß Pieter denn immer derjenige sein, der für uns, also auch für Sie sein Leben wagt?« entgegnete Parr unwirsch.

»Ich wollte es Ihnen eben vorschlagen,« entgegnete Durand, den Kopf emporwerfend.

»Unnötige Mühe. Ich gehe und sonst keiner!« unterbrach ihn Pieter und bevor Parr noch weitere Einwendungen erheben konnte, war er mit dem Unterkörper in der Felsenspalte verschwunden.

Furchtbare Augenblicke der Angst und Spannung folgten. Mit beiden Händen faßte Pieter in die Sprünge der Felsen, jeder Vorsprung, oft kaum so groß, daß seine Fußspitze darauf ruhen konnte, wurde benutzt. Den Körper fest an die Felswand gedrückt, so schob er sich vorwärts und gewann endlich einen spitzen Stein, der mehr als einen halben Meter über den Abgrund herausragte. Er bot für beide Füße Raum. Mit der einen Hand sich festklammernd, wischte sich Pieter mit dem Ärmel der anderen den Schweiß von der Stirn und schöpfte ordentlich Luft.

»Die eine Ecke wäre geschafft, jetzt kommt der Schluß.«

»Glück auf, mein Alter…!« rief ihm Parr zu, doch das Weitere erstarb in seinem Munde, tiefes Entsetzen machte sein Blut stocken. George stieß einen Schrei furchtbaren Schreckens aus, auch Durand rief bebend »Pieter!«

Der breite Stein, Pieters Standort, hatte sich aus seiner Lage gelöst, einen Augenblick schwankte er, dann rollte er in den Abgrund. Der Unglückliche griff krampfhaft nach einem Halt an den Felsen, seine Füße suchten nach einem anderen Stützpunkt, aber vergeblich – ein Aufschrei und Pieter sank blitzschnell in den schauerlichen Felsspalt.

Dann war alles totenstill – – – – – – – – –

Die Zuschauer stürzten an den Rand des Abgrundes, doch schaurig gähnte ihnen die Tiefe entgegen…

»Armer guter, braver Pieter!« waren die ersten Worte, die George flüsterte, nachdem er den furchtbaren Schrecken überwunden hatte.

»Gott mag wissen, in welche Tiefe mein treuer Pieter gestürzt ist,« wehklagte Kapitän Parr, die Hände ringend.

»Warten Sie einen Augenblick, Herr Kommandant, gleich bin ich wieder bei Ihnen!« tönte es aus dem Abgrunde empor. George stieß einen Freudenruf aus.

»Pieter, lebst du, bist du unversehrt?« klang es ihm jubelnd entgegen.

»Paar Beulen am Kopfe und 'ne zerrissene Jacke werden der ganze Schaden sein, den ich genommen habe.«

»Aber wo bist du denn?« fragten Parr und George gleichzeitig.

»'nen Augenblick, dann sollen Sie das Vergnügen haben. Herr George, da bei Ihnen bin ich, reichen Sie mir mal Ihre Hand zu, verlieren Sie aber nicht das Gleichgewicht, sonst purzeln wir beide auf das steinerne Pflaster. So, da, hier hängt der Pieter,« und ein blutüberströmtes Gesicht tauchte über dem Rand auf. Auch Durand hatte rasch eine Hand Pieters gefaßt und auf eins, zwei stand der wackere Mann neben den Gefährten.

»Jubeln Sie, Herr Kommandant, der Übergang ist gefunden,« waren seine ersten Worte. »Das ist gar kein Abgrund, das ist nichts weiter als ein trügerisches Loch, uns, speziell mir zum Trotz hergepflanzt.«

»Mein alter Pieter,« sagte Parr, dem treuen Diener die Hand schüttelnd. »Lasse dir erst deine Wunden verbinden.«

»Hat Zeit, eilt nicht so, sind nicht gefährlich. Der Schrecken ist mir in die Knochen gefahren und ein Schluck Rum könnte mir absolut nichts schaden.«

Lachend reichte George die Kürbisflasche, die einen Teil ihres Inhaltes an den Matrosen abgeben mußte.

»Das war's Vergnügen, nun zum Geschäft! Doch reichen Sie mir, bitte, mal irgend 'nen Lappen, sonst verklebt sich noch mein einziges Guckloch. So, danke! Also, der Spalt da unten ist höchstens vier Meter tief und mit Schutt und Geröll bedeckt, bietet also gar keine Gefahr für den Übergang. Es hat der Boden unten Risse und Löcher in Menge, die Gott weiß, wie weit in die Erde gehen mögen, die aber höchstens 'nen Fuß einklemmen können. Nun mal rasch die Gewehrriemen ab und hergegeben, damit wir uns ein Seil schaffen können, durch das ein Fallen und Rutschen verhindert wird.«

Die vier Riemen waren nicht lang, doch reichten sie gerade bis zum Boden der Felsspalte, was ja auch vorläufig genügte. Eine neue Fackel, aus einem Fetzen von Pieters Joppe fabriziert, beleuchtete den dunklen Grund des Loches. Parr stieg als erster hinab, dann Durand, endlich George. Pieter ließ dann vorsichtig den Proviant am Seile nach unten, der nach der Aufstiegseite geschafft wurde, dann folgte Pieter. Das Emporklimmen machte auch weiter keine Schwierigkeiten. Man wanderte weiter. Die Reihenfolge, die bisher innegehalten worden war, hatte, eine Verschiebung dadurch erlitten, daß nun Parr an der Spitze des Zuges schritt, den Pieter beschloß.

Das Tageslicht drang noch immer in den nun begangenen Raum und erleichterte ungemein das Fortkommen.

Wieder verging einige Zeit, ein schmaler Gang ward eben betreten, als Kapitän Parr seinen Schritt innehielt. »Halt' Kinder, kommt alle her, was ist fragte er, auf einen verwitterten Baumstamm deutend, der zwischen Boden und Decke des Ganges eingeklemmt war.

»Na, Holz sollt ich meinen,« entgegnete Pieter.

»Ein Baumstamm,« meinte Durand.

»Ich weiß es, Onkel,« rief George, »es ist eine Stütze, wie sie in Bergwerken verwendet wird.«

»So ist es, mein Kind. Also befinden wir uns in einem Bergwerke, das einst abgebaut wurde, demnach einen Ausgang nach der Oberfläche der Erde haben muß!«

»Können die Bergleute nicht auf Seilen in die Tiefe gefahren sein, wie es bei uns in Frankreich üblich ist?« fragte zaghaft Durand.

»Möglich ist es, doch kaum wahrscheinlich. Das Bergwerk scheint viele viele Jahre außer Betrieb, worauf der Verfall dieses und anderer Gänge hindeutet, die wir durchschritten.«

»So haben Sie es schon früher gemerkt, was wir vor uns haben?« wollte Pieter wissen.

»Schon in der Grube, die einst mit dem Abfallgestein ausgefüllt wurde, was unsere, namentlich deine Rettung wurde, Pieter. In früherer Zeit fehlten die Maschinen, so tief in hartes Gestein einzudringen, wie es dieser Felsen besitzt, folglich müssen die Ausbeuter dieser Gruben einen oberirdischen Eingang in das Bergwerk gehabt haben, da sie außer stande waren, Schachtöffnungen zu schaffen, die man jetzt durch Bohrmaschinen und Dynamit herstellt.«

»Also unsere Rettung…?«

»Ist nun auch mir ungleich wahrscheinlicher, als bisher!«


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