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Zehntes Kapitel.
Paul Werner?


Die Unterhaltung wurde nun eine allgemeine und spann sich endlich aus das Thema hinüber, um das es Kapitän Parr allein zu thun war, auf Paul Werner. Seine vielfachen Anspielungen wurden denn auch von Borgfield aufgenommen.

»Verzeihen Sie, Herr Kapitän, daß ich nicht früher die Sache erwähnte, der wir die Ehre Ihres Besuches zu danken haben. Trotz der vorgerückten Zeit will ich Ihnen in kurzen Worten mitteilen, was ich von unserem Schützling weiß,« sprach Herr Borgfield.

»Und der Herr selbst?« warf Parr ein. »Ich glaube nicht, ihn bis jetzt gesehen zu haben.«

»Sie sollen dies morgen nachholen, da er eine kleine Reise angetreten hat, von welcher wir ihn morgen zurück erwarten. Doch zur Sache.

»Ich gehörte einer Gesellschaft von Missionaren an, die es sich zur Aufgabe gemacht, auf dem Wege, den Livingstone, unser Vorbild, eingeschlagen, Missionsstationen zu gründen, von Port Natal bis zum Sambesi. Es war im Jahre 1861.«

»1861, habe ich richtig verstanden?« fragte Kapitän Parr angstbeklommen.

»Ganz recht, 1861, wo wir England auf einem speziell für uns eingerichteten Dampfer verließen und nach einer vierwöchentlichen, vom Wetter außerordentlich begünstigten Überfahrt, Durban erreichten.«

»Es war am 26. Februar 1861, als wir zum erstenmale den Fuß auf südafrikanischen Boden setzten,« warf Frau Borgfield dazwischen, »wo wir eine zweite Heimat finden sollten.«

»Fünf Tage später,« fuhr der Missionar in seiner Erzählung fort, die Parr und George in größte Spannung versetzte, »traten wir unsere Fahrt ins Innere an, zu Wagen natürlich, denn damals war von der Eisenbahn, die heute Durban mit Pretoria verbindet, noch keine Rede. Als wir neben den Wagen hergingen, bald nachdem wir die letzten Häuser von Durban hinter uns gelassen, stießen wir auf einen kleinen Knaben, der bitterlich weinend am Wegrande saß und uns hilfeflehend seine Händchen entgegenstreckte. Meine Frau, die niemals ihr gefühlvolles Herz verbergen konnte, trat auf das Kindchen zu, um seinen Schmerz zu erfragen. Es war vergebens, denn das Knäbchen antwortete in einer Sprache, die wir damals noch nicht beherrschten.«

»Deutsch?« fragte Kapitän Parr in furchtbarer Spannung.

»Nein, holländisch,« entgegnete Borgfield.

Ein Laut der Enttäuschung entschlüpfte dem Kapitän; der Missionar war in seinen Erinnerungen so versunken, daß er nicht weiter darauf achtete, sondern ruhig fortfuhr.

»Obgleich wir die Worte nicht verstanden, errieten wir aus den Umständen, daß das Kind verlassen sei. ›Wir wollen es mit uns nehmen,‹ bat meine Hatty, ›und aus ihm, mit Hilfe des Herrn, einen braven, gottesfürchtigen Mann erziehen, der uns später in unserem schweren Werke als treuer Diener und Gehilfe zur Seite stehen kann.‹ Ich gab dem Drängen meiner Frau nach und kann mit Stolz sagen, daß aus dem kleinen hilflosen Knaben ein rechtschaffener, gottesfürchtiger Mensch, ein uns treu ergebener Diener geworden ist. Gott schütze ihn.«

»1861 sagten Sie, Herr Borgfield, bitte, denken Sie nach, ob Sie sich darin auch wirklich nicht irren,« fragte seinerseits Kapitän Parr lebhaft erregt.

»Täuschung ist unmöglich, Herr Kapitän,« antwortete für ihren Mann Frau Borgfield. »Es war gerade ein Jahr nach unserer Hochzeit, welche im Januar 1860 stattgefunden hatte.«

»Dann sagten Sie, wenn ich recht gehört, Ihr Findling sprach nur holländisch, während das von mir gesuchte Kind nur englisch und deutsch sprechen konnte.«

»In diesem Falle, werter Herr Kapitän, sind Sie eben auf falscher Fährte, und unser Knabe nicht der von Ihnen gesuchte,« entgegnete Borgfield in bedauerndem Tone.

»Leider kann ich an Ihren Worten nicht zweifeln, so gerne ich es auch möchte. Meine Ahnung, lieber George, trog mich nicht, wie du siehst.«

Teilnehmend sahen die Anwesenden auf Kapitän Parr, den sein Mißerfolg tief niederdrückte. George trat zu ihm und legte tröstend seinen Arm um des Onkels Schulter. Frau Borgfield suchte in gewiß lobenswertem Eifer den Kapitän Glauben zu machen, daß er sich vielleicht in der Jahreszahl geirrt habe.

»Dies ist undenkbar, gnädige Frau. Das Verschwinden des Knaben steht in so innigem Zusammenhange mit einem Ereignis, das viel zu scharf in mein Leben eingriff, als daß ich sein Datum jemals vergessen könnte. Es fand im Oktober des Jahres 1862 statt, fast zwei Jahre später, als Sie Ihren Schützling zu sich nahmen. Ich muß mich in die Thatsache fügen, Sie umsonst belästigt zu haben.«

Durch den Fehlschlag von Kapitän Parrs Hoffnung war die Stimmung eine gedrückte, und alle Anwesenden waren froh, als der Missionar die Tafel aufhob.

George wurde von Borgfield in das Schlafgemach geführt, während der Kapitän sich die Erlaubnis erbat, nochmals nach seinen Gefährten sehen zu dürfen. Die Enttäuschung war zu bitter, seine Aufregung zu gewaltig, als daß er an Schlafen hätte denken können. Frische Luft, die nächtliche Ruhe, die über die Gefilde ausgebreitet lag, nach ihnen sehnte er sich, auch nach seinem Pieter, dem er Mitteilung schuldig war von dem Mißerfolg, der ihn enttäuscht, der seinen Plan zum Scheitern gebracht. Erfrischend kühlte der Abendwind seine hämmernden Schläfen, als er der Ruine zuschritt, gepeinigt von düsteren Gedanken. Ein schwacher Lichtschein war sein Wegweiser. Dann und wann huschte ein im Schlafe aufgeschrecktes, oder ein auf Raub ausgehendes Tier an ihm vorbei, so daß er mehrmals erschreckt nach dem Revolver faßte. Endlich hatte er die Ruine erreicht. Hinter einer halbzerbröckelten Mauer, welche die Ranken wilden Epheus vor dem gänzlichen Verfalle schützten, saßen Pieter und der Führer Frantz beim flackernden Feuer, gemächlich ihre Pfeifen rauchend.

Pieter erzählte Frantz irgend eine Geschichte, der dieser mit gespanntester Aufmerksamkeit folgte. So von den hellen Flammen, die aus dem lustig brennenden Reisighaufen hell aufloderten, grell beleuchtet, machten die beiden Männer den Eindruck von Wildheit und Unerschrockenheit, der einem Fremden für den ersten Augenblick nicht gerade vertrauenerweckend erscheinen mußte.

Als Pieter den Kapitän kommen hörte, dessen Schritt er kannte, stand er sogleich auf, wie er es gewohnt war, während Frantz nur grüßend an seinen Hut faßte.

Der Kapitän grüßte, bedeutete Pieter durch ein Zeichen, seinen Sitz zu behalten und ließ sich dann selbst zwischen den beiden Männern auf dem Boden nieder, seine Pfeife in Brand bringend.

Das düstere Antlitz des Kapitäns verriet Pieter die Unzufriedenheit seines Herrn, woraus er folgerte, daß in Souls-Port nicht die Lösung der Angelegenheit gefunden war.

Nachdem sie eine Zeitlang stillschweigend einander gegenüber gesessen, begann der Kapitän: »Unsere Reise hierher war vergeblich, ihr Herren!«

»Ist das Kind nicht hier?«

»Ein angenommenes Kind wohl, aber nicht Paul Werner.«

»Deshalb mutlos, Herr Kommandant? Dann müssen wir eben von neuem den anderen, den richtigen suchen.«

»Suchen…, leicht gesagt! Wo beginnen, nach welcher Richtung uns wenden?«

»Das wird sich finden, Herr Kommandant, wenn Sie erst mal gehörig über die Sache nachsimuliert haben,« meinte Pieter zuversichtlich.

»So, glaubst du? ich nicht, ich bin ratlos. Jedenfalls müssen wir wieder nach Pretoria, von da nach Durban zurückkehren und unsere Nachforschungen von neuem aufnehmen. Sie werden uns dahin bringen, Herr Frantz?«

»Nein, Herr Kommandant!«

»Ihre Antwort klingt kurz und bestimmt, was ich nicht erwartete. Wollen Sie uns den Weg allein machen lassen?«

»Ja, Herr Kommandant!«

»Und wenn ich den vereinbarten Lohn verdoppele?«

»Auch dann nicht, selbst wenn Sie ihn verzehnfachen würden, müßte ich es ablehnen!«

»Der Grund hierfür?«

»Ich muß nach Hause zurück.«

»Gut. Besorgen Sie zu Hause Ihre Geschäfte und kehren Sie dann schnellstens wieder zu uns zurück.«

»Das kann ich nicht versprechen. Noch weiß ich nicht, wann ich zurückkommen kann und ob dies überhaupt möglich sein wird.«

»Dann rufen Sie wohl Angelegenheiten von größerer Wichtigkeit.«

»So ist es, Herr Kommandant.«

Parr mochte nicht weiter in den Mann dringen, dessen Ausdrucksweise von der Unerschütterlichkeit des Entschlusses zeugte. Die abschlägige Antwort berührte Parr um so unangenehmer, als ihm der Führer durch sein ganzes Wesen sehr lieb geworden war. Alles an Frantz zeugte von Thatkraft. Niemals hatte er sich während der Dauer der Fahrt in den Vordergrund gedrängt und mit richtigem Taktgefühl stets Parr gegenüber eine Zurückhaltung beobachtet, die viele andere bei dem wichtigen Amte als Führer, von dem Leben und Eigentum der Reisenden abhingen, überschritten hätten, ohne daß Einsprache dagegen möglich gewesen wäre. Ohne viele Worte zu machen, griff er selbst mit zu, wo es Not that. Er half abends den Zulus beim Ausschirren der Zugtiere, fing sie morgens wieder mit ein, legte Hand an, wenn eine Schwierigkeit des Weges zu überwinden war und half, wo er helfen konnte, ohne jemals dazu gebeten werden zu müssen. Während der Fahrt war er meist auf seinem ausdauernden Pferde dem Zuge voraus, um Hindernisse rechtzeitig erblicken und sie vermeiden zu können. Auch fiel dem Kommandanten die Ehrfurcht auf, mit welcher die Buren dem seltsamen Manne überall begegnet waren. Er antwortete einmal auf eine diesbezügliche Anspielung, wobei über sein Gesicht der Ausdruck stolzer Genugthuung huschte: »Alle Buren des Innern kennen mich durch langjährigen Verkehr. Seit vielen Jahren durchziehe ich das Land nach allen Richtungen und bin jedermann gerne gefällig, daher aller Freund!«

Da Kapitän Parr keine Hoffnung hatte, Frantz' Entschluß rückgängig machen zu können, so wollte er seinen Rat für seine weitere Fahrt, weshalb er beschloß, dem Führer den Zweck seiner Reise anzuvertrauen. Er sah auf seine Uhr und sprach, einen bezeichnenden Blick auf Pieter werfend: »Es ist schon zehn Uhr, also Zeit zum Schlafengehen.«

Pieter verstand, erhob sich sofort und kletterte in den Wagen, um sich in der Schlafabteilung, die sein Herr und George bisher innegehabt hatten, zur Ruhe zu legen. Auch Frantz wollte aufstehen, doch Parr bat: »Bleiben Sie noch einen Augenblick, Herr Frantz, ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

»Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Herr Kommandant.«

Kapitän Parr erzählte nun dem Buren von seinen Absichten, Hoffnungen, deren Fehlschlag und schloß seine Mitteilungen mit der Frage, welchen Rat ihm Frantz geben könne und was er überhaupt davon halte, ob das vorgesteckte Ziel erreicht werden könne oder nicht.

Minutenlang stierte Frantz in die Flammen, die nach und nach zusammensanken, ehe er antwortete:

»Mein Bescheid, Herr Kommandant, ist leider der, daß ich Ihnen raten muß, Ihr Suchen nach dem verschwundenen Erben aufzugeben. Unser Land ist spärlich bewohnt, die Bevölkerung von einer halben Million Einwohner auf dreihundertsechsundzwanzigtausendsiebenhundert Quadrat-Kilometer verteilt und unter diesen Verhältnissen wollen Sie ein Kind finden, das vor siebenundzwanzig Jahren verloren ging. Wer sagt Ihnen, daß es überhaupt nach Transvaal gebracht wurde, nachdem sich die erste Spur als falsch erwiesen und wenn dies wirklich der Fall gewesen, daß es in Transvaal geblieben ist. Kann es sich als Mann nicht längst nach Europa, Amerika oder den Goldfelder, den Diamantengruben zugewandt haben, wo das Leben leichter ist, als in unserem Vaterlande? Muß es denn überhaupt noch unter den Lebenden weilen. Kann es nicht eines natürlichen Todes gestorben oder in den vielen Kämpfen der letzten Jahre mit den Engländern gefallen, auf einer Reise verschmachtet sein?«

»Dies alles habe ich mir selbst schon gesagt, doch durfte ich deshalb das vernachlässigen, was ich als meine Lebensaufgabe betrachte? Und soll ich jetzt, nachdem sich eine Voraussicht als hinfällig erwiesen, die Hände in den Schoß legen? Würden Sie das thun, Herr Frantz?«

Lange schwieg Frantz und Parr hütete sich wohl, die Träumerei seines Gefährten zu stören. Die Flammen knisterten und aus dem Wagen drangen tiefe Töne, die den schlafenden Pieter zum Urheber hatten.

»Obgleich ich nicht an einen Erfolg Ihres Beginnens glaube, wie ich schon vorhin sagte,« fing der Führer wieder zu sprechen an, »so ist es mir doch mehr als unangenehm, Ihnen meine Dienste verweigern zu müssen, jetzt besonders, wo ich Ihre Beweggründe kenne, und ich Sie noch höher schätze, als bisher. Ich würde wirklich glücklich sein, Ihnen meine Unterstützung leihen zu können und wer kann wissen… Ich muß Ihnen bemerken: Ich bin nicht Herr meiner Zeit. Auch ich habe eine Aufgabe zu lösen, auch ich habe mich in den Dienst einer Sache gestellt, die zu den Heiligsten gehört, die es giebt. Mein Leben gehört meinem Vaterlande!«

»Was soll das heißen?«

»Genau das, was ich sagte. Mehr zu sagen bin ich außer stande.«

»Ich ehre Ihr Schweigen; aber sollte sich kein Ausweg finden lassen, beide Angelegenheiten miteinander zu verbinden?«

»Vielleicht, Herr Kommandant. Noch vermag ich keine bindende Antwort zu geben. Nicht ich allein habe darüber zu entscheiden. Ich könnte erst später…«

»Wann?«

»In vierzehn Tagen, spätestens drei Wochen Ihnen meinen letzten unumstößlichen Entschluß erklären.«

»Und wo könnten wir denselben erwarten?«

»Hier.«

»Gut, wir werden hier aus Sie warten.«

»Ich mache Ihnen aber strengstes Stillschweigen zur Pflicht. Ein Wort zu viel und Sie sehen mich niemals wieder.«

»Mit wem sollte ich über Sie sprechen?«

»Mit Borgfield, dem Missionar, Ihrem Neffen, Pieter. Kurz, niemand darf von unserem Abkommen erfahren.«

»Gut, so soll es sein. Was beginnen wir aber hier während der Wartezeit?«

»Sie können jagen. Die Gegend ist sehr wildreich und die Jagd gefahrlos, da wilde Menschen und Tiere, ich meine Raubtiere, kaum zu fürchten sind.«

»So wären wir also einig. Ich danke Ihnen, Herr Frantz und werde meinen Dank auch zu bethätigen suchen.«

»Das ist nicht nötig, Herr Kommandant.«

»Wann verlassen Sie uns?«

»Morgen vor Tagesanbruch.«

»Dann leben Sie wohl und kehren Sie sobald als möglich zu uns zurück,«

»Darauf mein Ehrenwort, Herr Kommandant.«

Damit schieden sie. Als sich bei Morgengrauen der Kapitän von seinem guten Lager in Souls-Port erhob und zum Fenster hinausblickte, sah er im Morgennebel einen Reiter durch die Ebene galoppieren und in der Richtung nach Norden verschwinden.


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