Paul Heyse
Andrea Delfin
Paul Heyse

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So kam er an seine Haustür und fand sie offen. Als er die Treppe hinaufsah, erblickte er oben, wo sonst die Alte saß, ihre Tochter, die an der obersten Stufe stand und weit vorgebeugt, beide Arme auf das Gelände gestützt, hinabspähte. Kommt Ihr endlich! flüsterte sie ihm entgegen. Wo waret Ihr so spät? Ich hörte Euch fortgehen und konnte nicht schlafen.

Er erwiderte kein Wort; mühsam erstieg er die Treppe und wollte an ihr vorbei. Da sah sie den Dolch, den zu verbergen er durchaus keine Sorge trug, und plötzlich fiel sie mit einem erstickten Ausruf ihm gerade vor die Füße. Er ließ sie liegen und schritt nach seinem Zimmer. Kein Mitleiden mit kleinem Menschenweh hatte noch Raum in seinem Innern. Er sah nur die Mutter vor sich, die mit Ungeduld ihren Sohn aus der Fremde zurückerwartete und statt dessen seinen Sarg empfangen sollte.

Kaum aber hatte er sich in seinem Zimmer eingeschlossen, als er Mariettas Klopfen vernahm und ihre leise Stimme, die ihn um Einlaß bat.

Geh zu Bett, sagte er. Ich habe nichts mehr mit Menschen zu teilen. Morgen in der Frühe melde dich im Dogenpalast. Es sind dreitausend Zechinen dort abzuholen. Du kannst sagen, daß einer der Verschworenen unschädlich sei. Fürchte nicht, daß man mich lebend ergreift. Gute Nacht!

Sie blieb beharrlich an der Tür. Ich will hinein, sagte sie. Ich weiß, Ihr tut Euch ein Leids an, wenn Ihr allein bleibt. Ihr denkt, ich könnte Euch verraten, weil ich Euch habe kommen sehen mit dem Dolch. O, Ihr seid sicher davor, daß ich Euch Gefahr brächte. Laßt mich hinein, seht mir ins Gesicht und dann sagt, ob Ihr mir etwas Arges zutraut. Hab ich's nicht lange geahnt, daß Ihr es wäret, den sie suchten? Ich sah Euch im Traum mit Blut befleckt. Aber ich hasse Euch dennoch nicht. Ich wußte, daß Ihr unglücklich seid; mein Leben könnt' ich hingeben, wenn Ihr es verlangtet.

Sie horchte an der Tür, aber es kam keine Antwort. Statt dessen hörte sie, wie er an das Fenster trat, das nach dem Kanal ging und sich dort zu schaffen machte. Eine tödliche Angst überfiel sie, sie rüttelte an der Tür, sie rief von neuem, sie beschwor ihn in den rührendsten Worten, nichts Verzweifeltes zu unternehmen – alles umsonst. Da es endlich drinnen ganz still geworden war, stemmte sie sich in furchtbarer Qual mit den Schultern heftig gegen die Tür und suchte mit Aufbietung aller Kräfte das Schloß zu sprengen. Das alte Holzwerk brach ein, nur der Rahmen hielt stand. Das Loch, das sie gebrochen hatte, ließ ihre schlanke Gestalt so eben durchschlüpfen.

Das Zimmer war leer: in allen Winkeln suchte sie ihn vergebens. Als sie an das offene Fenster trat, nun nicht mehr zweifelnd, daß er sich in den Kanal gestürzt habe, wagte sie kaum über das Gesims in die Tiefe hinabzuspähen. Aber was sie sah, gab ihr die verlorene Hoffnung wieder. Ein Strick hing, an einem festen Haken unterhalb des Gesimses angeknüpft, an der Mauer draußen herab. Er reichte bis auf die Wasserfläche. Wer sich, unten angelangt, mit den Füßen von der Mauer abstieß, mußte sich leicht auf die Wassertreppe drüben am Palast der Gräfin und in die Gondel schwingen können, die dort angekettet zu sein pflegte. Heute war sie verschwunden, und dem einsamen Mädchen, das vergebens die dunkle Schlucht des Kanals hinabschaute, um eine Spur des Entflohenen zu entdecken, blieb wenigstens die tröstliche Überzeugung, daß, wenn er sich retten wollte, er keinen sichereren Weg hätte wählen können.

Daß sie dies glauben sollte, war seine Absicht gewesen. Er wollte das Gemüt des unschuldigen Wesens, dem er schon zu viel Kummer gemacht hatte, nicht mit der ganzen herben Wahrheit belasten, daß es für ihn keine Rettung mehr gab, da er sich selber nicht zu entfliehen vermochte.

Noch sah das arme Mädchen aus dem Fenster, und ihre Tränen stürzten bitterlich in die schwarze Flut unter ihr, als Andrea schon seine Gondel in den großen Kanal hinaus lenkte. Die Paläste zu beiden Seiten ragten dunkel über den Wasserspiegel auf. Er fuhr an dem Hause Morosini vorbei, er sah den Palast Venier, und ein Schauder sträubte ihm das Haar. Hier lag wie mit einem Ring umschlossen sein Leben vor ihm; welch ein Anfang und welch ein Ende! –

Als er an der Giudecca vorüberruderte und nun die breite Stirn des Dogenpalastes im Zwielicht einer trüben Mondsichel vor sich liegen sah, durchzuckte ihn flüchtig der Gedanke, daß hier die Stätte sei, wo man Verbrechen richte. Aber für das seinige waren hier keine Richter zu finden; denn wer darf richten in eigener Sache? Und begleitete ihn nicht noch immer die Hoffnung, daß aus seiner Freveltat dennoch Rettung und Befreiung für seine Mitbürger erblühen könne, daß vielleicht sogar der Mord des Unschuldigen, den die Stimme des Volkes unfehlbar dem Tribunal zuschreiben würde, das begonnene Werk vollenden und das Maß der Gewaltherrschaft würde überfließen machen?

Er hätte diese Hoffnung selbst zerstört, wenn er sich den Richtern gestellt, ihre Furcht vor den unsichtbaren Feinden zerstreut, und die Beschwerden der fremden Mächte von ihnen abgelenkt hätte.

Mit starken Ruderschlägen trieb er die Gondel gegen den Lido hin und durchschnitt das Hafenbecken, wo die Laternen der Schiffe allein noch wachten. Am Eingang des Hafens lag die große Feluke, die seit einer Woche auch dem kleinsten Fahrzeug auszulaufen wehrte, wenn nicht auf den Anruf die Parole der Inquisition antwortete. Andrea hatte gleich den übrigen geheimen Dienern des Tribunals heute früh das Wort empfangen. Ungehindert ließ man ihn ins freie Meer hinaus.

Die See war still. Nicht mit den Wellen hatte Andrea zu kämpfen, als er längs dem Ufer mehrere Stunden weit hinruderte. Aber in der ruhigen lauen Nacht empfand er seine Qualen nur heftiger, und schlug dann und wann wie wahnsinnig das Ruder ins Meer, um nur einen anderen Ton zu hören, als die letzten Worte seines Freundes: «Meine Mutter, meine arme Mutter.»

Es war schon weit über Mitternacht, als er die Gondel ans Land trieb, hinaussprang und auf ein einsames Kloster zuging, das auf einer Landzunge stand und den armen Schiffern wohl bekannt war. Kapuziner hausten hier, die von den Wohltaten der Chiozzoten und dem Bettel auf dem Festland lebten und dafür geistlichen Trost spendeten und in mancher Not dem Volk eine Stütze waren. Andrea zog die Glocke am Tor. Bald darauf hörte er die Stimme des Pförtners, die fragte, wer draußen stehe.

Ein Sterbender, antwortete Andrea. Ruft den Bruder Pietro Maria, wenn er im Kloster ist.

Der Pförtner entfernte sich von der Tür. Indessen setzte sich Andrea auf die Steinbank, riß ein Blatt aus seiner Brieftasche und schrieb bei dem Schein einer Laterne, die aus der Pförtnerzelle hervorschimmerte, folgende Zeilen:

«An Angelo Querini.

«Ich habe den Richter gespielt und bin zum Mörder geworden. Ich habe mich der Gerechtigkeit angemaßt, die Gott sich vorbehalten, und Gott hat mich in meinen eigenen Frevelwahn verstrickt und mich gerechtes Blut vergießen lassen. Das Opfer, das ich zu bringen dachte, ist verworfen worden. Die Zeit war noch nicht erfüllt, das Priestertum der Befreiung Venedigs ist anderen Händen vorbehalten. Oder ist überhaupt keine Rettung mehr?

«Ich gehe vor das Angesicht Gottes, des höchsten Richters, der auf seiner ewigen Waage meine Schuld und meine Leiden gerecht abwägen wird. Von Menschen habe ich nichts mehr zu erwarten; von Euch nur ein großmütiges Mitgefühl für meinen Irrtum und mein Unglück.

Candiano.»

Die Pforte des Klosters öffnete sich, und ein ehrwürdiger Mönch mit kahlem Haupte trat zu dem Schreibenden heraus. Andrea stand auf. Pietro Maria, sagte er, ich danke Euch, daß Ihr kommt. Ihr habt dem Verbannten in Verona meinen Brief gebracht?

Der Greis nickte.

Wenn Euch am letzten Dank eines Unglücklichen etwas gelegen ist, so bringt auch dieses Blatt sicher in dieselben Hände. Versprecht Ihr mir's?

Ich verspreche es.

Es ist gut. Gott lohne es Euch! Lebt wohl!

*

Er nahm die Hand nicht an, die ihm der Mönch zum Abschied reichte. Ohne Aufenthalt stieg er wieder in die Gondel und fuhr in die offene See hinaus. Als der Alte, nachdem er die Zeilen überflogen, entsetzt ihm nachrief und ihn beschwor, noch einmal umzukehren, antwortete er nicht mehr. In höchster Bewegung sah der alte Diener der Republik den letzten Sproß eines edlen Geschlechtes auf den öden Wellen hinaustreiben, die sich jetzt, von einem frühen Morgenwinde erregt, lebhafter kräuselten. Er überlegte, ob es wohlgetan, ob es überhaupt möglich sei, den festen Willen des Sterbenden zu kreuzen. Da erhob sich in der fernen Gondel die dunkle Gestalt, deutlich erkennbar gegen den grauen Horizont; der Scheidende schien noch einmal einen Blick über Land und Meer zu werfen, und nach der Stadt zurückzuspähen, deren Umriß auf den Nebeln der Lagunen wie auf einer Wolkeninsel schwamm. Dann sprang er in die Tiefe.

*

Der Mönch, der sein Ende mit ansah, faltete die Hände und betete still und inbrünstig. Er stieg dann selbst in einen Kahn und fuhr ins Meer hinaus, wo die leere Gondel auf der Brandung tanzte. Von dem Unglücklichen, der sie gelenkt, fand er keine Spur.


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