Paul Heyse
Andrea Delfin
Paul Heyse

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Die Sonne schien mit stechenden Strahlen durch die Septemberdünste, die vom Wasser aufstiegen. Dieser Kai, der sonst von Leben wimmelte, war unheimlich still. Die finsteren Blicke der Soldaten, die unter den Arkaden des Palastes auf und ab klirrten, mochte die laute Munterkeit der Vorübergehenden einschüchtern. Andrea konnte deutlich hören, daß aus einer Gondel, die eben an die Piazetta anfuhr, sein Name gerufen wurde. Er erkannte seinen Freund, den Sekretär des Wiener Gesandten.

Habt Ihr Zeit, rief der Jüngling ihm zu, so steigt ein wenig ein und fahrt eine Strecke mit mir. Ich bin eilig und möchte Euch doch gern noch einmal sprechen.

Andrea stieg in die Gondel, und der andere reichte ihm mit besonderer Herzlichkeit die Hand. Ich freue mich sehr, mein teurer Andrea, daß ich Euch zufällig hier antreffen sollte. Ich wäre ungern ohne Abschied von Euch gegangen, und doch wagte ich nicht, Euch zu besuchen oder nach Euch zu schicken, da es ohne Zweifel aufgefallen wäre.

Ihr reist? fragte Andrea fast bestürzt.

Ich muß wohl. Da lest diesen Brief meiner guten Mutter, und sagt, ob ich darauf hin noch länger zögern kann.

Er zog den Brief aus der Tasche und gab ihn dem Freunde. Die alte Dame beschwor den Sohn, wenn ihm daran liege, daß sie je wieder ein Stunde Schlaf fände, ohne Aufenthalt zu ihr zu reisen. Die Gerüchte aus Venedig, die Stellung, die er dort einnehme und welche ihn mehr als andere gefährde, der Umstand, daß kaum der dritte seiner Briefe an sie gelange, sie wisse nicht, durch wessen Schuld – das alles nage an ihrer Ruhe, und ihr Arzt wolle für nichts stehen, wenn sie nicht durch einen Besuch ihres Sohnes erst wieder getröstet und beruhigt worden sei. Es ging ein Ton grenzenloser mütterlicher Hingebung und tiefen Kummers durch diese Zeilen, daß Andrea sie nicht ohne Bewegung lesen konnte.

Und dennoch, sagte er, als er das Blatt zurückgab, dennoch wünschte ich fast, Ihr reistet nicht gerade jetzt, obwohl ich weiß, daß Eure Mutter die Stunden zählt. Nicht darum, weil ich, wenn Ihr fort seid, völlig verlassen sein und wie ein wandelnder Toter hier zurückbleiben werde, sondern weil es nicht geraten ist, jetzt aus Venedig zu gehen, da der Verdacht Euch auf den Fersen folgen wird, Ihr ginget aus Vorsicht. Hat man gar keine Schwierigkeiten gemacht, Euch zu beurlauben?

Nicht die geringsten. Wie könnte man auch, da ich zur Gesandtschaft gehöre?

So seid doppelt auf Eurer Hut. Man hat schon manche Tür in Venedig zuvorkommend geöffnet, weil der Schritt über die Schwelle in einen Abgrund führte. Wenn Ihr mir folgtet, zeigtet Ihr Euch nicht so offen und unverkleidet hier in der Stadt während der letzten Stunden vor Eurer Abreise. Ihr könnt nicht wissen, was man vielleicht anstellt, dieselbe zu verhindern. – Was soll ich aber tun? fragte der Jüngling. Ihr wißt, daß die Masken verboten sind.

So bleibt zu Hause und laßt die Würdenträger dieser Republik lieber umsonst auf Euren Abschiedsbesuch warten. – Und wann werdet Ihr reisen?

Morgen früh um fünf. Ich denke einen Monat fortzubleiben und hoffentlich meine Mutter dann beruhigt verlassen zu können. Nun es fest beschlossen ist, daß ich mich losreißen soll, bin ich fast schon ausgesöhnt mit dieser Gewaltkur, obwohl sie mir nicht wenig ins Leben schneidet. Vielleicht gelingt es mir, wenn ich die Kreise meiner Zauberin nur erst einmal durchbrochen habe, ihre Macht für immer abzuschütteln. Aber werdet Ihr's glauben, mein Freund, daß ich vor der Trennung zittere, wie wenn ich sie nicht überstehen könnte?

So ist das beste Mittel, Euch sofort von ihr zu trennen.

Ihr meint, sie vor der Reise nicht wiederzusehen? Ihr verlangt Unmenschliches.

Andrea ergriff seine Hand. Mein teurer Freund, sagte er mit einer Innigkeit, die er noch stets bemeistert hatte, ich habe kein Recht, von Euch nur das geringste Opfer in Anspruch zu nehmen. Das Gefühl herzlicher Neigung, das mich von Anfang an zu Euch hingeführt hat, dankt sich selbst reichlich, und ich wage es nicht, im Namen dieser meiner Freundschaft Euch um etwas zu bitten. Aber bei dem Bild jener edlen Frau, deren Liebesworte Ihr mir eben zu lesen gabt, beschwöre ich Euch: geht nicht mehr in das Haus der Gräfin. Mehr als alles, was ich von ihr weiß, ja, was Ihr selbst nicht in Abrede stellt, läßt Euch meine Ahnung warnen, daß es Euer Unheil ist, wenn Ihr sie nicht in diesen letzten Stunden meidet. Versprecht mir's, mein Teuerster!

Er hielt ihm die Hand hin. Aber Rosenberg schlug nicht ein. Fordert kein festes Versprechen, sagte er mit ernstem Kopfschütteln, laßt es Euch genügen, daß ich den besten Willen habe, Eurem Rat zu folgen. Aber wenn der Dämon stärker wäre als ich und alles über den Haufen stürmte, was ich ihm in den Weg legte, so hätte ich den doppelten Kummer, mir selbst und Euch untreu geworden zu sein. Ihr aber wißt nicht, was dieses Weib erreichen kann, wenn sie will.

Sie schwiegen hierauf und fuhren noch eine Weile nachdenklich miteinander durch die leblose Flut, die träge, wie ein Sumpf, vor dem Kiel ihrer Gondel zurückwich. In der Nähe des Rialto begehrte Andrea auszusteigen. Er trug dem Jüngling Grüße an die Mutter auf und zuckte auf die Frage, ob er nach einem Monat noch in Venedig zu treffen sein werde, finster die Achseln. Sie hielten sich lange Hand in Hand und schieden, als die Gondel landete, mit einer herzlichen Umarmung. Noch einmal sah das kluge und treuherzige Gesicht des Jünglings aus der Luke des schwarzen Verdecks hervor und nickte dem Freunde zu, der auf der Wassertreppe in Gedanken verloren stehen geblieben war. Beiden war die Trennung schmerzlicher, als sie sich erklären konnten.

Andrea zumal, der sich seit langem von allen Banden gelöst glaubte, mit denen der Einzelne sich an Einzelne knüpft, der über dem einen furchtbaren Ziel, das er sich gesteckt, allen kleinen Lebenszwecken abgestorben schien, wunderte sich bei sich selbst, wie weh ihm der Gedanke tat, daß er nun mehrere Wochen sich ohne diesen Jüngling behelfen müsse. Bald aber drängte der Wunsch sich vor, daß er ihm hier nie mehr begegnen möchte, ehe sein Werk gelungen sei. Er nahm sich vor, einen Brief an die Mutter zu schreiben, und sie mit geheimnisvollen Warnungen dergestalt zu drängen, daß sie in die Rückkehr ihres Sohnes nach Venedig nicht wieder willigte. Als er diesen Gedanken gefaßt hatte, fiel eine große Last von ihm. Er ging sofort nach Hause, um sein Vorhaben auszuführen.

Aber in seinem grauen Zimmer, wo nie ein Sonnenstrahl hindrang und die leere Wand des Gäßchens unwirtlich durch das Eisengitter hereinsah, überkam ihn, sobald er sich zum Schreiben niedersetzte, eine so heftige Unruhe und Beklommenheit, daß er die Feder hinwarf und hin und her lief, wie ein Raubtier in seinem Käfig. Er war sich völlig klar darüber, daß diese Stimmung nicht aus der Tiefe seines Gewissens aufstieg, daß keine Furcht, sein Geheimnis verraten und der Rache überliefert zu sehen, sich in die Verstörung seiner Seele mischte. Erst an diesem nämlichen Morgen hatte er wieder vor dem Sekretär des Tribunals gestanden und sich von der völligen Ratlosigkeit der Gewaltherren überzeugt. Der verwundete Staatsinquisitor lag noch immer zwischen Leben und Tod. Je länger dieser Zustand der Schwebe dauerte, um so mehr wurde das Dasein des Triumvirates selbst in Frage gestellt. Noch ein glücklicher Schlag gegen das wankende Gebäude, und es lag für alle Zeiten in Trümmern. Andrea zweifelte keinen Augenblick, daß die Vorsehung, die ihm bisher die Hand geführt, auch das Letzte werde gelingen lassen. Noch niemals war er an seiner Sendung irre geworden. Und wenn ihn heute die unbestimmte Ahnung eines großen Unglücks ruhelos machte, so hatten seine eigenen Taten und Pläne keinen Anteil daran.

Der Tag dunkelte schon, als er drüben an Smeraldinas Fenster ein leises Husten hörte, das verabredete Zeichen, daß ihn das Mädchen zu sprechen wünsche. Er hatte sie in der letzten Zeit ziemlich vernachlässigt und knüpfte heute nicht ungern wieder an, teils um seinen eigenen Gedanken zu entrinnen, teils um durch Neuigkeiten aus dem Palast der Gräfin sich den Zugang zum Tribunal offen zu halten, und vielleicht gar zu einem der Inquisitoren hindurchzudringen. Rasch trat er ans Fenster und grüßte hinüber. Die Zofe empfing ihn mit einer kühlen Herablassung.

Ihr macht Euch rar, sagte sie; es scheint, Ihr habt indessen andere Bekanntschaften gemacht, die Ihr Eurer Nachbarin vorzieht.

Er versicherte, daß seine Gefühle für sie unverändert seien.

Wenn es wahr ist, sagte sie, so will ich Euch wieder zu Gnaden annehmen. Es wäre heute gerade eine gute Gelegenheit, einmal wieder ungestört miteinander zu plaudern. Meine Gräfin hat eine Spielgesellschaft auf den Abend, ein halb Dutzend junger Herren. Sie gehen schwerlich vor Mitternacht, und bis dahin könnten auch wir zwei zusammen kommen, und ich versorgte uns hinlänglich aus der Küche und vom Kredenztisch.

Ist der Deutsche geladen, von dem du mir erzählt hast, daß die Gräfin ihn so oft bei sich sieht?

Der? wo denkt Ihr hin! Der ist so eifersüchtig, daß er keinen Fuß über die Schwelle setzt, wenn er hier Gesellschaft wittert. Übrigens reist er fort. Wir grämen uns eben nicht tot darum.

Andrea atmete auf. Ich bin um zehn Uhr hier am Fenster, sagte er; oder soll ich ans Portal kommen?

Sie besann sich. Tut lieber das, sagte sie. Der Pförtner ist ja ein guter Bekannter von Euch, und Eure Wirtin gibt Euch wohl den Schlüssel. Oder spielt Ihr den Tugendhaften vor der kleinen Marietta? Wißt Ihr, daß ich auf das unbedeutende Geschöpf in allem Ernste eifersüchtig zu werden anfing?

Auf Marietta?

Sie ist in Euch vernarrt, oder ich habe keine Augen im Kopf. Seht sie nur an. Geht sie nicht wie verwandelt einher und singt nicht mehr, während man sich sonst die Ohren zuhalten mußte? Und wie manche Stunde betreffe ich sie darüber, daß sie, während Ihr fort seid, in Euer Zimmer schleicht und Eure Sachen durchstöbert!

Sie liest in meinen Büchern; ich habe es ihr erlaubt. Wenn sie nicht mehr singt, so ist es, weil die Mutter krank liegt.

Ihr wollt sie nur entschuldigen, aber ich weiß genug, und wenn ich dahinter kommen sollte, daß sie schlecht von mir gesprochen hat, um Euch mir abspenstig zu machen, so kratze ich ihr die Augen aus, der neidischen Hexe.

Sie schlug das Fenster heftig zu, und er konnte nicht umhin, ihren Worten lange nachzudenken. In früheren Zeiten hätte die Vorstellung, daß er dem reizenden Mädchen nicht gleichgültig sei, sein Blut zu schnelleren Schlägen getrieben. Jetzt ging es ihm nur im Kopf herum, wie er seinen Weg einzurichten habe, um die ruhige Bahn dieser arglosen Seele nicht ferner zu kreuzen. Nachträglich fielen ihm mancherlei kleine Züge ein, die für Smeraldinas Meinung sprachen. Er hatte sie einzeln sich verleugnet. Ihre Summe mußte er gelten lassen. Ich muß fort von hier, sagte er bei sich selbst. Und doch, wo bin ich so sicher und geborgen, wie in diesem Hause?

Nachts um die bestimmte Stunde fand er sich am Portal des Palastes ein, der mit hellen Fenstern auf den winkligen Platz hinaussah. Die Luft war mondlos und trübe, ein früher Herbst kündigte sich an, und die wenigen Menschen, die noch auf den Straßen waren, hüllten sich in ihre kurzen Mäntel. Andrea, als er stand und wartete, daß man ihn einlasse, dachte des Abends, da ein anderer Candiano diese Schwelle betreten hatte, um den Tod davonzutragen. Er schauderte in sich zusammen. Seine Hand, die bald darauf von der öffnenden Zofe vertraulich ergriffen wurde, war kalt.

Sie führte ihn in ihr Zimmer, aber Essen und Trinken, wozu sie ihn nötigte, war ihm unmöglich, obwohl sie die Tafel ihrer Herrin nicht geschont und vom Ausgesuchtesten für ihren Freund beiseite gebracht hatte. Er entschuldigte sich mit seiner Krankheit, und sie ließ es gelten, da er sich nicht weigerte, einige Dukaten im Tarok an sie zu verlieren. Auch hatte er ihr wieder ein Geschenk mitgebracht, so daß sie es verschmerzte, auch heute einen so einsilbigen und enthaltsamen Liebhaber an ihm zu finden. Sie aß und trank desto eifriger, trieb allerlei Possen und nannte ihm die Namen der jungen Venezianer, die zum Spiel bei der Gräfin sich eingefunden hatten.

Da geht es anders her als bei uns, sagte sie; das Gold wird nicht gezählt, sondern mit der vollen Faust auf die Karte gesetzt. Habt Ihr Lust, einmal einen Blick hinein zu werfen? Ihr kennt ja die Schliche schon.

Du meinst den Spalt in der Wand? Aber sind sie denn nicht im Saal?

Nein, im Zimmer der Gräfin. Der Saal ist nur für große Galatage im Karneval.

Er besann sich kurz. Es konnte ihm nur erwünscht sein, seine Personenkenntnis unter dem Adel zu erweitern. Führe mich hin, sagte er. Ich werde bald genug haben und dir nicht lange untreu werden.

Nur verliebt Euch nicht in meine Gräfin, drohte sie. Im Punkte der Eifersucht verstehe ich keinen Spaß, und leider finden manche meine Herrin schöner als mich.

Er suchte in diesen Ton einzustimmen, und sie gingen scherzend aus dem Zimmer. Draußen begegneten ihnen einige Lakaien in Livree, die an dem Begleiter des Mädchens keinen Anstoß zu nehmen schienen. Sie trugen silberne Schüsseln und Teller vorüber und ließen den Weg nach dem großen Saal frei. Derselbe war unbeleuchtet wie das erste Mal; aber nebenan ging es fröhlicher und lauter zu, und Andrea, als er seinen unbequemen Lauerposten oben auf der Tribüne eingenommen hatte, erkannte das Gemach kaum wieder. Die hohen Wandspiegel warfen sich die Strahlen der Kerzen verhundertfacht zu, und ihre goldenen Rahmen fingen die Streiflichter auf und schnellten den Widerschein bis an die Decke. Dazwischen aber funkelten die Juwelen der schönen Leonora, und Andrea erkannte deutlich an ihrem Hals die Kette mit dem Rubinschloß, die sein deutscher Freund von Samuele gekauft hatte. Der Stein lag wie ein roter Blutfleck auf der weißen Brust. Aber ihre Augen sahen müde und gleichgültig auf die Karten, und wenn sie die Gesichter der jungen Männer überflogen, war es deutlich wahrzunehmen, daß keiner von ihnen sie fesselte. Und doch taten die Gäste ihr Bestes, um liebenswürdig zu sein. Sie begleiteten ihre Einsätze mit den scherzhaftesten Reden und verloren rascher ihr Gold als ihre Laune. Einer, der bereits alles verspielt zu haben schien, saß auf einem Sessel zwischen zwei Wandspiegeln und sang schmachtende Barcarolen zur Laute. Ein anderer, der eine Weile vom Gewinnen ausruhte, zielte mit Goldstücken nach den Mustern des Fußteppichs und vergaß, sich nach den rollenden Zechinen wieder zu bücken. Dazwischen gingen die Diener mit Eis und Früchten ab und zu, und ein Bologneserhündchen unterhielt sich in aller Freundschaft mit dem großen, grünen Papagei, der von seiner vergoldeten Stange herab zuweilen auf gut Venezianisch drollige Flüche in die Gesellschaft hineinrief. Schon wollte der Lauscher oben auf der Musikbühne sich wieder zurückziehen, da ihm das Bild, in das er hinuntersah, die peinlichsten Gefühle erregte, als plötzlich durch die hohe Flügeltür eine stattliche Figur in das Spielzimmer trat, die von allen Anwesenden mit Befremden begrüßt wurde. Es war ein ziemlich bejahrter Herr, der aber sein weißes Haupt noch aufrecht genug auf den Schultern trug und auch im Gang nichts Greisenhaftes hatte. Er musterte mit einem raschen Blick die jungen Leute, neigte sich leicht vor der Gräfin und bat, sich nicht stören zu lassen.


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