Paul Heyse
Andrea Delfin
Paul Heyse

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In derselben Nacht saß in Verona ein Mann bei seiner einsamen Lampe und entfaltete, nachdem er Fensterläden und Tür sorgfältig verschlossen hatte, einen Brief, der ihm heute in der Dämmerung, als er in der Nähe des Amphitheaters sich erging, von einem bettelnden Kapuziner heimlich zugesteckt worden war. Der Brief trug keine Aufschrift. Aber auf die Frage, woher der Überbringer wisse, daß er das Schreiben in die richtigen Hände gebe, hatte der Mönch geantwortet: jedes Kind in Verona kennt den edlen Angelo Querini wie seinen Vater. Darauf war der Bote gegangen. Der Verbannte aber, dessen Haft durch die Achtung, die ihm in das Unglück folgte, gelockert worden war, hatte den Brief trotz der Späher, die ihn beobachteten, unbemerkt in seine Wohnung gebracht und las jetzt, während der Schritt der Wache draußen am Hause drohend durch die Stille erklang, folgende Zeilen:

«An Angelo Querini.

«Ich kann nicht hoffen, daß Ihr Euch der flüchtigen Stunde erinnert, in der ich Euch persönlich begegnet bin. Viele Jahre liegen zwischen damals und heute. Ich war mit meinen Geschwistern in der ländlichen Stille unserer Güter in Friaul aufgewachsen; erst als ich beide Eltern verloren hatte, trennte ich mich von meiner Schwester und dem jüngeren Bruder. Schon nach wenigen Tagen hatte mich der verführerische Strudel Venedigs verschlungen.

«Da wurde ich eines Tages im Palast Morosini Euch vorgestellt. Noch fühle ich den Blick, mit dem Ihr uns junge Leute mustertet, einen nach dem anderen. Euer Auge sagte: und das ist das Geschlecht, auf dessen Schultern die Zukunft Venedigs ruhen soll? – Man nannte Euch meinen Namen. Unvermerkt lenktet Ihr das Gespräch mit mir auf die große Vergangenheit des Staates, dem meine Ahnen ihre Dienste gewidmet hatten. Von der Gegenwart und den Diensten, die ich ihm schuldig blieb, schwiegt Ihr schonend.

«Seit jenem Gespräch las ich Tag und Nacht in einem Buch, das ich früher nie eines Blickes gewürdigt hatte, in der Geschichte meines Vaterlandes. Die Frucht dieses Studiums war, daß ich, von Grauen und Abscheu getrieben, die Stadt für immer verließ, die einst Länder und Meere beherrscht hatte und nun die Sklavin einer kläglichen Tyrannis war, nach außen so ohnmächtig, wie unselig und gewalttätig nach innen.

«Ich kehrte zu meinen Geschwistern zurück. Es gelang mir, meinen Bruder zu warnen, ihm die Fäulnis des Lebens aufzudecken, das von fern sich so gleißend ansah. Aber ich dachte nicht, daß alles, was ich tat, um ihn und uns zu retten, uns nur um so gewisser verderben sollte.

«Ihr kennt die Eifersucht, mit der die Machthaber in der Mutterstadt den Adel der Terraferma von jeher betrachtet haben. Hatte man doch in Zeiten, wo der Republik zu dienen eine Ehre war, nie aufgehört, ein Losreißen des Festlandes zu fürchten. Jetzt, wo verschuldete und unvermeidliche Übel eine Änderung der Weltstellung Venedigs herbeigeführt hatten, wurde jene Furcht die Quelle der unerhörtesten Ränke und Freveltaten.

«Laßt mich von den Schicksalen schweigen, die ich in der Nachbarschaft meiner Provinz mit ansah, von den ausgesuchten Mitteln, durch die man die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Adels von Friaul zu brechen suchte, von dem Heer der Bravi, welches man gegen Widerspenstige schickte und durch eine Unzahl von Amnestiedekreten selbst von der Strafe ihrer eigenen Gewissen entband. Wie man den Zwist in die Familien zu tragen, Freundschaften zu vergiften, Verrat und Hinterlist im Schoß der engsten Blutsgenossenschaft zu erkaufen strebte, das alles ist Euch länger bekannt als mir.

«Und nicht lange sollte mich das Andenken, das ich durch meine lockeren Sitten in Venedig zurückgelassen hatte, vor dem Verdacht schützen, daß auch ich eines Tages gefährlich werden könnte. Als ich für meine Schwester um die Erlaubnis nachsuchte, die Hand eines vornehmen deutschen Herrn anzunehmen, wurde die Einwilligung der Regierung rundweg verweigert. Man wähnte mich und meinen Bruder im Einverständnis mit der kaiserlichen Politik und beschloß, uns büßen zu lassen.

«Eine Beschwerde der Provinz gegen ihren Gouverneur, die ich samt dem Bruder mit unterzeichnete, lieferte der Inquisition den Anlaß, das Netz über uns zu werfen.

«Mein Bruder wurde nach Venedig gerufen, sich zu verantworten. Als er kam, wurde er unter die Bleidächer geführt, und viele Wochen lang suchte man bald durch Drohungen, bald durch verlockende Anerbietungen ihn zu Geständnissen zu bewegen. Jenen einen Schritt brauchte er nicht zu beschönigen; er war gesetzlich. Anderes hatte er nicht zu gestehen, da wir nichts gegen den Staat unternommen hatten. So mußte man ihn endlich entlassen. Aber man dachte nicht daran, ihn zu begnadigen.

«Ich selbst hatte ihn schriftlich gebeten, nicht sogleich abzureisen, um nicht neuen Verdacht zu erwecken. Wir wollten ihn lieber einige Monate länger entbehren. Als er endlich kam, sollten wir ihn nach wenigen Tagen für immer missen. Er erlag einem langsam wirkenden Gift, das man ihm in einem der glänzenden Häuser, die er besuchte, unter die Speisen gemischt hatte.

«Noch war der Stein über seinem Grabe nicht aufgerichtet, als der Gouverneur der Provinz meiner Schwester seine Hand antrug. Sie wies sie mit Entrüstung zurück; in ihrem Schmerz entfuhren ihr Worte, die ihren Nachhall im Saal des Inquisitionstribunals finden sollten.

«Eine neue Anstrengung des Adels von Friaul, die Lage des Landes zu bessern, wurde beraten. Ich hielt mich von den geheimen Anstalten fern, da ich von ihrer Fruchtlosigkeit überzeugt war. Aber das böse Gewissen der Herren der Republik deutete auf mich, als den am härtesten Getroffenen, der einen Bruder zu rächen hatte. Ein Haufen gedungener Bravi überfiel nachts unsere einsame Villa in den Bergen. Ich hatte nur meine Diener zur Verteidigung. Als die Elenden uns wohlgerüstet und entschlossen fanden, uns nicht leichten Kaufs zu ergeben, zündeten sie das Haus an vier Ecken an. Ich machte mit meinen Leuten einen verzweifelten Ausfall, die Schwester, die selbst eine Pistole trug, in unserer Mitte. Da streckte mich ein Schlag gegen die Stirn besinnungslos zu Boden.

«Erst am Morgen wachte ich auf. Die Stätte war ein menschenleerer Trümmerhaufen, meine Schwester in den Flammen umgekommen, meine braven Diener teils erschlagen, teils in das brennende Haus zurückgetrieben.

«Viele Stunden lag ich so neben dem rauchenden Schutt und starrte in das leere Nichts, das mir meine Zukunft bedeutete. Erst als ich unten im Tal Bauern heranziehen sah, raffte ich mich auf. Eins wußte ich: Solange man mich am Leben glaubte, würde man mich für einen Feind halten und überall hin verfolgen. Das brennende Grab war geräumig genug; wenn ich verschwand, würde niemand zweifeln, daß auch ich dort bei den Meinigen ausruhte. Im Herumirren auf der Felshöhe fand ich die Brieftasche eines meiner Bedienten, der aus Brescia gebürtig und viel in der Welt herumgefahren war. Seine Papiere lagen darin; ich steckte sie zu mir, auf alle Fälle, und floh durch den dichten Klippenwald. Niemandem begegnete ich, der mich hätte verraten können. Als ich mich verschmachtet zu einem trüben Waldsee bückte, sah ich, daß auch mein Äußeres mich nicht verraten konnte. Mein Haar war in der Nacht ergraut; meine Züge waren um viele Jahre gealtert.

«In Brescia angelangt, konnte ich ohne Schwierigkeiten mich für meinen Diener ausgeben, da derselbe schon als Knabe die Stadt verlassen hatte und dort keine Verwandten mehr besaß. Fünf Jahre lang lebte ich wie ein lichtscheuer Verbrecher und vermied die Menschen. Eine Ohnmacht hatte sich auf meinen Geist gesenkt, als wäre durch jenen Schlag, der mich zu Boden warf, das Organ des Willens in mir zertrümmert worden.

«Daß es nicht zerstört, sondern nur gelähmt war, empfand ich bei der Kunde von Eurem Auftreten gegen das Tribunal. Mit einer fieberhaften Spannung, die mich verjüngte und mir das Bewußtsein meiner Lebenskraft zurückgab, verfolgte ich die Nachrichten aus Venedig. Als ich das Scheitern Eures hochherzigen Wagnisses vernahm, sank ich nur auf einen Augenblick in die alte dumpfe Resignation zurück. Im nächsten Augenblick drang es wie ein Feuerstrom durch alle meine Sinne. Der Entschluß stand fest, das Werk, das Ihr auf dem offenen Wege des Rechts und des Gesetzes nicht hattet vollbringen können, auf dem Wege der Gewalt und einer furchtbaren Notwehr, mit dem Arm des unsichtbaren Richters und Rächers zum Heil meines teuren Vaterlandes hinauszuführen.

«Ich habe diesen Entschluß seither unablässig geprüft und meine Absicht unsträflich gefunden. Ich bin mir heilig bewußt, daß nicht Haß gegen die Personen, nicht Rache für erlittenes Leid, nicht einmal der gerechte Gram um das Weh, das meinen Lieben widerfahren, meinen Arm gegen die Gewaltherren bewaffnet. Was mich bewegt, für ein ganzes in Knechtschaft versunkenes Volk als Retter aufzutreten und einzeln den Spruch zu vollstrecken, der zu anderen Zeiten vom Gesamtwillen einer freien Nation über ungerechte, dem Arm des Richters unerreichbare Mächtige verhängt worden ist, – es ist weder Eigensucht, noch eitle Ruhmbegier; es ist nur eine Schuld, die ich durch eine tatenlose Jugend auf mich geladen habe, und an deren Bezahlung mich damals Euer Blick im Palast Morosini mahnte.

«Gott, in dessen Schutz ich meine Sache befehle, möge mir als einzigen Ersatz für alles, was er mir genommen, die Gnade zuteil werden lassen, daß ich in einem befreiten Venedig Euch noch einmal die Hand drücken kann. Ihr werdet die blutbefleckte nicht zurückstoßen, die dann in keiner Freundeshand mehr ruhen wird; denn wer das Amt des Henkers verwaltet hat, ist der Einsamkeit geweiht und hat den Blick der Menschen zu meiden. Gehe ich aber an meinem Werk zu Grunde, so weiß derjenige, an dessen Achtung mir am meisten gelegen ist, daß es auch in dem jüngeren Geschlecht nicht ganz an Männern fehlt, die für Venedig zu sterben wissen.

«Diesen Brief wird Euch ein zuverlässiger Mann zustellen, der das Kleid eines Sekretärs der Inquisition mit der Mönchskutte vertauscht hat, um durch Fasten und Gebet die Sünden der Republik zu büßen, denen er seine Feder leihen mußte. Verbrennt dieses Blatt. Lebt wohl! Candiano.»

Als der Verbannte den Brief zu Ende gelesen hatte, saß er wohl eine Stunde in tiefem Kummer vor den verhängnisvollen Blättern. Dann hielt er sie über die Flamme, streute die Asche in den Kamin und ging ruhelos bis an den frühen Morgen auf und nieder, während der Unglückliche, dessen Beichte er vernommen, wie einer, dessen Sache gerecht und dessen Sachwalter der Himmel ist, schon längst den Schlaf gefunden hatte. – –

Am anderen Tage ging der späte Ankömmling in der Straße della Cortesia zeitig aus. Das lustige Singen Mariettas draußen auf dem Flur hätte ihn vielleicht noch länger schlafen lassen, aber das laute Schelten der Mutter, daß sie einen Lärm mache, der einen Toten erwecken könne, und daß sie noch alle Fremden aus dem Hause treiben würde, ermunterte ihn völlig. Er hielt sich an der Stiege, wo seine Wirtin bereits auf ihrem alten Posten saß, nur gerade so lange auf, um sich nach den Wohnungen einiger Notare und Advokaten zu erkundigen, deren Namen ihm ein Freund in Brescia aufgeschrieben hatte. Als er Bescheid wußte, konnte weder die zärtliche Sorge der Witwe um seine Gesundheit, noch die rote Schleife, die Marietta in ihr Haar gesteckt hatte, ihn zu längerem Verweilen bewegen, und während sich die gute Frau sonst bemüht hatte, den Verkehr ihrer Mietsleute mit ihrer Tochter möglichst zu verhindern, war es ihr jetzt fast unheimlich, daß der Fremde das liebe Geschöpf, ihren Augapfel, hartnäckig übersah. Sein ergrautes Haar erklärte ihr diese seltsame Blindheit nicht genügend. Er mußte einen geheimen Kummer haben oder sich so krank fühlen, daß ihm der Anblick eines frischen Lebens wehe tat. Dennoch ging er straff und rasch, und seine Brust war breit und gewölbt, so daß die Krankheit, von der er sprach, tief im Innern ihren Sitz haben mußte. Auch seine Gesichtsfarbe war nicht verdächtig. Wie er die Straßen Venedigs durchschritt, zog er den wohlgefälligen Blick manch eines Frauenauges auf sich, und auch Marietta sah ihm aus einem der oberen Fenster nicht ohne Anteil nach.

Er aber ging in sich gekehrt seinen Geschäften nach, und obgleich er sich bei Frau Giovanna umständlich nach dem Weg erkundigt hatte und endlich über seine Ortsunkenntnis durch das Sprüchlein: «Mit Fragen kommt man bis Rom» von ihr getröstet worden war, schien er doch jetzt ohne alle Hilfe sich in dem Netz der Gassen und Kanäle zurechtzufinden. Mehrere Stunden vergingen ihm mit Besuchen bei Advokaten, die aber auf seine Empfehlung von einem Kollegen aus Brescia wenig Gewicht legten und denen er, so bescheiden er auftrat, verdächtig vorkommen mochte. Denn allerdings war ein gewisser Stolz in der Falte seiner Stirn, der einem schärferen Beobachter sagte, daß er die Arbeit, die er suchte, eigentlich unter seiner Würde hielt. Zuletzt kam er zu einem Notar, der in einem Seitengäßchen der Merceria wohnte und allerlei Winkelgeschäfte nebenbei zu treiben schien. Hier fand er mit einem sehr mäßigen Gehalt eine Stelle als Schreiber, vorläufig zum Versuch, und die hastige Art, wie er zugriff, brachte den Mann zu dem Verdacht, er habe es etwa mit einem verarmten Nobile zu tun, deren mancher, nur um das Leben zu fristen, sich zu jeder Arbeit willig finden ließ, ohne um ihren Preis zu handeln.


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