Paul Heyse
Andrea Delfin
Paul Heyse

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Ihr wißt, was die Nacht geschehen ist, fuhr der andere fort. Es ist unerhört, daß zwölf Stunden nach einem Mord in Venedig vergehen und noch keine Spur gefunden ist, wer ihn begangen hat. Wir sind um unseren Kredit gekommen bei der Signoria, beim Volk, bei den Fremden, die von der Polizei hier zu Lande Wunder geglaubt und Zeichen erwartet haben. Der Rat der Zehn findet, daß er schlecht bedient wird. Er wird sich nach neuen Augen umtun, die besser in alle Winkel dringen. Eure Augen, Herr Delfin, möchten, wenn Ihr noch denkt wie vor zehn Tagen, bald eine feinere Schrift zu lesen bekommen, als die Akten Eures Herrn Notars. Darum haltet Euch zu Haus morgen früh. Wenn es was ist und ich kann ein Wort für Euch anbringen, soll es mich freuen.

Mein Sinn ist noch nicht verändert; aber fast zweifle ich an meinen Fähigkeiten.

Husch, husch! sagte der andere und schüttelte den Zeigefinger. Ich müßte Gesichter nicht kennen, oder Ihr habt Eures in Eurer Gewalt, und wer verbergen kann, was er denkt, hat schon halb erraten, was für Gedanken andere zu verbergen suchen.

Und wer entscheidet, ob man mich brauchen kann oder nicht?

Ihr müßt Euch prüfen lassen vor dem Tribunal; ich kann nichts tun, als sagen, daß ich Euch kenne und Euch Talente zutraue. Bis morgen, denk' ich, wird das Tribunal vollzählig sein; die Zehn sitzen eben zusammen und wählen den dritten Mann. Ich kann sagen, daß man mir geben könnte viel Geld, daß ich sollte Staatsinquisitor werden – ich dankte für die Ehre. Denn die Inschrift auf dem Dolch ist nicht so für die Langeweile eingraviert, und der Soldat auf der Pulvermine ißt sein Brot ruhiger als einer der drei Herren Venedigs seit gestern nacht.

Dennoch ist wohl kein Zweifel, daß der Erwählte das Amt antritt? Oder darf er ablehnen?

Ablehnen! Wißt Ihr nicht, daß die Republik jeden schwer bestraft, der sich einem Amt entzieht?

Andrea schwieg und sah finster durch die Luke auf die Fläche des Kanals. Eine unabsehliche Menge schwarzer Gondeln fuhr in derselben Richtung zwischen den hohen Palästen hin, und vom Rialto her kam eine nicht geringere Zahl ihnen entgegen. Beide Züge trafen jetzt aufeinander und drängten sich um eine breite Wassertreppe, wo sie um die Wette anfuhren und ihre Herrschaften landeten. Es war der Palast Venier, und droben lag der Tote.

Ein Blick zeigte Andrea, wo sie waren. Gewaltsam beherrschte er seine Bewegung und sagte: Habt Ihr hier zu tun, Samuele, oder ist es bloß die Neugier, einen ermordeten Staatsinquisitor auf dem Paradebett zu sehen?

Ich bin im Dienst, erwiderte der Jude. Aber auch Euch kann es nützlich sein, mitzugehen. Ich werde Euch mit einigen meiner Freunde bekannt machen, denn der Zehnte hier weiß, was er sucht. Aber wir tun, als kennten wir uns nicht. Wißt Ihr, daß ich wetten möchte, von den Verschworenen seien nicht wenige unter diesen Beileidsgesichtern? Wer weiß, ob der Täter nicht selbst eben aus einer dieser Gondeln steigt! Er wäre nicht dumm, wenn er sich hier sicherer glaubte, als irgend wo sonst. Denn zu dieser Stunde, kann ich Euch sagen, durchsucht die Polizei, während alles im Freien ist, die Häuser, die ihr jemals verdächtig waren, und das Sprichwort ist wahr: Der Teufel lehrt es zu tun, aber nicht, es zu verbergen.

Mit diesen Worten sprang er aus der Gondel und half Andrea dienstfertig aussteigen. Ist es Euch unheimlich, einen Toten zu sehen? fragte er. Ihr seid nicht wohl aufgelegt.

Ihr irrt, Samuele, antwortete Andrea rasch und sah ihm gleichmütig ins Gesicht. Ich bin Euch vielmehr dankbar, daß Ihr meiner Trägheit zu Hilfe gekommen seid. Ohne Euch wäre ich schwerlich hier. Laßt uns hinaufgehen, um dem großen Herrn, der uns im Leben schwerlich vorgelassen hätte, unseren Besuch zu machen. Eine stattliche Wohnung, die er so hastig mit einem engen Kämmerchen vertauschen muß! Er tut mir leid, in der Tat, obwohl ich ihn nie mit Augen gesehen habe.

Sie stiegen unter einem großen Andrang nebeneinander die schwarzverhangene Treppe hinauf, von deren Höhe das umflorte Wappen des Hauses Venier heruntersah und statt jedes Pförtners der Menge Stille gebot. Drinnen in dem größten Saal war der Katafalk unter einem Baldachin errichtet, Zypressenbäume ragten bis an die hohe Decke, Kerzen auf silbernen Kandelabern flackerten im Luftzug, der über den offenen Balkon vom Wasser herauf durch die Halle strich, und vier Diener des Hauses Venier in schwarzem Samt, die blanken Hellebarden mit Flören umwickelt, hielten wie Standbilder an den Ecken des Totengerüstes die Wache. Über den Leichnam war eine samtene Decke gebreitet; die silbernen Fransen hingen bis auf den Boden herab. Der Tote zeigte den Eintretenden das scharfe Profil, mit einem zornigen und traurigen Ausdruck das geschlossene Auge gegen den Baldachin gekehrt. Andrea erkannte diese Züge wieder. Er hatte sie im Zimmer Leonoras in jener Nacht sich tief ins Gedächtnis geprägt. Aber kein Zucken seines Mundes noch der Augen, die scharf auf den Toten gerichtet waren, verriet, daß der Rächer vor seinem Opfer stand. –

Eine Stunde später kam Andrea nach Hause. Frau Giovanna empfing ihn oben an der Treppe mit einer fast mütterlichen Sorge, und auch Marietta schien unruhig auf ihn gewartet zu haben. Sie erzählten ihm, daß die Sbirren in seiner Abwesenheit sein Zimmer durchsucht, aber alles in bester Ordnung gefunden hätten, übereinstimmend mit dem Zeugnis, welches sie selbst, die Wirtin, ihrem Mieter ausgestellt habe. Die ruhige Art, in der Andrea ihre Erzählung anhörte, versicherte sie vollends, daß ihre Angst überflüssig und der Besuch der Polizei mehr eine Sache der Form gewesen sei. Eine Menge Warnungen und Vorsichtsmaßregeln legte die gute Frau ihm ans Herz, wie er sich in dieser bösen Zeit mit Reden und Handlungen vor jedem Verdacht zu schützen habe. Sie werden das Regiment noch verschärfen, seufzte die Alte, denn sie wissen wohl: eine Katze mit Handschuhen fängt keine Mäuse, und das ist auch ein wahres Wort, daß die Toten den Lebenden die Augen öffnen. Darum seid auf Eurer Hut, teurer Herr, und traut niemand, der sich an Euch macht. Ihr kennt die schlimmen Gesellen noch nicht, wie gutmütig sie sich zu stellen wissen, aber glaubt mir: man wird nur von dem betrogen, dem man traut. Geht lieber nicht zu Tisch in einem Gasthaus, sondern laßt Euch gefallen, daß wir Euch zu Hause auftragen, was wir vermögen. Ihr seht angegriffen aus. Legt Euch ein wenig aufs Bett; Ihr seid das Herumlaufen nicht gewohnt.

Alle diese Reden begleitete Marietta mit bittenden Blicken und sah, neben der Mutter stehend, unverwandt in sein blasses, ernstes Gesicht. Er versicherte, daß ihm wohl sei, bat um Brot und Wein und kam, nachdem man es ihm gebracht hatte, den Rest des Tages nicht wieder zum Vorschein.

Früh am anderen Morgen, als er noch im Bette lag, trat Samuele bei ihm ein. Wenn Euch darum zu tun ist, sagte er, zum mindesten vierzehn Dukaten monatlich in die Tasche zu stecken, so kommt mit mir; es ist alles eingeleitet, und ich denke, Ihr macht den Gang nicht umsonst.

Ist der neue Staatsinquisitor schon gewählt? fragte Andrea.

Es scheint so.

Und noch keine Spur von der Verschwörung?

Noch keine Spur. Der Schrecken unter dem Adel ist groß. Sie verschließen sich in ihren Häusern und sehen in jedem Besucher einen Spion der Zehn oder des Tribunals. Einer nach dem anderen von den fremden Gesandten hat dem Dogen seine Aufwartung gemacht, die feierlichsten Versicherungen seiner Empörung über die Tat abgelegt und seine Hilfe zur Entdeckung des Täters angeboten. Von nun an werden die drei vom Tribunal sich noch geheimer halten als zuvor, und, wie ich glaube, soll ein Preis auf den Kopf des Mörders gesetzt werden, der einen armen Teufel schon für einige Jahre flott machen würde. Die Augen auf, Herr Andrea! Wir beide trinken vielleicht bald einen besseren Wein zusammen, als damals in jener Kneipe!

Schweigend hatte sich Andrea angezogen und folgte nun seinem Gönner, der beständig plauderte, nach dem Dogenpalast. Samuele war hier gut bekannt. Er klopfte an eine unscheinbare Tür im Hof, sagte dem Diener, der öffnete, ein Wort ins Ohr und ließ Andrea auf einer kleinen Treppe höflich den Vortritt. Nachdem sie droben einen langen, helldunkeln Gang durchschritten und einigen Hellebardieren Rede gestanden hatten, wurden sie in ein nicht gar großes Gemach eingelassen, dessen Fenster nach dem Hofe ging und mit einer dunkeln Gardine zur Hälfte verhangen war. Im Hintergrunde gingen drei Männer in flüsterndem Gespräch auf und ab, die Gesichter mit Masken bedeckt, unter denen nur die Spitzen der Bärte hervorsahen. Ein vierter, unmaskiert, saß an einem Tisch und schrieb beim Schein einer einzelnen Kerze.

Er sah auf, als Samuele mit Andrea auf der Schwelle erschien. Die drei anderen schienen die Hereintretenden nicht zu beachten, sondern ihr Gespräch eifrig fortzusetzen.

Ihr bringt den Fremden, den Ihr uns angekündigt habt? fragte der Sekretär.

Ja, Euer Gnaden.

Ihr könnt abtreten Samuele.

Der Jude verneigte sich gehorsam und verließ das Zimmer.

Nach einer Pause, in welcher der Sekretär des Tribunals einige Papiere, die vor ihm lagen, überflogen und dann mit einem langen Blick die Gestalt des Fremden geprüft hatte, sagte er: Euer Name ist Andrea Delfin; seid Ihr mit den venezianischen Nobili gleichen Namens verwandt?

Nicht daß ich wüßte. Meine Familie ist seit Urzeiten in Brescia ansässig.

Ihr wohnt in der Calle della Cortesia bei Giovanna Danieli; Ihr wünscht in den Dienst des erlauchten Rates der Zehn zu treten.

Ich wünsche der Republik meine Dienste zu widmen.

Eure Papiere aus Brescia sind in Ordnung. Der Advokat, bei dem Ihr fünf Jahre gearbeitet habt, gibt Euch das Zeugnis eines verständigen und zuverlässigen Mannes. Nur über die sechs oder sieben Jahre, bevor Ihr zu ihm kamt, fehlt ein jeder Ausweis. Was habt Ihr, nachdem Eure Eltern gestorben waren, in der langen Zeit getrieben? Ihr habt sie nicht in Brescia zugebracht?

Nein, Euer Gnaden, erwiderte Andrea ruhig. Ich war in fremden Ländern, in Frankreich, Holland und Spanien. Nachdem ich mein geringes Erbe aufgezehrt hatte, mußte ich mich bequemen, Bedienter zu werden.

Eure Zeugnisse?

Sie sind mir entwendet worden in einem Koffer, der meine ganze Habe enthielt. Ich war dann des unsicheren Reiselebens müde und ging nach Brescia zurück. Meine Herrschaften hatten mich zu mancherlei Sekretärdiensten brauchbar gefunden. Ich versuchte es bei einem Advocaten, und Euer Gnaden haben das Zeugnis selbst vor sich, daß ich zu arbeiten gelernt habe.

Während er dies sagte, in einer stillen, unterwürfigen Haltung, den Kopf etwas vorgebeugt und den Hut in beiden Händen, trat plötzlich einer der drei Herren in der Maske näher an den Tisch heran, und Andrea fühlte einen durchdringenden Blick auf sich gerichtet.

Wie heißt Ihr? fragte der Inquisitor mit einer Stimme, die ein hohes Alter verriet.

Andrea Delfin. Meine Papiere weisen es aus.

Bedenkt, daß es Euer Tod ist, wenn Ihr das erlauchte Tribunal hintergeht. Erwägt die Antwort noch einmal. Wenn ich nun sage, daß Euer Name Candiano sei?

Eine kurze Pause folgte auf dieses Wort, man hörte den Totenwurm im Gebälk des Zimmers bohren. Acht forschende Augen waren auf den Fremden geheftet.

Candiano? sagte er langsam, doch mit fester Stimme. Warum soll ich Candiano heißen? Ich wollt' es wahrlich selbst; denn soviel ich weiß, ist das Haus Candiano reich und vornehm, und wer diesen Namen trägt, braucht nicht sein Brot mühsam mit der Feder zu verdienen.

Ihr habt das Gesicht eines Candiano. Euer Betragen überdies verrät eine bessere Herkunft, als diese Papiere anzeigen.

Ich kann nichts für mein Gesicht, erlauchte Herren, erwiderte Andrea mit anständiger Unbefangenheit. Was mein Betragen angeht, so habe ich auf Reisen allerlei Sitten gesehen und die meinigen, soviel ich konnte, verbessert, auch meine Zeit in Brescia nicht verloren, sondern aus Büchern die Versäumnisse meiner Jugend nachgeholt.

Die beiden anderen Inquisitoren waren indes jenem ersten näher getreten, und der eine, dessen roter Bart sich breit unter der Maske vorschob, sagte halblaut: Eine Ähnlichkeit mag Euch täuschen, die ich nicht wegleugnen will. Aber Ihr wißt selbst: der Zweig des Hauses, der bei Marano angesiedelt war, ist ausgestorben; der Alte ist in Rom begraben, die Söhne überlebten ihn nicht lange.

Mag sein, erwiderte der erste. Aber seht ihn an und sagt, ob es nicht ist, als wäre der alte Luigi Candiano, nur verjüngt, aus dem Grabe erstanden. Ich hab ihn gut genug gekannt; wir wurden an demselben Tage in den Senat gewählt.

Er nahm die Papiere vom Tisch und prüfte sie sorgfältig. Ihr mögt recht haben, sagte er endlich. Es würde mit den Jahren nicht stimmen. Für einen der Söhne Luigis ist dieser zu alt. Wenn er ihn vor der Ehe erzeugt hätte – so würde es uns gleichgültig sein können.

Er warf die Papiere wieder hin, gab dem Sekretär einen Wink und trat mit den anderen in die Fensternische zurück, das unterbrochene Gespräch leise fortsetzend. Niemand konnte Andreas Augen anmerken, welch eine Last in diesem Augenblick ihm von der Seele fiel. Der Sekretär begann von neuem. Ihr versteht fremde Sprachen? fragte er.

Ich spreche Französisch und ein wenig Deutsch, Euer Gnaden.

Deutsch? Wo habt Ihr das gelernt?

Ein deutscher Maler in Brescia war mein guter Freund.

Seid Ihr je in Triest gewesen?

Zwei Monate, Euer Gnaden, in Geschäften meines Herrn, des Advokaten.

Der Sekretär stand auf und trat zu den dreien am Fenster. Nach einer Weile kam er an den Tisch zurück und sagte: Man wird Euch den Paß eines österreichischen Untertans geben, der aus Triest gebürtig war. Mit diesem geht Ihr in das Haus des österreichischen Gesandten und bittet um seinen Schutz, da die Republik Euch auszuweisen drohe. Ihr werdet sagen, daß Ihr in früher Jugend Triest verlassen habt und nach Brescia hinübergegangen seid. Was auch die Antwort sein möge, dieser Besuch wird Euch, bei einiger Geschicklichkeit, genügen, um mit dem Sekretär des Gesandten Bekanntschaft zu machen. Es ist Eure Aufgabe, dieses Verhältnis fortzuspinnen und, soviel Ihr könnt, die geheimen Verbindungen des Wiener Hofes mit den Adeligen Venedigs zu beobachten. Entdeckt Ihr das Geringste, was Euch Verdacht einflößt, so habt Ihr es unverzüglich zu melden.

Wünscht das hohe Tribunal, daß ich meine bisherige Stellung bei dem Notar Fanfani aufgebe?

Ihr ändert nichts in Eurer Lebensweise. Euer Gehalt beträgt für den ersten Monat nur zwölf Dukaten. Von Eurer Geschicklichkeit und Umsicht hängt es ab, die Summe zu verdoppeln.

Andrea verneigte sich zum Zeichen, daß er mit allem einverstanden sei.

Hier ist Euer deutscher Paß, sagte der Sekretär. Eure Wohnung ist dem Palast der Gräfin Amidei benachbart. Es wird Euch ein leichtes sein, mit ihrer Kammerfrau ein Verhältnis anzuknüpfen, dessen Kosten Euch erstattet werden sollen. Was Ihr auf diesem Wege über die Beziehungen der Gräfin zu vornehmen Venezianern erfahrt, berichtet Ihr an diesem Ort. Die Republik erwartet, daß Ihr treu und gewissenhaft Eure Aufgabe erfüllt. Sie verpflichtet Euch nicht durch einen Eid, weil, wenn die Scheu vor den irdischen Strafen, die wir verhängen, Euch nicht in der Pflicht zurückhielte, Ihr kein Menschenblut in den Adern haben müßtet und also auch der himmlischen Gerechtigkeit spotten würdet. Ihr seid entlassen.

Andrea verbeugte sich wiederum und wandte sich nach der Tür. Der Sekretär rief ihn zurück.


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