Paul Heyse
Andrea Delfin
Paul Heyse

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

In demselben Augenblick hörte Andrea die Stimme des Mädchens unten im Saal, die ihn leise herunterrief. Er gehorchte, nachdem er einen letzten Blick auf das schöne Weib geworfen, das immer noch regungslos mitten im Zimmer stand und dem Fortgegangenen tiefsinnig nachsah. Wie ein vom Schlage Getroffener stieg er schwankend von der Estrade herab und folgte, ohne ein Wort zu sprechen, dem voranhuschenden Mädchen. In ihrer Kammer brannte wieder Licht, der Wein stand noch auf dem Tischchen am Fenster und nichts schien die Fortsetzung des unterbrochenen Spiels zu hindern. Aber auf dem Gesicht des Mannes lag ein unheimlicher Schatten, der selbst den Leichtsinn Smeraldinas verschüchterte und sie von dieser Nacht nichts mehr hoffen ließ.

Ihr seht aus, sagte sie, als hättet Ihr Gespenster gesehen. Kommt, trinkt ein Glas Wein und erzählt mir, was es gab. Es lief ja ruhiger ab als wir fürchteten.

O gewiß, sagte er mit erzwungener Kälte. Man will deiner Herrin sehr wohl, und es ist sogar Aussicht, daß du deinen rückständigen Lohn nächstens ausbezahlt erhältst. Im übrigen sprachen sie so leise, daß ich wenig verstand, und jetzt bin ich vor allen Dingen todmüde von dem unbequemen Knieen auf den harten Brettern. Nächstens tue ich deinem Wein eine bessere Ehre an, gutes Kind. Aber heute muß ich schlafen.

Ihr habt mir noch nicht einmal gesagt, ob Ihr sie so schön findet wie die anderen Leute, sagte das Mädchen und versuchte zu schmollen über ihren undankbaren, einsilbigen Freund.

Schön wie ein Engel oder eine Teufelin, murmelte er zwischen den Zähnen. Ich danke dir, Madamigella, daß du mir dazu verholfen hast, sie zu sehen. Ein anderes Mal bleibe ich fein bei dir, da ich heute meine Neugier hinlänglich gebüßt habe. Gute Nacht!

Er schwang sich auf den Sims und betrat das Brett, das sie mißmutig wieder über den Abgrund geschoben hatte. Als er droben stand, sah er den Kanal hinunter, in dessen Tiefe eben das Licht der Gondel verschwand. Gute Nacht! rief er noch einmal zurück und stieg dann vorsichtig in sein Zimmer hinunter, während Smeraldina die Brücke abbrach und sich vergebens bemühte, das seltsame Betragen des Fremden, seine Armut, seine Freigebigkeit, sein graues Haar und seine Abenteuersucht miteinander zu reimen.

*

Eine Woche verging, ohne daß die Eroberung, die Smeraldina an ihrem Nachbar gemacht zu haben glaubte, sich sonderlich befestigte. Nur einmal ließ sie ihn, nachdem sie den Pförtner auf ihre Seite gebracht hatte, bei Nacht in der Maske zur Tür herein, führte ihn nach dem Wasserpförtchen und bestieg mit ihm die Gondel, die er selbst mit langsamen Ruderstößen durch das dunkle Labyrinth hindurchtrieb, um endlich auf dem großen Kanal eine Stunde lang im Freien hinzugleiten. Er war trotz der guten Gelegenheit auch diesmal nicht eben zärtlicher Laune, während sie beständig schwatzte und durch Erzählungen aus der großen Welt, in der die Gräfin ihre Rolle spielte, ihn zu belustigen suchte. Er erfuhr, daß seit wenigen Tagen der österreichische Gesandtschaftssekretär lange Besuche bei ihrer Herrin zu machen pflege, wo beide ohne Zweifel sich berieten, wie es anzufangen sei, daß die Verbannung des jungen Gritti zurückgenommen würde. Die Gräfin sei besserer Laune als je und habe sie reich beschenkt. Andrea schien dies alles nur mit halbem Ohr zu vernehmen und sich einzig der Lenkung der Gondel zu widmen. Es war also dem Mädchen selbst nicht unlieb, als ihr schweigsamer Gefährte umwendete und auf dem kürzesten Wege nach Hause fuhr. Geräuschlos trieb er das schmale Fahrzeug nahe an den Pfahl heran, legte, nachdem sie ausgestiegen waren, die Kette herum und bat sich den Schlüssel aus, um sie festzuschließen. Sie gab ihn und war schon in der Tür, als er ihr nachrief, daß ihm in der Hast der kleine Schlüssel aus der Hand geglitten und in den Kanal gefallen sei. Es war ihr selbst verdrießlich; aber mit ihrer gewöhnlichen Leichtherzigkeit tröstete sie ihren Freund, daß wohl noch ein zweiter Schlüssel sich im Hause finden werde, und er konnte diesmal nicht umhin, mit einem flüchtigen Kuß auf ihre Wange Abschied zu nehmen, als sie ihn um Mitternacht durch die Hauptpforte des Palastes entließ.

Seiner Wirtin, der Frau Giovanna, sagte er am anderen Morgen, daß es viel Arbeit bei seinem Brotherrn gegeben habe, so daß man die Nacht hätte zu Hilfe nehmen müssen. Dies war das einzige Mal, daß er den Hausschlüssel brauchte. Gewöhnlich kam er schon gegen die Dämmerung heim, genoß nur Brot und Wein und löschte früh das Licht, so daß die gute Frau ihn in der Nachbarschaft als ein Muster des Fleißes und unsträflichen Wandels pries. Nur das eine beklagte sie, daß er sich nicht schone und bei seinen Jahren gar kein erlaubtes Vergnügen genieße, wodurch er sich aufheitern und sein Leben verlängern würde. Marietta war bei solchen Reden still und sah in ihren Schoß. Sie sang nicht mehr, sobald der Fremde in seinem Zimmer war, und schien überhaupt, seitdem er gekommen, sich mehr Gedanken gemacht zu haben als sonst in einem Jahre.

Am Morgen des zweiten Sonntags, den Andrea im Hause der Witwe erlebte, trat die Frau hastig mit verstörtem Gesicht und in vollem Staat, wie sie aus der Messe zurückkehrte, in sein Zimmer. Er saß am Tisch, noch nicht völlig angekleidet, und las in einem seiner Gebetbücher. Sein Gesicht war bleicher als sonst, aber sein Blick ruhig, und es schien, als ob er ungern in seiner Andacht gestört würde.

Sitzt Ihr noch still im Zimmer, Herr Andrea, rief sie ihm entgegen, und ganz Venedig ist auf den Beinen? Eilt und kleidet Euch an und geht selbst auf die Straße hinaus, wo Ihr so viel entsetzte Menschengesichter sehen könnt wie Körner in der Mühle. Heiliger Jesus! daß ich das noch erleben muß, und dachte, es könne nichts mehr in Venedig geschehen, worüber ich staunte!

Wovon redet Ihr, gute Frau? fragte er mit gleichgültigem Ton und legte das Buch aus der Hand.

Sie warf sich auf einen Stuhl und schien sehr erschöpft. Bis an die Piazetta bin ich fortgeschoben worden, fing sie wieder an, und sah die Herren vom Großen Rat zu Haufen die Riesentreppe im Hofe des Dogenpalastes hinaufsteigen und die Trauerfahne wehen aus dem Fenster der Prokurazien. Werdet Ihr es glauben? Heute nacht zwischen Elf und Mitternacht hat man den Vornehmsten von den drei Staatsinquisitoren, den edeln Herrn Lorenzo Venier, auf der Schwelle seines Hauses ermordet.

War es schon ein alter Mann? fragte Andrea ruhig.

Misericordia! Wie Ihr auch sprecht! Als wäre er nur in seinem Bett gestorben. Aber Ihr seid freilich kein Venezianer und könnt es nicht verstehen, was es heißt: ein Inquisitor ermordet, einer vom Tribunal. Es ist mehr als wenn es ein Doge wäre, von denen mancher nicht mit rechten Dingen um sich kam, denn das Tribunal hat die Macht und der Doge das Kleid. Was aber das entsetzlichste ist: auf dem Dolch, den sie in der Wunde gefunden haben, steht eingegraben: «Tod allen Inquisitoren»; allen! versteht ihr wohl, Herr Andrea? Das ist nicht wie wenn ein Wicht von einem Bravo gedungen wird, einen einzelnen aus der Luft zu schaffen, weil er einem anderen im Wege steht bei Liebschaft, Ämtern oder sonst. Das ist ein politischer Mord, sagte mein Nachbar, der Spezial, und dahinter steckt eine Verschwörung und Helfershelfer und der Angelo Querini mit seinem Anhang. Er rieb sich die Hände, als er das sagte, aber mir zitterte das Herz im Leibe, denn ich will nicht sagen, was ich denke, aber ich weiß, mit der bösen Tat ist's wie mit den Kirschen, schüttelt man eine herunter, so fallen zwanzig nach, und dieses Blut wird viel Blut kosten.

Hat man denn keine Spur des Mörders, Frau Giovanna? Wozu nützen dem Tribunal die Hunderte von Spionen, die es bezahlt?

Nicht den Schatten einer Spur, antwortete die Witwe. Es war eine dunkle Nacht, die Bora wehte, und auf dem großen Kanal, an dem sein Palast steht, war es leer von Gondeln. Da kam er allein durch eine Seitengasse nach Hause, und da traf ihn die unsichtbare Hand, und er lebte nur so lange, bis er mit seinem letzten Stöhnen den Pförtner herausgeschreckt hatte. Da war die Gasse totenstill und niemand zu erblicken. Ich aber weiß, was ich weiß, Herr Andrea. Soll ich es Euch sagen? Ihr seid rechtschaffen und brav und werdet es nirgend weiter umhersagen und mich nicht in neues Elend bringen: Ich kenne die Hand, die dieses Blut vergoß.

Er sah sie fest an. Redet, sagte er, wenn es Euch erleichtert. Ich verrate Euch nicht.

Habt ihr keine Ahnung? sagte sie, indem sie aufstand und dicht neben ihn hintrat: Hab' ich Euch nicht gesagt, daß mancher lebt und nicht wiederkommt, und mancher tot ist und doch wiederkommt? Wißt ihr's nun? Er hat es ihnen nicht vergessen, daß sie sein Weib und Kind unter die Bleidächer geschleppt und gemartert haben. Aber, um Gottes willen, kein Wort davon über Eure Lippen! Wenn es sein Geist getan hätte, die Lebendigen müßten es büßen.

Und was habt Ihr für Anlaß zu Eurem Glauben?

Sie sah sich im Zimmer unheimlich um. Wißt, flüsterte sie, es war nicht geheuer im Haus diese Nacht. An den Wänden hört' ich es hinauf- und hinabhuschen, wie Gespensterschritte, ich lag im Bett und horchte, und es rauschte da unten heimlich über den Kanal und klirrte an Eurem Fenster, und durch das Gäßchen nebenan schwirrte es von aufgescheuchtem Getier bis lange nach Mitternacht. Erst mit dem Glockenschlage eins ward Ruhe; ich weiß wohl, wer sie gestört hat. Er kam, nachdem er es getan, um uns zu grüßen, da wir ja keinen Abschied genommen haben.

Das Haupt war ihm auf die Brust gesunken. Jetzt stand er auf und sagte, daß er selbst ausgehen wolle, um sich zu erkundigen. Er habe, wie sie ja wisse, sich früh niedergelegt und besonders fest geschlafen, so daß er von allem Spuk nicht gestört worden sei. Übrigens möge sie es für sich behalten, denn allerdings sei es gefährlich, von einem solchen Verbrechen auch nur eine gespenstische Mitwissenschaft erhalten zu haben. – Darauf zog er sich eilig an und ging in die Stadt hinaus.

Es war ein Wogen und Treiben auf den Gassen, wie man es selbst bei hohen Festen der Republik nicht gewohnt war. Lautlos bewegten sich aus der inneren Stadt hastige Züge von Neugierigen durch die engen Straßen fort nach dem Markusplatze zu, und wer sich nicht anschloß, stand wenigstens draußen an der Tür seines Hauses und wechselte mit vorbeieilenden Bekannten beredte Zeichen und Blicke. Man sah es diesen Menschen an, daß etwas Unerhörtes und Furchtbares sie zugleich aufgeregt und betäubt hatte, daß sie alle planlos dem allgemeinen Zuge folgten, begierig, das Ereignis vor allem mit Augen zu sehen und mit Händen zu greifen. Niemand redete laut, niemand lachte, pfiff oder seufzte auch nur vernehmlich; es war, als fühlten diese ehrsamen Bürger die Pfähle wanken, auf denen die Lagunenstadt gegründet ward.

In scheinbar nachlässiger Haltung schritt Andrea unter dem Volk hin, den Hut tief über die Augen gedrückt, die Hände auf den Rücken gelegt. Nun trat er auf den Markusplatz hinaus, wo in unzähligen Gruppen alle Stände durcheinander gemischt unter dem reinen Sommerhimmel sich geschart hatten, während unter den Hallen der Prokurazien der Strom weiterfloß, der Piazetta zu, bis draußen an das breite Becken des Kanals, das von den beiden Säulen beherrscht wird. Der alte Dogenpalast stieg majestätisch über dem Gewühl empor. Man sah hinter den Bogenfenstern und in den Arkaden Waffen blinken, und ein Trupp Soldaten hatte am Eingang Posto gefaßt, Spalier bildend und jedem die Wehr vorhaltend, der, ohne zum Großen Rat zu gehören, in das Innere Einlaß suchte. Denn oben in der weiten Halle, deren Wände mit den Großtaten der Republik ausgemalt sind, saß die Blüte des Adels in geheimer Beratung beisammen, und die Menge, die unten scheu vor den schweren Pfeilern des alten Baues vorüberwallte, schien ungeduldig das Ergebnis dieser Sitzung abzuwarten; so oft ein Nobile sich am Fenster blicken ließ, entstand ein Murmeln und Deuten und Hinaufstarren, als werde jeden Augenblick das Urteil über den unentdeckten Frevler vom Balkon herab verkündigt werden. Auch Andrea, der das lange Viereck des Platzes einsam durchmessen hatte, näherte sich jetzt dem Dogenpalast und warf im Vorbeigehen einen Blick in die Kirche von San Marco, wo er Kopf an Kopf bis zu den Pforten hinaus die Menschen stehen und der Predigt lauschen sah. Dann bahnte er sich mühsam einen Weg nach den beiden Säulen und stand in düsteren Gedanken am Kai der Piazetta, vor sich die wimmelnde Menge der schwarzen Gondeln, deren stählerne, gezahnte Schnäbel bei jeder Wendung ihre Sonnenblitze über die Wellen warfen. Auch die Riva degli Schiavoni, die zu seiner Linken lag, war dicht gedrängt von erwartungsvollen Menschen. Über dem Turban des Türken tauchte der rote griechische Fes, die malerische Mütze der Schiffer von Chioggia, der dreieckige Hut und die gepuderte Perücke auf, und man hörte gleicher Weise die verschiedensten Zungen durcheinander schwirren, während vom Wasser herauf die eintönigen Anrufe der Gondoliere auch dem Blinden sagten, daß der große Kanal Venedigs zu seinen Füßen floß.

Eine offene Gondel, von zwei Dienern in reicher goldgestickter Livree gerudert, flog vorüber; eine Dame lag nachlässig auf den breiten Polstern, das Haupt in die Hand gestützt. Das Feuer eines großen Diamantringes spielte aus dem rötlichen Glanz ihrer Haare hervor; ihre Augen ruhten auf dem Gesicht eines jungen Mannes, der ihr gegenüber saß und eifrig zu ihr sprach. Sie hob jetzt den Kopf und musterte mit einem stolzen Blick das Menschengewoge droben auf der Piazetta. Das ist die blonde Gräfin, hörte Andrea im Volke sagen; er hatte sie längst erkannt. Zusammenfahrend, wie wenn schon ihr Anblick Verderben brächte, wandte er sich ab. Da sah er in ein bekanntes Gesicht, das ihm vertraulich zunickte. Samuele stand hinter ihm.

Seid ihr auch einmal unter Menschen, Herr Delfin? raunte ihm der Jude mit seiner dünnen Stimme zu. Vergebens habe ich Euer Gnaden all die Tage her wieder zu begegnen gesucht. Ihr lebt eingezogener, als eine Frau in den Wochen. Wenn ihr wollt mitgehen, wohin mich meine Geschäfte rufen, so hätt' ich Euch zu sagen, was Ihr vielleicht gern hört. Kommt! Was steht Ihr hier, wie die anderen Narren, die da glauben, im Großen Rat würde das Heil der Republik zur Welt gebracht? Die Ratten im Schiff machen es nicht flott, wenn es aufgefahren ist. Die wahren Lotsen haben jetzt besseres zu tun, als zu schwatzen. Aber gehen wir von hier fort, ich habe Eile, und in der Gondel reden wir bequemer.

Er winkte eine von den Mietgondeln heran und zog Andrea am Arm sich nach. Sie stiegen ein und setzten sich unter das schwarze Dach, links und rechts durch die Öffnungen der engen Kajüte den Kanal überblickend. Was habt Ihr mir zu sagen, Herr? begann Andrea. Und wohin führt Ihr mich? Geht morgen früh nicht zu Eurem Notar, sagte der Jude. Es wäre möglich, daß Ihr zu einem Gang abgeholt würdet, der Euch mehr eintrüge.

Was meint Ihr, Samuele?


 << zurück weiter >>