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Vierunddreißigstes Kapitel

Vier Monate nach diesen ergreifenden Auftritten war zu Scalby in Yorkshire in der eleganten und bescheidenen Villa, welche wir kennen, das Bett Clarissens umgeben von ihrer Mutter, Mrs. Morton, ihren beiden Brüdern, ihren zwei jüngeren Schwestern, William, einem Arzte und Dollon, welcher durch die von ihm bewiesene Hingebung gerechte Ansprüche auf die Dankbarkeit dieser edlen Familie erworben hatte.

Clarissa lag im Sterben; weder die Zärtlichkeit einer bewundernswerten Mutter, noch die Liebkosungen ihrer jungen Schwestern, wahrer Engel auf Erden, noch die treue Liebe ihrer Brüder, noch die Hingebung ihres William, die tausendfach bewährte, konnten die langsamen Fortschritte einer Krankheit aufhalten, welche allen Bemühungen der Wissenschaft trotzte.

Von ihrem Lager aus, durch das halb offene Fenster, atmete sie die balsamische Mailuft ein und erblickte durch die klare Atmosphäre von ferne die Nordsee am Fuße des Oliver-Berges. Die ganze Natur lachte, die Vögel spielten in den blühenden Fliederbüschen, die weißen Tauben kamen, ihre junge Herrin zu grüßen, verwundert, sie nicht im Hofe gefunden zu haben. Auch Clarissa lächelte, als wollte sie die teuern Wesen trösten, welche sie umgaben und Mühe hatten, ihre Thränen zurückzuhalten.

Es war in der That ein niederschlagender Gedanke, sie gerettet zu haben, nur um sie auf immer zu verlieren, und gerade in dem Augenblicke, wo ihr achtzehnter Geburtstag herannahte.

Seit vier Monaten hatte jeder Tag die fortschreitende Entkräftigung der schönen Kranken verraten. Ihr Körper war gesund und die ärztlichen Autoritäten hatten umsonst nach dem Wesen ihres Übels geforscht.

Der Doktor Nevins aus Liverpool schrieb aus Scalby am 1. Mai an Mrs. Butler:

»Je mehr ich den eigentümlichen Charakter dieser Krankheit studiere, desto mehr überzeuge ich mich, daß die Wissenschaft nicht imstande ist, sie zu heilen. Clarissa ist in der Seele verwundet. Ihre weibliche Schamhaftigkeit kann das Andenken an die Greuel nicht ertragen, deren Zeugin sie sein mußte. Es ist ein Engel auf Erden, der emporschweben will. Sie wird wahrscheinlich den heutigen Tag nicht überleben.«

Diese Diagnose des Doktor Nevins hatte das Richtige getroffen. Der würdige Arzt hatte die Aufgabe der Heilkunde nicht auf die Verabreichung einiger Gifte beschränkt, er hatte die Menschheit selbst gründlich studiert und vereinigte mit der ausgedehntesten Kenntnis seiner Wissenschaft das tiefste Verständnis der erhabenen Natur des Menschen.

Ebensosehr Philosoph als Arzt, hatte er auf den ersten Blick im Hospital St. Pierre zu Brüssel in unserer Heldin ein Opfer erkannt. Jetzt erkannte er mit Schrecken den ausschließlich sittlichen Charakter der Krankheit seiner anziehenden Patientin. Ja, mitten unter den Beweisen von Liebe der Ihrigen tötete die Erinnerung Clarissen sicherer, als es das Gift der Schlange thut.

Es giebt Dinge, welche das menschliche Auge nicht erblicken kann, ohne dem Tode zu verfallen. Und im Alter von siebzehn und einem halben Jahre hatten die Niederträchtigkeit einiger Menschen und die Feigheit der Behörden ein keusches Mädchen gezwungen, ihre reinen Blicke in die schmutzige Kloake der Unzucht zu versenken!

Clarissa erwachte aus einem Schlummer voll schrecklicher Traumbilder. Ihre irrenden Blicke suchten in dem jungfräulichen Zimmer herum, sie beruhigte sich langsam und, noch voll Furcht, umschlang sie mit den Armen ihre geliebte Mutter, wie um sich fest zu überzeugen, daß sie nur so schrecklich geträumt hatte. Denn sie hatte im Traume die sterbende Nana erblickt, sie hatte die Peitsche des Henkers gefühlt, sie hatte zugleich ihr entsetzliches Gefängnis und ihren blutgierigen Kerkermeister gesehen.

Aber der Traum war zu Ende. Die Aufregung legte sich und die weiße Gestalt, weißer als das Kopfkissen, sank kraftlos zurück.

Ihre verklärten Züge hatten bereits nichts mehr von dieser Welt.

»Teuerste Mutter«, murmelte sie, »lebe wohl, William, lebe wohl!« Dann fügte sie bei: »Ich fühle mich glücklich, in meiner Heimat zu sterben.« Dann war es vorbei. Clarissa war nicht mehr!


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