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Sechszehntes Kapitel

Clarissa begriff, daß ihre Kerkerhaft sich noch um einen Grad verschärft hatte. Ihr Schicksal war noch härter als das des Sklaven, der wenigstens mit seinen Gefährten zusammen seine harte Arbeit verrichtet. Sie war eingeschlossen, allein mit ihren quälenden Gedanken, und nur ab und zu sah sie das Gesicht Mimis, des englischen Dienstmädchens, das ihr das Essen brachte, aber kaum auf ihre Fragen antwortete. Sie war Sklavin, Sklavin eines Mörders, der jede Gewaltthat als eine verzeihliche Sünde betrachtete.

Sie hat später nie angeben können, wie lange sie in dem Kerker gewesen ist, denn man hatte ihr jede Möglichkeit genommen, die Zeit zu messen. Man wollte sie um jeden Preis wie es schien, dem Wahnsinn oder Blödsinn, dem Gift oder der Gewalt anheimfallen sehen.

Clarissa erwog in ihrer furchtbaren Lage, die schlimmer war als jede augenblickliche Gefahr, alle Mittel. Das einzige was ihr blieb, war der Selbstmord, aber selbst diesen auszuführen, hatte man ihr jede Möglichkeit geraubt, wenn sie nicht den Hungertod wählte. Aber hieß das nicht auch die Kraft verlieren, um dem höchsten Schimpfe widerstehen zu können. Außerdem verbot ihr die Religion dieses äußerste Mittel und andererseits sagte sie sich, daß sich doch vielleicht noch eine Gelegenheit zur Flucht bieten würde. Man konnte doch nicht Gewalt anwenden, um sie zu entehren. Sie wußte nicht, wie weit die Infamie gehen kann, und – wie hätte sie auch wissen sollen – daß es Teufel in Menschengestalt giebt.

So ließ sie denn nicht nach, über ihre Lage und über die Mittel, sich derselben zu entziehen, nachzudenken. Ihre Hoffnung war natürlich William. Er mußte in Sorgen sein, das war ihr klar; aber wenn er auch alles zu thun bereit war, wie sollte er ihr unfreiwilliges Versteck finden? Der Gedanke war jedoch immerhin ein Trost, daß sie diesen tapferen und treuen Freund besaß. Sie kannte seinen Charakter, und wußte, wie kühn und unermüdlich er war, und daß er sie suchen würde bis ans Ende der Welt. Und sie hatte sich nicht getäuscht.

Vierzehn Tage nach Clarissas Abreise fand sich William bei den Herren Jones und Komp. in Oxfort-Street ein, und verlangte eine Unterredung unter vier Augen mit Mr. Jones, der ihm ausweichen zu wollen schien. Derselbe unterbrach die Mitteilung, daß noch immer keine Nachricht von der jungen Dame, welche durch seine Vermittlung bei einer belgischen Familie angestellt wurde, eingelaufen sei, durch den erstaunten Ausruf: »Durch meine Vermittlung? Sie irren sich, mein Herr, mein Haus hat dabei nichts zu thun, als die Personen hier zu empfangen, welche dem Herrn Sall... Sal..., ich glaube Sullecartes, entsprechen würden, der in den Zeitungen die zu vergebende Stelle ausgeschrieben hatte.«

»So können sie mir wenigstens sagen, wo sich dieser Herr Sullecartes befindet?« frug William.

»Nein, mein Herr, es wäre unmöglich sowohl als unnütz, die Adressen aller Leute aufzuschreiben, welche uns mit ihren Aufträgen beehren.«

William entfernte sich, etwas entmutigt. Er zweifelte nicht daran, daß der Stellenvermittler an dem Verschwinden seiner Braut mit schuld war, und darum wußte. Sie konnte allerdings krank sein, aber ein Brief war schnell geschrieben, es brauchten ja nur ein, zwei Worte zu sein. Dieser Mangel an Nachrichten war ihm unerklärlich, indessen konnte ein Brief ja auch verloren gegangen sein.

Nach einem Monat konnte William die Unruhe nicht länger mehr ertragen. Ein verirrter Brief war möglich, aber zwei, drei, vier?

Es kam ihm ein Gedanke, der ihn zittern machte. War Clarissa tot? Aber der Graf von Brederode hätte doch der Mutter des Mädchens ein Wort geschrieben! Nein, diese Vermutung war zu absurd.

Er hatte Erkundigungen über die Agentur Jones u. Komp. eingezogen, und überall hatte die Antwort gelautet: Die Herren zahlen gut, sie sind solid.

Endlich beschloß er, Sullecartes aufzusuchen. Er durchmaß die schmutzigsten Straßen des französischen Quartiers, indem er dachte, seinen Mann dort zu finden und auch die Adresse des Grafen von Brederode erfahren zu können. Aber er fand nichts. Er schrieb auf gut Glück an den Grafen selbst, doch erhielt er natürlich keine Antwort.

Manchmal überfielen ihn die düstersten Gedanken, aber er verscheuchte sie, als zu entsetzlich.

Eines Tages, etwas über einen Monat, seitdem er seine Braut zum letzten Male umarmt hatte, war William, nach Beendigung seiner Arbeit in der City, in das Innere des französischen Quartiers, nach Old Compton Street gegangen. Ermüdet lauschte er eben mit traurigen Gedanken einer fröhlichen Melodie auf der Drehorgel eines Italieners, als er plötzlich Raphaela bemerkte, mit zwei fremden Mädchen an den Armen, welche man nur anzusehen brauchte, um zu wissen, zu welcher Menschenklasse sie gehörten. Raphaela schien sehr heiter, und die Scherze flogen zwischen den Dreien hin und her, indem sie mit den Füßen den Takt zu der lebhaften Musik schlugen.

William war überrascht von dem lärmenden Benehmen Raphaeles und ihrer Gefährtinnen, welches so stark von ihrer ungemein ehrbaren Erscheinung bei seinem Zusammentreffen mit ihr am Bahnhofe von Charing-Croß abstach.

Rasch ging er aus sie zu, und war nur noch zwei Schritte von ihr entfernt, als sie, ihn erkennend, in fremder Sprache einige Worte an ihre Gefährtinnen richtete. Im nächsten Augenblick sah er sich von den beiden Dirnen aufgehalten, welche ihn am Arme ergriffen und von ihm bewirtet sein wollten, während Raphaela schleunigst in einem jener engen Durchgänge verschwand, an welchen das französische Quartier so reich ist.

Langes Nachsinnen war da überflüssig. Die Antwort auf das, was ihn seit drei Wochen beschäftigte, war gegeben, die Flucht jenes Weibes sprach deutlicher als Worte.

Clarissa befand sich in Gefahr.

Es war halb acht. Einige zwanzig Pfund hatte er bei sich. Schnell einen Wagen nehmen, an seinen Prinzipal ein Wort senden, war bald gethan, und eine halbe Stunde später befand er sich in demselben Abendzuge, mit welchem seine Braut vor fünf Wochen abgereist war, auf dem Wege nach Brüssel.


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