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Siebentes Kapitel

Sollten wir hier unser Buch schließen? möchten wir die Leser fragen. Vielleicht thäten wir gut daran. Es giebt so fürchterliche Dinge, daß sie jeder Beschreibung spotten; es giebt so von Grund aus unmenschliche Verbrechen, daß sie um Rache zum Himmel schreien und das Blut der Schuldigen fordern. Dazu gehört vor allem die Verführung der Jugend; aber was soll man erst sagen, wenn diese Verführung systematisch organisiert, ermächtigt, ja von den öffentlichen Gewalten einer vorgeblich zivilisierten Nation begünstigt ist? Was soll man z. B. in Brüssel zu allen jenen patentierten Mördern sagen, welche unter dem Titel von Pächtern tenanciers die Gehilfen der Polizei sind?

Ist es euch noch nicht begegnet, liebe Leser, daß ihr bei der Erzählung von einem ergreifenden Unglück Thränen vergossen habt? Wenn nicht, so habt ihr sicher »Oliver Twist« von Dickens nicht gelesen. Ein Kind wird angeklagt, des Diebstahls überwiesen, verurteilt und eingesperrt, während der Leser die ganze Zeit hindurch weiß, daß es unschuldig ist. Seine, durch ein unglaubliches Zusammentreffen von Umständen endlich erwiesene Unschuld, die Verworfenheit des Lasters neben den edlen Gefühlen dessen, der die arme Waise in seinen Schutz nimmt, all' dies führt uns Charles Dickens vor, um die Tugend zu bestärken, und die Schlechten zittern zu machen.

Wie viel trauriger aber ist die Geschichte unserer Clarissa, die auch jung und unschuldig, und dabei noch ein Weib war! Warum habt ihr sie nicht getötet, ihr Belgier, als sie zwischen eure unerbittlichen Mauern trat, in denen sie alles verlieren sollte, was das Leben wert machen kann, ihre Familie, ihre Freiheit, ihre kindliche Unbefangenheit, ihren Geliebten, ihr Leben? Und alles das ohne die geringste Schuld ihrerseits. Clarissa! Im Himmel dort oben, von dem aus Du uns betrachtest, verzeihst Du, denn Du bist heilig, aber Dein Leiden soll nicht vergeblich gewesen sein. Nein, man soll nicht sagen, daß die edelste, die reinste, die hingebendste der Töchter dieser Erde den ungeheuerlichen Gelüsten einer verdorbenen Stadt, den Fallstricken des Abschaums der Menschheit zum Opfer gefallen sei, ohne daß die Freunde des hingegangenen Opfers Einspruch erhoben hätten.

Wenn das Weib schwach und zart ist, so steht der Mann ihm dafür zur Seite, es zu stützen, es zu rächen, und um für einen Augenblick die engherzigen Regeln menschlicher Gerechtigkeit, welche bisweilen aufhört gerecht zu sein, zu vergessen. Summum jus, summa injuria!

Der in dem geliebten Weibe, in seinem eigenen Blute beleidigte Mann, wird zu seiner ganzen Stärke erwachen. Kann er nicht alles? Hat er nicht das Paradies des Allmächtigen dem schwachen Wesen zulieb, verschmäht, das er zu seiner Genossin machte? Hat er nicht aus Liebe das Leben der Arbeit gewählt? Die erhabene Sage der Genesis ist die Geschichte der Menschheit.

Es kann nicht unsere Aufgabe sein, hier näher auf die sogenannten Maßnahmen zu Gunsten der Sitten einzugehen, die beständigen Kompromisse zwischen der Unzucht und der Polizei, die Apathie des Beamtenstandes, die niedrige Denkweise der kommunalen Verwaltungen, die ehrlosen Rechtsumgehungen von Anwälten, die Mitschuld der Presse zu schildern. Es giebt nur ein Wort, das alle diese kaum glaublichen Thatsachen zusammenfaßt, und dieses Wort heißt »Infamie«.

Ja es ist Infamie, wenn der erste Beamte der Stadt sein Haus zu einem Lupanar macht,

Infamie, wenn ein Beamter der regelmäßige Lieferant der Brüsseler Bordelle wird,

Infamie, wenn ein königlicher Minister das in der Kammer verteidigt,

Infamie, wenn die Abgeordneten dazu schweigen,

Infamie, wenn Beamte und Anwälte Schimpf und Schande auf die Unglücklichen zu wälzen suchen, welche durch die Gesetze selbst zu Grunde gerichtet werden, die sie vertreten, Infamie, wenn die Hochgestellten ihr Ansehen mißbrauchen, um die heilige reine Kindheit zu besudeln,

Infamie, wenn der Arm des Gesetzes vor dem Range geiler Beamten erlahmt,

Infamien, überall, im Gerichtshofe und im Volke, das sich schließlich an sie gewöhnt.

Von den höchsten Kreisen bis zur Schule herab, verbreitet sich die scheußliche Verderbnis, wie unter den schönsten Früchten, von denen ein Stück vergriffen ist, die Ansteckung überhand nimmt.

In Wahrheit verteidigen diese Leute ein Kainszeichen auf der Stirn, die Erbsünde, die sie auf dem Gewissen haben. Sie lieben den Schmutz der Ausschweifung und können denen, die für ihr Vergnügen sorgen, nicht ernstlich entgegentreten. Was kommt es den Söhnen des Glücks auf eine Tochter des Volkes mehr oder weniger an? Das Volk besteht aus Sklaven, die Frau des Volkes ist zur Unsittlichkeit da. Es wird uns vielleicht schwer sein, die folgenden Szenen zu schildern, ohne dabei einen unüberwindlichen Ekel hervorzurufen, aber niemals werden wir danach streben, das Laster liebenswürdig zu machen, und ebensowenig die Schilderung desselben zum Vorwande nehmen, um zu lüsternen Gehülfen der Gelegenheitsmacher zu werden, die wir geißeln wollen. Nein, die reinste Frau kann dieses Buch lesen, und wenn wir auch nicht schreiben können wie Richardson und Dickens, so werden wir sicher nicht wie Rochester de Sade oder Zola schreiben.

So rein wie der erlösende Engel aus den verfluchten Mauern der zuchtlosen Städte des toten Meeres hervorging, wird unsere Heldin aus dem Verbrechen der Schmach und den Ungeheuerlichkeiten, die ein entartetes Volk in seinem Busen hegt, hervorgehen, und ebenso rein soll sich meine Feder bewahren.


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