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Sechstes Kapitel

Während der Schnellzug unsere Reisenden rasch ihrem Ziele zuführt, sei uns gestattet, auf Raphaela, die eines unwürdigen Sullecartes würdige Genossin, einen Blick zu werfen.

War Letzterer der ausführende Obergeneral in den schändlichen Feldzügen einer Bande vereinigter Verbrecher, welche später ihren Weg in die Gefängnisse Brüssels fand, so war Raphaela deren Seele, und übernahm die unentbehrliche Rolle der Vermittlerin.

Dem Anscheine nach jetzt 30-35 Jahre alt, mußte Raphaela früher eine der schönsten Frauen gewesen sein, welche man sich denken konnte. Nach ihrem Accent hätte man sie für eine Irländerin gehalten, aber ihre tiefschwarzen und beinahe krausen Haare, ihre dunklen Augen, deren Iris sich kaum von der Pupille abhob, ihr Acajou-Teint verrieten einen amerikanischen, mit Negerblut gemischten Ursprung. Ihre üppigen Formen waren in ihrer Art von vollkommenem Ebenmaße, obschon es ihnen an Eleganz fehlte. Ihr Gesicht war schön, aber es trug entweder die Spuren von großem Unglück oder von großen Verbrechen oder Ausschweifungen. Der Schleier, den sie gewöhnlich in geschickter Weise trug, verhinderte jedoch jeden ungünstigen Eindruck.

Raphaela konnte als der böse Geist Sullecartes betrachtet werden. Für sie hätte er Alles gethan, dafür sicherte ihm aber auch die erfahrene Frau, die aller Sprachen Westeuropas mächtig war und durch die Überlegenheit ihres Geistes eine Art Zauber ausübte, in jeder Weise den Erfolg seines Handels. In dem französischen Quartier Londons, diesem Lasterpfuhl der Welt, hatte Sullecartes sie kennen gelernt. Er war arm, elend, ein Gauner und Spitzbube gewesen, bis sie aus ihm einen reichen Mann machte, der gut gekleidet war, gut lebte, und in dem Artikel, den wir kennen, als Handelsmann ersten Ranges dastand. Aus dem verkommenen Vagabunden, aus dem Kuppler, welcher irgend eine Unglückliche ausbeutete, hatte sie einen großen Verbrecher, einen Händler mit Menschenfleisch, einen angesehenen Mädchenlieferanten gemacht. Und was noch schaudererregender ist, sie liebte diesen großen »flämischen Hans«, wie sie ihn nannte, sie strebte danach, das Verbrechen zu übertünchen und betete ihr Werk an, es war gleichsam der letzte weibliche Tribut, den diese Hyäne zollte.

Wie viele Mädchen hatte sie auf die Bahn des Lasters gerissen, wie viele Familien hatte sie der Verzweiflung in die Arme geworfen, wie viele leichtfertige Frauen hatte sie betrogen, indem sie dieselben in jene menschlichen Schlachthäuser lieferte, welche man auf dem Kontinent »Toleranzhäuser« nennt.

Seit zehn Jahren übte sie dieses scheußliche Gewerbe aus, und ihre Verbindungen erstreckten sich nach allen größeren Städten Frankreichs, Belgiens und Hollands. Als Niederlage für diesen Sklavenhandel dienten zwei prachtvolle möblierte Häuser in der Nähe von Oxford-Street, die stets mit unglücklichen Opfern angefüllt waren, welche nur selten das Los ahnten, das sie erwartete. Beinahe immer war ihnen vorgespiegelt worden, daß sie eine Stellung, sei es als Tänzerin, als Komptoirdame, als Gouvernante oder Erzieherin erwartete.

Keines dieser Hunderte von Schlachtopfern hat es vielleicht vorher völlig begriffen, bis wie weit seine Erniedrigung gehen sollte, denn der Gedanke an Sklaverei mit erzwungener Prostitution, bis zu welcher das kontinentale System der Regulirung der Unsittlichkeit geht, konnte keiner freien Engländerin in den Sinn kommen, in deren glücklichem Lande ein solches System eine Unmöglichkeit ist. Daß die Polizei ein Eigentumsrecht des Bordellpächters auf die Person einer Sklavin unterstützen könne, ist eine Vorstellung, die ihr nicht faßbar ist.

Natürlich gab es außer dem Lockmittel von guten Stellungen noch andere Wege, die Unglücklichen auf die Bahn zu bringen, auf der man sie zu sehen wünschte; so z. B. gelang es häufig durch Verführung. Das schönste Mitglied der Bande, ein gewisser Schultze, wurde gewöhnlich dazu ausgewählt, und oft gelang es diesem gaunerischen Don Juan nach wenigen Monaten, ein bis dahin ehrbares Mädchen, dem er mit frecher Stirne die Ehe versprach, zu Grunde zu richten.

Raphaela war tatsächlich als das wahre Haupt dieser verworfenen Gesellschaft anerkannt worden. Sie leitete dieselbe und hatte alle nötigen Laster und eine hinlängliche Gewandtheit, um ihr Gewinn zu bringen. Die Verordnungen der großen Städte über die Prostitution kannte sie ganz genau und umging geschickt alle Schwierigkeiten und Gefahren des Strafgesetzbuches; sie bestach den käuflichen Polizeibeamten, bewirtete die Hauspächter, witterte einträgliche Geschäfte aus und lag ihrem teuflischen Gewerbe mit dem ganzen Ernst und Eifer eines Kaufmanns der City ob.

Ein großartiges Lager von Geburtsscheinen, die sie sich verschafft hatte, dienten ihr dazu, die Mädchen älter zu machen, wenn es die Umstände erforderten. Den Mädchen selbst, wenn sie für Städte bestimmt waren, in denen die Polizei auf strenge Befolgung der Gesetze hielt, wie z. B. für den Haag, hielt sie gewöhnlich folgende Rede: »Ihr begreift, daß die Stellung, die ich Euch anbiete, ein gewisses Alter erfordert, und daß Ihr sie eigentlich nicht erhalten dürftet. Indessen giebt es ein Mittel, Ihr nehmt einen Geburtsschein, den ich für euch besorgt habe und sagt, daß Ihr so heißet, wie der darin stehende Name lautet. Für die Zeit, welche Ihr im Auslande zubringt, nennt Ihr Euch dann z. B. Nelly Mason, und nehmt Euren wahren Namen wieder an, wenn Ihr zurückkehrt.«

»O, darauf kommt es nicht an«, antworteten dann meistens die naiven betrogenen Opfer, die erst, wenn es zu spät war, wenn sie verlassen, unbekannt, mißhandelt, verhöhnt, verraten und künstlich betrunken gemacht, auf den Untersuchungstisch geworfen wurden, um hier die letzte Schmach zu erdulden, der ganzen Schwere ihres Irrtums inne wurden.

Übrigens waren diese Vorsichtsmaßregeln in den großen Städten wie Paris, Brüssel und Madrid überflüssig, wo man in den öffentlichen Häusern Mädchen von zwölf Jahren einsperrt, um sie dem ungeheuerlichen Gelüste der ausgewählten Kundschaft, welche sie besucht, zu überliefern.

Raphaelas erfinderischer Geist wußte stets Mittel, auch wirklichen Schwierigkeiten zu begegnen, und unterdessen lebte die entsetzliche Bande in Saus und Braus und ergab sich den ärgsten Ausschweifungen in den üppigsten Stadtteilen, die zu finden waren. Champagner, Gin, Whisky, Branntwein und Pale ale mit ihren schweren Dünsten erstickten die Gewissensbisse dieser beladenen Gewissen und Streitigkeiten zwischen Belgiern und Franzosen auf der einen, Preußen und andern Deutschen auf der andern Seite, röteten täglich das Pflaster dieses freiwillig errichteten Ghettos.

Man riß sich förmlich um den Besitz dieser Hölle, welche man in London das französische Quartier nennt; Haufen von Händelstiftern, Spitzbuben, fremden Dirnen, begleitet von ihren ebenfalls öffentlichen Liebhabern, entflohenen Bankerottierern, der Auslieferung sich entziehenden Verbrechern, Arbeitern vom Kontinent, häßlich, schmutzig und stets betrunken, Schmarotzern jeder Art, Farbe und Nation trieben da ihr Wesen. Alle Laster, alle Schändlichkeiten sind da vereint, und wenn der ganze Stadtteil in Flammen aufginge, würde die Menschheit nichts dabei verlieren.


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