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Siebenundzwanzigstes Kapitel

Es mochte Mittag sein, als sich Clarissa zum zweiten Male in diesem eleganten Kerker der schändlichsten Behandlung preisgegeben und der grausamsten Angst und Ungewißheit überliefert sah.

»O, warum bin ich nicht gestorben, wie Nana« sagte sie hundertmal zu sich selbst, »ich fange an zu glauben, daß ich niemals der teuflischen Gewalt meiner unerbittlichen Feinde entrinnen werde. Ich weiß, was sie wollen; aber ich werde niemals vergessen, was ich meiner Familie und meinem William schuldig bin, eher sterbe ich.«

Während sie diesen traurigen Gedanken nachhing, öffnete sich die Thür, und in derselben erschien Pandarus, begleitet von der Bonne und einem Fremden, der etwa 40 Jahre alt sein mochte.

»Es ist gut,« sagte der Fremde zu Pandarus. »Das Mädchen ist wunderschön und ich bitte, sie mir für heute Abend zu bewahren. Ich werde kommen so bald ich kann.« Mit einem Gruß entfernte sich Dollon und ließ Pandarus in dem Entzücken darüber zurück, daß es ihm gelungen war, einen so reichen und verwöhnten Kunden zu befriedigen.

»Und jetzt, mein Schätzchen«, sagte er zu Clarissa, durch Vermittlung der englischen Bonne, »jetzt heißt es den Wünschen dieses Herrn, welcher heute Abend wiederkommen wird, sich fügsam zeigen oder – man wird wieder damit Bekanntschaft machen.« Bei diesen Worten zog er seinen blutbefleckten Ochsenziemer hervor.

Clarissa zitterte an allen Gliedern, als sie das schreckliche Werkzeug ihrer Züchtigung erblickte.

»Übrigens«, fügte Pandarus in überredendem Ton hinzu, »wenn sie diesem Herrn Widerstand leisten sollten, so betäuben wir Sie mit Chloroform und ich gebe Sie in bewußtlosem Zustande allen meinen Freunden preis. Darauf kommt es mir nicht an. Oder man mischt Ihnen etwas Gift unter das Essen. Aber Mimi wird Ihnen noch besser als ich auseinandersetzen können, welche wirksamen Mittel wir anwenden, um kleine Närrinnen wie Sie zur Vernunft zu bringen.«

Als die beiden Frauen allein waren, zählte Mimi in der That der Gefangenen die verschiedenen Weisen auf, längeren Widerstand zu brechen.

»Miß Morton, Sie haben ja schon letzthin in Folge eines berauschenden Getränkes ein amtliches Aktenstück mit einem falschen Namen unterzeichnet. Erinnern Sie sich noch, daß ich Ihnen ein Glas mit Wein auf der Thürschwelle reichte, ehe wir zur Polizei fuhren?«

»Elende«, stieß Clarissa hervor, sich drohend erhebend, aber ihre Kräfte verließen sie und sie fiel matt auf den Divan zurück. Die ganze scheußliche Scene jenes Morgens tauchte vor ihrem Geiste wieder auf, und sie begriff nun, was ihr damals unverständlich geblieben war.

»Es nützt nichts, mir zu drohen«, entgegnete Mimi, »ich muß auch thun, was man mir befiehlt. Ich bin wie Sie betrogen und verkauft worden. Ich war auch einst jung und unschuldig und schön, und auch Sie werden Ihrem Schicksal nicht entgehen. Selbst wenn sie durch einen glücklichen Zufall diesem Hause entrinnen sollten, würden die Gerichte hier Sie wegen Begehung einer Namensfälschung zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilen. Sie sind eine Fälscherin, Clarissa, vergessen Sie das nicht, und geben Sie lieber heute Abend nach. Es handelt sich für Pandarus um 20 000 Franks, und vielleicht wird man Sie nachher abreisen lassen.«

Mit diesen Worten öffnete Mimi die Thür, um das Zimmer zu verlassen, aber Clarissa, welcher die Erbitterung über die rücksichtslosen Enthüllungen der Elenden, ihre alte Kraft zurückgegeben hatte, hing sich mit dem Mute der Verzweiflung an die halboffene Thür und schrie um Hilfe. Aber diesmal waren alle Vorsichtsmaßregeln getroffen. Ein kräftig gebauter Bursche, der auf der Schwelle erschien, streckte durch einen kräftigen Stoß die Unglückliche auf den gepolsterten Boden ihres Gefängnisses nieder, und verschloß sorgfältig die Thür.

Clarissa sah ein, daß alles verloren war; geschah nicht ein Wunder, so mußte ihre Ehre unterliegen. Sie war wie die weiße Taube in den furchtbaren Krallen des gierigen Geiers.

Sie betete lange und inbrünstig und erflehte von Gott den Tod als eine unaussprechliche Gnade. Obschon von der Reise und vom Hunger erschöpft, berührte sie die ihr gebrachten Speisen nicht, da sie überzeugt war, daß die Bösewichte, in deren Gewalt sie sich befand, selbst vor den äußersten Schritten nicht zurückschrecken würden.

Die Bonne öffnete noch einmal die Thür, und dieselbe weit offen lassend, damit Clarissa den jungen Menschen, der sie niedergeworfen hatte im Vorzimmer stehen sehen konnte, sagte sie, auf die unberührten Speisen deutend: »Seien Sie doch vernünftig und essen Sie. Wenn sie sich so geberden, kann ihr Schicksal noch schlimmer werden, als ich Ihnen sagte. Sie gehören uns, ob tot oder lebendig«, fügte sie hinzu, als Clarissa unbeweglich in tiefem Gebete auf den Knieen liegen blieb, ihre bleichen Wangen von Thränen überströmt.

Ihre moralische Qual war furchtbar. Sie war mit ihrer Kraft zu Ende und hoffte auf keine Rettung mehr. Sie war nicht durch das Laster besiegt; aber sie fühlte, daß sie zusammenbrach. Wie in den letzten Augenblicken eines Sterbenden sein ganzes Leben an ihm vorüberzieht, so zog an Clarissa ihre ganze Vergangenheit vorüber, und sie frug sich in der Beichte, die sie sich selbst ablegte, immer wieder vergeblich, welche Schuld sie durch so viele Leiden abzubüßen hätte. Die Ratschlüsse der Vorsehung waren ihr unerforschlich.

Sechs lange qualvolle Stunden brachte sie in diesem Zustande zu, während welchen sie Abschied nahm von allen ihren Lieben, ihrer Mutter, ihrem geliebten William, ihren Geschwistern, ihrem eignen Leben, das für sie verloren war. Sie fühlte nicht mehr das Entsetzliche ihrer Lage. Dem Wahnsinn der Verzweiflung war eine Art Gleichgültigkeit gefolgt, eine völlige Leere in ihrem Geiste und in ihrem Herzen. Die starke jugendliche Kraft war endlich gebrochen, die Beute war bereit, der elende Sieger konnte kommen.

Da drehte sich die Thür wieder in ihren Angeln. Clarissa erhob sich und starrte in das Antlitz des Mannes, den sie am Nachmittag schon gesehen hatte. Sie hielt sich für verloren – und war gerettet.


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